Eine Gruselgeschichte

 

....Bernd fuhr seit einer Ewigkeit durch diesen grünen Tunnel. So jedenfalls erschien ihm die einsame Straße durch den Endlosigkeit gaukelnden Wald. Langsam wurde es dunkel und die feuchte Luft begann durch seine Lederjacke zu kriechen. Doch es war noch immer recht warm für einen Herbstabend und eine Freude die schwere Maschine durch die häufigen aber harmlosen Kurven zu schwenken. Das Vorderrad legte sich fast von selbst in die richtige Position und die Haftung schien grenzenlos gut. Ach, es war eine gute Idee gewesen, sich auf das Motorrad zu setzen und den Ärger mit Karin und dem ganzen Rest der Welt hinter sich zu lassen. Zwar hatte er in seinem hastigen Aufbruch vergessen, das Kartenwerk einzustecken, aber deswegen machte er sich noch keine Sorgen. Er würde schon ein Quartier für die Nacht finden.

'Nur noch ein Stündchen', dachte er bei sich, 'dann krieche ich in ein warmes Bett in einer netten kleinen Pension auf dem Lande'.

Es wurde langsam dunkler, doch der Scheinwerfer bohrte beruhigend seinen weißgelben Kegel in die zunehmende Dämmerung und vertrieb alle Zweifel über den Verlauf der Straße, deren Qualität allerdings schlagartig abgenommen hatte.

'Wahrscheinlich ein anderer Landkreis'. Bernd kannte das von seinen vielen früheren Touren. Direkt an mancher Landkreisgrenze begannen viele Straßen den finanziellen Zustand der Kommune widerzuspiegeln. Er packte den Lenker fester und konzentrierte sich auf die Straße, deren Windungen jetzt immer unberechenbarer wurden. Zudem kondensierte die Luftfeuchtigkeit in bleichen Nebelfetzen, die ihm - plötzlich im Scheinwerferlicht auftauchend - für Momente jegliche Sicht nahmen. Er fuhr langsamer, die Vibrationen durch die ausgebesserten Stellen rüttelten seine Arme weich. Wo war er überhaupt? Er ärgerte sich. Er hätte doch auf die Wegweiser am Straßenrand achten sollen. Der Nebel trat jetzt häufiger in kleinen Bänken auf, die sich geradezu aus den Bäumen auf ihn herabzustürzen schienen. Zwanzig Meter Dunst, und wenn er gerade auf die Bremse getreten hatte, war er auch schon wieder heraus. Er wurde wieder langsamer. Bei Gott, wenn er in diesem Tempo weiterfuhr, dann kam er heute nirgendwo mehr an. Als er so auf seinen Tachometer blickte fiel ihm auch zufällig der Tageskilometerzähler ins Auge. Er erschrak, blickte auf den Benzinhahn. Er konnte sich gar nicht erinnern, auf Reserve geschaltet zu haben. Jedenfalls musste der Sprit schon bedrohlich knapp sein. Der Gedanke, in dieser unheimlichen Gegend am Straßenrand auf Hilfe zu warten, behagte ihm gar nicht. Inzwischen war es auch richtig dunkel geworden, und schon lange kein Auto mehr entgegen gekommen. Flüchtig kam ihm ein Bild von einer 50km langen Sackgasse in den Kopf, und er wog ab, ob er umdrehen sollte. Aber auf den letzten zwanzig Kilometern hatte es garantiert keine Möglichkeit zum Tanken gegeben, und vielleicht war ja hinter der nächsten im Nebel liegenden Kurve ein Dorf. Er fuhr weiter. Der Straßenbelag nahm die Feuchtigkeit in einem schimmernden Film auf und verstärkte seine Fahrunsicherheit noch. Auf diesen nassen Bitumenflecken konnte man ganz schnell ins Rutschen kommen. Die Straße war zudem nach oben gewölbt und in den Kurven natürlich abschüssig nach außen. Unter seinem Helm brach Bernd der kalte Schweiß aus. Er achtete nur noch auf die paar Meter Asphalt vor ihm, die klar erkennbar waren. Hups, beinahe wäre es so weit gewesen. Dicht am äußeren Rand eierte er um die Haarnadellinkskurve herum. So erleichtert war er, als er es geschafft, hatte, dass er einen kurzen Blick in den Rückspiegel warf und zusammenzuckte. Hinter ihm richteten sich gerade eine Menge einzelner Scheinwerfer aus der Schräglage auf, und einige Augenblicke später waren sie überall um ihn herum. Wie der Überfall eines Hornissenschwarms. Schwarz gekleidete Gesellen, mit zerschlissenen Lederjacken umringten ihn auf der schmalen Straße. Sie fuhren auf ihren röhrenden Choppern vor, neben und hinter ihm, hielten ihn in ihrer Mitte, wie ein Rudel Wölfe die Beute. Die Maschinen schienen ausnahmslos in ziemlich desolatem Zustand zu sein. Bernd erkannte hier und da verbeulte Tanks und große Rostflecken auf dem Lack. Die Gesichter der Fahrer konnte man hinter den Brillen und vorgebundenen Halstüchern nicht erkennen, auch drehte sich niemand in Bernds Richtung, der selbst zu beschäftigt mit der Straße und seiner aufkeimenden Panik war, um längeren Blickkontakt aufzunehmen. Er wollte bremsen, aber die Kerle hinter ihm machten keinen Platz.

