Immer öfter steckte sich die Mutter mit zittrigen Händen eine Zigarette an, nachdem sie von ihrer Tochter als Schlampe beschimpft und wie eine Dienstmagd behandelt worden war. Und Mama schrie nicht mehr so oft zurück wie früher. Dafür bekam sie diese roten Flecken im Gesicht und an den Händen und ihre Augen wurden ganz starr und leblos, den Blick hinaus auf den grauen Innenhof der Mietskaserne gerichtet. Er hatte einmal versucht ihre Hand zu nehmen in einem solchen Moment, wollte seine kleinen, weichen Finger auf ihre legen und war erschrocken, mit welcher Intensität sie sich daraus befreit hatte. Als wäre eine fette Spinne über ihre Hand gekrochen, so hatte sie ihn angesehen, bevor sie wieder an der Zigarette zog und weiter in die Dämmerung starrte.
Das war auch die Zeit gewesen in der Papa immer weniger Interesse an seinen Kindern zeigte. Manchmal, so bestimmte die Mutter, musste er ihn mitnehmen und dann gingen sie am Spielplatz vorbei in die nahe gelegene Kneipe. Dort durfte er sich an den Glücksspielautomaten setzen, der den Jungen mit den bunten Lichtern, der peppigen Musik und dem flimmernden Bildschirm über geraume Zeit in seinen Bann zog. Münze gab es natürlich keine, aber die Stammgäste waren sich rasch einig, das er eines Tages den Jackpot würde knacken können.
Weihnachten, das war der Fernseher. Da hatte die Plastikfichte mit dem bisschen Silberlametta und den paar Glaskugeln keine Chance. Die wenigen Klebebilder waren lieblos an die Fenster geheftet, der Adventkalender aus der Beilage eine Tageszeitung ausgeschnitten, selten dass sich jemand fand die Türchen zu öffnen. Weihnachten, das waren die Tanzshows und die Spielfilme. Wie kaum etwas anderes ließ das Unterhaltungsprogramm seine Familie sich um den Couchtisch versammeln, gemeinsam essen, gemeinsam fernsehen. Er mochte diesen Abend sehr, kuschelte sich in eine Ecke des Sofas und ging ganz auf in der beglückenden Flimmerwelt von siebzig Zentimeter Durchmesser. Es gab vieles, dass er an einem solchen Film nicht verstand, aber er lachte wenn seine Mutter lachte und schlug sich voll Ärger auf die Schenkel, wenn sein Vater das tat. Diese Reaktionen erfüllten ihn mit stolz, ließen ein Gefühl der Verbundenheit in ihm wachsen. Noch Tage danach erzählte er seinen Eltern von dieser oder jener Szene, auch wenn dann niemand mehr Interesse daran zeigte.
Es war eine solche Weihnachtsnacht gewesen in der er entdeckte, dass sich dieses Glück mitnehmen ließ, einpacken wie ein kleines Geschenk und verstecken ließ, wie ein wertvoller Schatz den es zu horten und beschützen galt. Der vierundzwanzigste Dezember ging rasch vorbei und noch bevor dieses Gefühl von „Mama, Papa und ich“ wirklich jede Ritze der verbrauchten Wohnung durchfluten konnte, war es schon Zeit ins Bett zu gehen, die Lichter zu löschen, die Familie wieder in kleine, scharfkantige Stücke zu brechen.
Er aber schlief nicht. Er drehte sich auf den Rücken und begann die lichtlose Zimmerdecke als Leinwand für den Film zu nutzen, den sein Gedächtnis an jenem Abend gedreht hatte. Und er hielt sich an die Vorlage. Zumindest zu Beginn. Denn bald schon kam die Erkenntnis, dass der Hunger nach Aufmerksamkeit und Geborgenheit noch weit stärker gestillt wurde wenn man sein eigener Regisseur war, Szenen erfand und durchlebte, die das wirkliche Leben so niemals würde bieten können. Und was zu Anfang nur einen Weihnachtsabend betroffen hatte, das weitete sich aus. Nachts erfand er seinen Tag neu, manchmal so perfekt, dass es schwierig wurde zu unterscheiden, was nun Realität war und was nicht. Es kam vor, dass er voll Begeisterung von Begebenheiten erzählte an die niemand sich erinnern konnte, außer ihm.
Es erschien ihm seltsam und ein wenig schämte er sich dafür, doch seine feine, kindliche Stimme ließ sich eines Tages nicht mehr unterdrücken. Was er den Tag über nicht zu sagen wagte, das entlud sich in der Nacht, eingewoben in ein Netz aus Erdachtem, das ihn manchmal über Stunden gefangen hielt. So kam es, dass aus seinem kleinen Zimmer immer noch ein geheimnisvolles Flüstern drang, während der Rest der Familie längst schlief. Sein „ich“ begann dabei die Stimme an andere Personen zu verleihen, Menschen die er aus dem Fernsehen kannte sprachen durch ihn und mit ihm, oft borgte er sich auch Gesichter aus der Wirklichkeit aus, Freunde der Familie oder Bekannte fanden Platz in seinen Fantasien.
An die Frau im Elternschlafzimmer verschwendete er hingegen keinen Gedanken mehr. Diese Frau hatte ihm alles von sich gegeben was in ihrer Macht stand, ein Gesicht, einen Körper, eine schliche Hülle, die er mit Gefühlen, Wesenszügen und Fähigkeiten soweit aufgefüllt hatte bis daraus eine Mutter entstanden war. Seine Mutter.
Nach einem harten Tag drehte er sich auf die Seite, zog die Decke über den Kopf und genoss Mamas flüsternde Stimme aus seinem Mund, wie sie ihn zärtlich noch ein Stück des Weges begleitete, bis der Schlaf ihn fortholte.
--
Ich habe eine Wegbeschreibung, ein teures Navigationssystem und alle Informationen die ich brauche. Es wäre nicht nötig zu fragen, doch diese Kinder interessieren mich. Noch bevor ich Gas geben kann sehe ich mich schon zufahren, halte neben den drei kleinen Gestalten, die mich neugierig durch die getönte Scheibe zu erkennen versuchen. Sie sitzen im Schnee neben dem Gehsteig, wie junge Kaninchen, blicken wachsam und misstrauisch. Zwei Buben und ein kleines Mädchen. Der Älteste, er mag um die vierzehn Jahre alt sein, erhebt sich und kommt auf den Wagen zu.
Die Kinder hier sind anders als in meinem Land. Ihre Haut ist zumeist eine Nuance dunkler, Haar- und Augenfarbe in der Regel braun. Sie spielen im Dreck weil es hier nichts anderes für sie gibt. Sie tragen zerlumpte Kleidung weil niemand es sich leisten kann etwas neues zu kaufen.
Ganze Sattelitenstädte wurden aus dem Boden gestampft, in denen verarmte Menschen wie betäubt umherwandern, auf der Suche nach ein wenig Zukunft. Dennoch, die Vorboten aus dem goldenen Westen lassen sich schon ausmachen wenn man nur genau hinsieht. Während noch um den Beitritt gerungen wird, bin ich schon hier, lenke meinen BMW durch die trostlosen Strassen und erreiche mein Ziel still und heimlich.
Der Straßennahme.
„Wo? Weißt du wo das ist?“
Ich spreche diese Sprache kaum. Nur wenige Worte habe ich mir bislang zugelegt. Der Junge scheint amüsiert darüber.
„Ja, diese Strasse. Wo ist das?“
Auch die beiden anderen Kinder kommen, betrachten mich voll Neugierde, mit wachen Augen. Der ältere Junge beschreibt ausführlich den Weg, ich verstehe kein Wort. Aber das ist nicht wichtig, denn ich kenne mein Ziel längst. Ich wollte nur diese Kinder sehen, diesen Typus. Besonders das kleine Mädchen. Sie ist gerade groß genug um in den Wagen zu sehen, mit beiden Händen hält sie sich am Fensterrahmen fest und zieht sich etwas daran hoch. Kleine, rote Bäckchen und eine Stupsnase geben diesem Gesicht etwas puppenhaftes auch wenn es schmutzig ist. Ihr Haar steht in ungezählten Löckchen wirr vom Kopf ab, als ich sie ansehe beginnt sie verstohlen zu lächeln.