'Was haben die mit mir vor?' fragte er sich bang. 'Wollen die sich umbringen und mich mit?'

Es ging weiter - viel zu schnell für seinen Geschmack - aber er musste wohl oder übel mithalten. Der Präsi setzte sich direkt vor ihn, und Bernd sah seine Kutte im Fahrtwind flattern, konnte aber den Clubnamen nicht entziffern. Noch immer sah ihn niemand an, obwohl er sich inzwischen mehrmals fragend umgeschaut hatte. Er war ein Stück erleichtert, als er unter den schwarzen Gestalten ein paar weibliche Figuren zu erkennen glaubte. Wenn sie Frauen dabei hatten, waren sie hoffentlich nicht gewalttätig. Er war sich nicht ganz sicher. Man hatte ja schon so manche Geschichte von den 'Hells Angels' gehört, obwohl sich Bernd darüber im Klaren war, dass der Großteil der Chopperfahrer besser war als ihr Ruf. Schreien oder Hupen war in dem infernalischen Getöse der offenen Auspuffanlagen sowieso zwecklos. So entschied er sich, einfach dem Präsi hinterher zu fahren, bis der sich irgendwie zu erkennen gab.

Es ging in halsbrecherischem Tempo in eine Folge von Spitzkehren und Bernd fragte sich wie zum Teufel der Präsi in dieser Suppe erkennen konnte, wann er zu bremsen hatte. Denn, daß er es erkannte, stand außer Zweifel. Zuerst flammten die Bremslichter an der Maschine vor ihm auf, dann - Sekundenbruchteile versetzt - die der anderen Maschinen und man tat gut daran, genau so schnell zu reagieren. Bernd staunte, wie gut dieser Trupp eingespielt war. Sie beherrschten ihre großvolumigen Bikes ohne Ausnahme virtuos. Wieder eine Spitzkehre. Mit einer Schräglage im Grenzbereich donnerte der ganze Pulk flüssig um die Gefahrenstelle herum. Einige elegante Positionswechsel vor einem herausragenden Gullideckel. Er war schwer beeindruckt und gab sein Bestes um nicht schlecht aufzufallen. Wenn die Umstände auch unheimlich waren, so konnte er hier doch noch etwas lernen. Die diesige Dunkelheit raste links und rechts vorbei, aus den Augenwinkel erahnte man die tödliche Schwärze des Hochgebirgswaldes, doch Bernd fühlte sich nun völlig sicher hinter dem Rücken des Präsis.

'Die kommen bestimmt hier aus der Gegend', dachte er hoffnungsvoll, 'und fahren jetzt nach Hause.' Am Straßenrand erschien eine große Warntafel:

Achtung Motorradfahrer!

Erhöhte Unfallgefahr!

Darunter eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Motorräder auf 50 km/h. Den Präsi schien das nicht zu stören, mit 90 Sachen blubberte er in die mörderische Folge von abschüssigen Kurven hinein. Bernd wurde es mulmig, die Selbstmordtheorie erschien wieder vor seinem geistigen Auge, doch gerade als er ohne Rücksicht bremsen wollte, um dieser wahnsinnigen Gruppe zu entkommen, bremste auch schon der Präsi auf 30 runter. Bernd gab sich Mühe zu reagieren, und wunderte sich. War die Straße doch gerade wieder extrem gut belegt und schien die Gefahrenzone überwunden. Doch dann sah er den Grund für diese Aktion. Aus dem Nebel tauchte eine rechtwinklige Kurve ohne Leitplanke auf, die übergangslos in eine in der Tiefe nur zu erahnende Schlucht führte. Die Scheinwerfer leuchteten kurz die senkrechte, gegenüberliegende Felswand an.