Wirklich hübsch dieses Kind.
---
Ostern, das war der Fernseher. Da hatten die paar bunten Eier aus dem Supermarkt keine Chance. Die Mutter stellte einige Gipsfigürchen auf das Fensterbrett, Osterhasen die fröhliche Muster auf Eier malten, andere die emsig Eier schleppten und einer der etwas abseits auf der faulen haut lag.
„Osterhasenwerkstatt“ nannte sich dieses Szenario laut Verpackung . Die kleinen Figuren waren nicht sehr gut bemalt, das blau der Hosen zog sich hoch bis zu den Jacken, einem der Hasen hatte man die Augen zu schräg aufgemalt. Er schielte. Trotzdem mochte er sie alle, beobachtete das rege Treiben und wäre gerne Teil davon geworden. Doch dazu waren sie zu neu, zu wertvoll. Die Mutter würde sich nicht alles kaputt machen lassen von den Kindern hieß es, auch sie wolle einmal etwas schönes haben, etwas, dass ihr Spaß mache. So blieben die fröhlichen Hasen unter sich während er seinen Platz auf der Couch einnahm und die Kinder im Fernsehen betrachtete, wie sie aufgeregt ihre Nestchen suchten. Darauf folgten die Cartoons, eine bunte Bilderwelt, lustig und schrill genug um die Zeit fort zu tragen, während im Park langsam der Frühling erwachte.
An diesem Wochenende brachte sein Vater Besuch mit, einen Mann dessen Lächeln er schon gesehen hatte, in der Kneipe. Den Namen kannte er nicht. Im Gefolge dieses Unbekannten schob sich eine untersetzte, etwas ungepflegt wirkende Frau durch die Türe und zwei Kinder, die rasch alles in Besitz nahmen was ihm gehörte. Weil auch er Kind war wurde ihm befohlen mit den Beiden zu spielen, selbst wenn es keine Gemeinsamkeiten gab. An diesem Nachmittag lernte er einige obszöne Ausdrücke und wurde nach den Brüsten seiner Schwestern und seiner Mutter ausgefragt.
Gegen Ende des Tages trat der Mann mit dem lächelnden Gesicht in sein Zimmer, meinte er solle doch Günther zu ihm sagen und lud ihn auf einen Gegenbesuch ein. Schnell war man sich einig, sein betrunkener Vater und dessen Freund. Er wollte das nicht.
Es war ein sonniger, milder Tag als Günther ihn abholen kam. Auf dem Weg zum Wagen erfuhr er, dass die beiden Söhne noch mit der ungepflegten Mutter unterwegs waren, also noch Zeit blieb.
Was zwei echte Männer wie sie nun anfangen könnten fragte Günther lächelnd.
Er wusste es nicht. Diese Frage war neu. Die Möglichkeit etwas zu entscheiden verwirrte ihn, weil er keine Übung darin besaß. Diese einfache Aufgabe ließ all die Wünsche in seinem Kopf zu einem hässlichen Knäuel verschmelzen, das er nicht mehr zu entwirren im Stande war. Zudem fürchtete er sich davor eine Bitte zu äußern die vielleicht dumm in den Augen dieses fremden Mannes sein würde. Etwas zu seinen Gunsten zu entscheiden, dass konnte er nicht. Das hatte er nie gelernt. So stand er unschlüssig da an diesem freundlichen Frühlingsmorgen, kämpfte mit sich selbst und starrte seinen Gastgeber nervös an, als hätte dieser etwas böses getan.
Knallrot, mit neongelben Streifen, so lag der Ball glänzend vor ihm im Gras. Wenn man ihn rollen ließ formte das Streifenmuster wunderschöne, beinah hypnotische Gebilde in rot und orange, doch er hatte Hemmungen danach zu treten. Viel lieber hätte er dieses Spielzeug mit heim genommen, in seinem Zimmer versteckt, es jeden Tag angesehen und sich an dem intensiven Kunststoffgeruch erfreut. Nur neue, makellose Dinge verströmten diesen besonderen Duft.