'Meine Güte, was für eine Falle!', Bernd war ziemlich geschockt. Alleine hätte er sicherlich jetzt da unten gelegen. Er schluckte schwer, klappte sein Visier hoch und atmete laut aus.

"Puuuuhhhh!"

Doch der Präsi zog schon wieder an und die ganze Truppe einschließlich Bernd hielt mit. Obwohl es noch immer dunkel war, schien doch der Nebel nachzulassen. Außerdem lichtete sich langsam der Wald. Berd schaute auf den Kilometerzähler. Vielleicht würde er gleich liegenbleiben. Er wartete schon auf das plötzliche Motorbremsen, mit dem im allgemeinen der Benzinmangel kundgetan wurde, da sah er am Fuße einer kilometerlangen Abfahrt, hinter dem sich lichtenden Nebel, die Lichter und Straßenlaternen eines Dorfes auftauchen. Na bis dort würde er auf jeden Fall kommen, auch wenn er einfach nur rollte. Rechts zweigte ein schmaler Weg ab. Der Präsi hob eine schwarzbehandschuhte Hand, ballte die Faust, und bevor Bernd sich versah war er aus der Mitte der Gruppe heraus und fuhr alleine auf der breiten Straße. Der Rest der Gang war geschlossen bei voller Fahrt in den Seitenweg abgebogen. Die Rücklichter verschwanden wie am Fließband um die nächste Biegung. In diesem Moment ging sein Motor aus. Er zog schnell die Kupplung und nun war es auf einmal völlig still. Das war merkwürdig, denn der Lärm der mindestens fünfzehn Chopper hätte noch lange zu hören sein müssen. Vielleicht gab es dort einen Campingplatz, dachte er sich. Er würde danach fragen, und vielleicht konnte er sich morgen bei dem ominösen Präsi für das sichere Geleit bedanken.

So rollte er, nur vom Kettengeräusch begleitet, die Hauptstraße hinunter direkt bis auf den Hof des Gasthauses und Pension 'Schlegelbacher'. Er bockte die Maschine auf und betrat mit dem Tankrucksack unter dem Arm die Schankstube.

"N'abend"

"N'abend"

"Haben Sie noch ein Zimmer frei? Am besten mit Bad, ich bin ganz schön durchgefroren."

"Freilich. Zimmer Vier. Da hinauf"

"Sagen Sie mal, die Strecke hierher ist ja gar nicht ohne."

"Ja, es hat schon ein paar Kurven", grinste der Wirt, "und dann bei dem Wetter."

"Sie sagen es. Wenn da nicht dieser Motorradclub gewesen wäre, dann stünde ich nicht hier."

"Motorradclub?", der Wirt wurde ernst.

"Ja, so ungefähr 15 bis 20 Maschinen, die haben mich durch die schwierigste Stelle geleitet. Die kannten die Strecke wie ihre Westentasche."

Der Wirt wurde bleich.

"Sicher, sicher." murmelte er und beugte sich tief über das Gästebuch. Bernd sah, dass seine Hand beim Schreiben zu zittern begonnen hatte.

"Die sind aber alle vor dem Ort auf den Campingplatz abgebogen" versuchte er ihn zu beruhigen.

"Campingplatz. Aha. Hier. Ihr Schlüssel."

"Danke."

Bernd wandte sich zur Treppe.

"Ach.. ähh..", der Wirt zögerte, "befand sich auch jemand mit einer auffälligen ... naja... Kutte heißt das wohl, darunter?"

"Ja, da war einer. Er führte die Gruppe an, aber wie er aussah kann ich ihnen nicht sagen, es war einfach schon zu dunkel."

"Wissen Sie", begann der Wirt, "vor ungefähr sechs Jahren ist hier mal eine ganze Anzahl von Mitgliedern des örtlichen Motorradclubs verunglückt. Auf der gleichen Strecke, die sie heute gekommen sind. Es ist nur... ich erinnere mich wohl deswegen daran, weil heute ein ganz ähnliches Wetter ist. Jedenfalls sind siebzehn Menschen mitsamt ihren Maschinen in die enge Klamm kurz vor dem Dorf gestürzt. Einer davon war mein Sohn. Er war der Präsident des Clubs. Wir mussten leider auf die Bergung verzichten, weil es viel zu eng ist da unten. Man findet heute noch ab und zu rostige Bruchstücke der Maschinen."

"Das ist ja schrecklich."

"Und was ich ihnen noch sagen wollte; Die Straße vor dem Ort führt nicht zu einem Campingplatz sondern...", Er schluckte, "... auf den Friedhof."

Nun war die Reihe an Bernd, bleich zu werden.