Spontan hatte Günther den Ball in einem Diskontladen gekauft und vorgeschlagen in den Park zu gehen. Jetzt stand er einige Meter vor ihm in der Wiese und wartete.
„Schieß“, rief er immer wieder. „Hier ist das Tor. Also los geht´s, zeig was du kannst!“ Günther klatschte in die Hände, ging etwas in die Hocke und wartete auf den Schuss.
Nicht annähernd traf er das Tor. Traurig rollte der Ball einige Meter durch das frische Gras und blieb weit abseits neben einem Baum liegen. Als der Mann im Laufschritt auf ihn zukam schämte er sich sehr und fühlte auch einen Anflug von Angst sein Inneres durchwandern, vielleicht für seine Unfähigkeit bestraft zu werden.
Günther legte den Ball wieder vor seine Füße.
„Nicht mit der Spitze“, sagte er, „es ist besser du schießt mit dem Risst. Sonst rutscht er dir weg.“ Er klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
„Also gleich noch mal.“
In dieser Nacht sprach er kein Wort mit sich selbst. Er dachte nach, über Günther, den Ball und wie gut er schon hatte Tore schießen können am Ende des Tages. Es fiel ihm schwer zu verstehen, dass es keinen Unterschied gab zwischen diesem Tag im Park und dem was er sich selbst erleben lassen konnte in der Nacht. Vielleicht war auch das der Grund weshalb er keine Lust verspürte in seine fantastische Welt einzutauchen sondern nur entspannt auf dem Rücken lag und sein Zimmer als ruhigen, dunklen Raum wahrnahm. Ein neues Gefühl wuchs in ihm heran, das seinen Körper warm durchströmte und all die geheimen Fantasiegebilde in die Vergangenheit fortschwemmte. Er fühlte sich gewollt. Teil von etwas zu sein, für dieses Geschenk liebte er Günther, der mehr Zeit mit ihm verbracht hatte als mit seinen eigenen Kindern. Das machte ihn stolz. Die beiden Brüder hatte er nicht zu Gesicht bekommen. Und das wollte er auch nicht mehr.
Er begann zu warten auf das nächste Treffen, wenn Günther wieder im Tor stand, der Ball wieder in der Sonne glänzte und er zeigen konnte was er gelernt hatte. Günther strich ihm dann zärtlich über Kopf oder Rücken, gab ihm Ratschläge und lobte ihn. Wieder und wieder.
Berührt zu werden war neu für ihn, manchmal sogar ein wenig seltsam, wenn die große Männerhand zu lange auf seinem Rücken ruhte oder an seiner Kleidung zupfte, aber nicht schlimm. Das war eben Günther, das gehörte dazu. Durch ihn begann er wieder sichtbar zu werden für die Welt.
---
Seit über einer Stunde sitze ich nun schon hier und bringe es nicht über mich auszusteigen. Es ist kalt geworden im Inneren des Wagens, die Scheiben beschlagen. Ich muss den weißen Schleier immer wieder fortwischen um die schwere Eingangstüre sehen zu können. An einer Stelle ist das dicke Sicherheitsglas gesprungen, als hätte jemand dagegen getreten. Diverse Schmiererein leuchten von den Wänden, das Wort „Fuck“ kann ich an verschiedenen Stellen entziffern. Zumindest sprachliche Gemeinsamkeiten gibt es im neuen, vereinten Europa schon.
Links und rechts flankieren schwarze Müllcontainer den Eingang aus denen der Dreck auf den Boden quillt. Aus einem der Behälter steigt dicker, weißer Dampf auf.
Läute bei Nummer fünfundzwanzig.
Es tut weh. Sich zu entwickeln schmerzt. Man muss Opfer bringen,. Auch für die Freundschaft. Tut man nichts wird sie brüchig verdünnt sich langsam mit Einsamkeit, bis der Geschmack nur noch bitter ist. Dann nimmt ein Anderer deinen Platz, deinen Stolz.
Diese Weisheiten haben mich über Jahre geleitet, bis zu diesem Tor geführt. Der Gestank von gärendem Müll ist kaum zu ertragen. Die mit Eis verkrusteten Strassen sind menschenleer, langsam verendet die Sonne hinter den trostlosen Bauten. Mit der Dämmerung kommt die Kälte.
Günther lächelt immer noch. Er allein hat den Schlüssel zu der Türe, seine verkommene Frau und die beiden Jungs haben hier nichts zu suchen. Es ist sein Hobbykeller.
„Das ist nur etwas für wirklich gute Freunde“, höre ich ihn sagen während das Schloss aufspringt.
Läute bei Nummer fünfundzwanzig.
Da steht ein Camcorder auf einem Stativ in der Mitte des Raumes.
Freundschaft ist schon wichtig. Besonders wenn man keine Freunde hat.
Ein altes, braunes Ledersofa, ein Fernseher und ein DVD Player.
„Bin mal gespannt ob dir so was gefällt“, sagt Günther während er den Player ansteckt. „Mal was neues“, meint er fröhlich und klatscht in die Hände, beinah so als würde er wieder im Tor stehen. Dann setzt er sich neben den Jungen, der noch nie im Kino gewesen ist.
Die Türe zu Günthers Hobbyraum schließt sich. Der Park bleibt leer an diesem Tag, obwohl die Sonne scheint.
Es wird weh tun sich zu beweisen.
„Kommen sie, kommen sie.“
Dieser Mann ist sehr höflich. Nicht unterwürfig oder unehrlich. Vielmehr väterlich. Das irritiert, weil ich für einen Moment meine Angst verliere. Sie aber ist mein Freund. Einen anderen will ich nicht an diesem Ort.
Er begleitet mich durch das dreckige Stiegenhaus, bewegt sich schwerfällig in seinen alten Hausschuhen und dem fleckigen Trainingsanzug auf Apartment fünfundzwanzig zu. Ich glaube, er hinkt ein wenig.
„Es ist uns eine große Freude. Wir dachten schon sie würden nicht mehr kommen.“
Er lässt mir den Vortritt.
Ein viel zu großer Tisch dominiert das Wohnzimmer um den sich sechs abgenutzte Stühle sammeln. Eine grüne, grob gemusterte Tapete im Stil der siebziger Jahre lässt den Raum unruhig und altmodisch wirken. Der Fernseher mit Zimmerantenne nimmt den kleinen Wandverbau neben dem Fenster ein.
Ich muss mit ihm trinken. Das ist so Sitte erklärt man mir. Ob ich Hunger habe? Nein, vielen Dank. Auch den Mantel möchte ich anbehalten.
„Dana!“
Direkt, laut, hart. In dieser Stimme ist kein Platz für Geduld. Solche Stimmen lieben nur sich selbst, dulden keine andere neben sich. Da ist nichts väterliches in dieser Stimme. Er kann sich nur gut verstellen. Alles in Ordnung.
Dana bringt eine Flasche Schnaps und zwei kleine Gläser. Sie wagt es nicht mich anzusehen.
„Meine Frau.“ Er lächelt und schenkt ein.
„Auf uns“, sagt er und hebt das Glas.
„Auf uns“, sage ich und sehe Dana mich hassen. Selbst das geschieht lautlos.
Woher er so gut Deutsch kann möchte ich wissen. Er fühlt sich sichtbar geschmeichelt, bedankt sich. Ich solle es doch als Kundenservice auffassen meint er. Viele Leute sprechen hier Deutsch. Weil es viele Kunden gibt, viele wie mich. Eine Welle der Übelkeit steigt in mir hoch. Ich vertrage diesen scharfen Schnaps nicht. Ich trinke normalerweise nichts, es sei denn zu besonderen Anlässen.
Jemand klopft. Gehorsam öffnet Dana die Türe, ein kleines Mädchen und ein junger Mann treten sein. Ihre Gesichter sind noch rot von der Kälte draußen.
„Das ist mein Bruder“, sagt der Gastgeber und klopft dem grinsenden Mann kräftig auf die Schulter, bevor sich die beiden herzlich umarmen. Ich schätze den Bruder um die Zwanzig, er trägt einen drei Tages Bart und zu viel Gel im Haar. Die Beiden wechseln ein paar flüchtige Worte in ihrer Sprache, dann setzt sich der Besucher breitbeinig zu uns, zündet sich eine Zigarette an. Mit Erleichterung erfahre ich, dass er nicht deutsch spricht. So muss ich mich nicht mit ihm beschäftigen.
Janina kommt.
Wie hat man sich eine Mutter vorzustellen die ihre Tochter verkauft?
Teuflisch? Abartig? Eiskalt?
Still steht Dana in einer Ecke. Das Leben hat ihren zierlichen Körper ausgesaugt. Von ihrem Potential ist nichts geblieben. Nur das Spiel ihrer Finger verrät sie. Sie beißt an den Nägeln, versteckt das Bisschen Gefühl zwischen ihren Händen, die nicht von ihrem Gesicht weichen. Ihre Augen verfolgen die Szene gierig, aber sie ist nicht im Stande mich anzusehen.
Ich bemühe mich das Böse in der zierlichen Frauengestalt zu erkennen, das Verachtungswürdige. Es ist nicht so wie ich es mir vorgestellt habe. Ich sehe Dana zittern. Und ich glaube, sie sieht mich auch.
Ihre Kleine hat sie nicht in den Arm genommen. Man kann nicht lernen auf wiedersehen zu sagen. Kinder sind Kapital. Mütter sind Fabriken.
Die freie Marktwirtschaft funktioniert. Daran sollte sich die Welt endlich gewöhnen.
Janina ist etwas schüchtern. Mein Gastgeber holt sie zu sich, stellt sie neben mich.
„Ich bin stolz auf diese Tochter“, sagt er. „Habe ich ihnen zu viel versprochen?“
Janina lächelt verstohlen. All die Aufmerksamkeit ist sie nicht gewohnt.
„Dreh dich Janina, dreh dich.“
„Ein wirklich hübsches Kind“, bestätige ich.
Der Bruder meines Gastgebers zieht das Mädchen plötzlich an sich. und drückt eine Hand auf ihre Brust während er mit der anderen die Zigarette hält. Seine Worte verstehe ich nicht.
„Acht Jahre und bekommt schon Titten. Finden sie sonst nirgends“, bemerkt mein Gastgeber beiläufig.
Der Onkel kitzelt das Mädchen unter den Achseln bis es kichert. Ein Spiel. Beide lachen. Alles bewegt sich heute nur um sie. Wie eine kleine Prinzessin muss sie sich fühlen, dreht sich vor dem Publikum wie eine Ballerina, verneigt sich kichernd.
„Möchten sie, dass sie ihren Pullover auszieht?“
Ich sehe Günther grinsen.
„Nur hübsche Kinder kommen ins Fernsehen“, flüstert er mir zu.
Ich habe es nicht vergessen. Janina der Filmstar. Das hättest du wohl gerne. Und doch schulde ich Günther eine Menge. Ohne ihn wäre ich nicht hier. Natürlich hat er mir erzählt warum es keinen Sinn macht Mama und Papa etwas zu sagen. Was mein Papa ihm nach dem x-ten Bier gesagt hat, das habe auch ich zu hören bekommen.
„Es ist ganz einfach“, hat Günther gemeint. „Du gehörst nicht dazu weil du nicht dazu gehörst.“
Das verstehe ich nicht.
„Pflegefamilie.“ Er spricht dieses Wort mit bewundernswerter Beiläufigkeit aus. So als würde er „Hausaufgaben“ oder „Mittagessen“ sagen.
„Deine leiblichen Eltern wollten dich nicht. Also haben sie dich weggegeben. So einfach ist das.“
Dann war da noch etwas mit der Polizei, dem Jugendamt, der Fürsorge. Babys sind klein, man kann sie gut herum reichen.
Günther hat wohl gesehen wie ich stocksteif in der Mitte des Zimmers stehe. Ich fühle mich nicht so gut. Mir ist schwindelig.
„Mach dir nichts draus“, sagt er leise und nimmt mich in den Arm. „Ich bin da für dich.“
Dann knöpft er seine Hose zu.
„Ich mach dir einen heißen Kakao.“
Er lächelt wieder.
„Da sieht die Welt gleich anders aus.“
Auf dem Weg in die Küche setzt Günther sein Kumpel-Gesicht auf:
„Ich glaube, es ist besser wenn du niemanden von unserer besonderen Freundschaft erzählst. Wenn du zu viel Ärger machst schicken sie dich vielleicht zurück. Das wäre für uns beide schlimm. Das würde mir das Herz brechen.“
Ich habe nichts gesagt. All die Jahre nicht. Ich war froh, dass Günther mich nicht verlassen hat. Wollte ihn nicht verletzen, ihm keine Schwierigkeiten machen. Auch dann nicht als ich merkte, dass die Welt größer ist als ein Hobbyraum. Zeit vergeht. Stellt sich die Frage, was ohne Günther aus mir geworden wäre, denn überhaupt?
Janina behält ihren Pulli an. Ich möchte die Sache jetzt zu Ende bringen, raus aus dieser verarmten, schmutzigen Welt in der Leute ihre Kinder verkaufen müssen um nicht zu verhungern. Es ist anders als ich es mir vorgestellt habe und anders als es geplant war.
Janina kostet in etwa so viel wie ein neuer Kleinwagen. Die gefälschten Papiere inclusive. Während das Mädchen lustig im Zimmer herum hüpft beenden wir das Geschäft formlos. Dana steht immer noch in der Ecke, kann die Hände nicht von ihrem Gesicht nehmen. Ihre Augen sind feucht.
„Wir haben sie vorbereitet“, meint mein Gastgeber. „Janina weiß, dass ich keine Klagen hören will. Sie wird keine Schwierigkeiten machen. Und sie weiß schon worauf es ankommt.“
Tatsächlich. Als ich mich anschicke aufzubrechen verfliegt die Fröhlichkeit des Mädchens schlagartig. Ich werde sie mitnehmen. Zumindest das hat sie begriffen. Als ihr Vater die Jacke bringt laufen dicke Tränen über ihre Wangen. Sie weint lautlos. Das hat sie von ihrer Mutter. Dana verschwindet in der Küche als sie bemerkt, das die Zeit gekommen ist. Man kann eben nicht lernen auf Wiedersehen zu sagen.
Mein Gastgeber diskutiert mit seinem Bruder bis dieser verstimmt seine Jacke nimmt und geht. Dann wendet er sich mir zu.
„Wenn sie noch etwas Zeit haben möchte ich ihnen gerne etwas zeigen“, sagt er nicht ohne ein spitzbübisches Lächeln. Ich verneine, will fort.
„Ich weiß nicht weshalb, aber sie sind mir sympathisch“, meint er.
Wir fahren in ein altes Industiegelände, einige Kilometer außerhalb der Stadt.
Er lots mich bis zu einem Lagerhaus das ich nicht betreten möchte. Es wirkt bedrohlich in seinem Verfall. Rost und Schimmel nagen daran, es ist eine jener abgelegenen Fabrikshallen in denen menschliche Schreie ungehört bleiben.
Janina muss im Wagen warten.
Der Mann merkt wohl, dass ich ihm nicht über den Weg traue. Ich habe gerade seine Tochter gekauft, nehme sie mit und werde ihr Leben zerstören um meines zu bereichern. Vielleicht war es doch ein Fehler. Vielleicht ist alles ganz anders und ich habe mich getäuscht. Väterliche Liebe? Ehre?
Ich fürchte um mein Leben.
Die alte Eisentüre klemmt ein wenig, der hellgelbe Lack ist an vielen Stellen abgesplittert, überall Rost. Die Angeln quietschen.
Plötzlich tut er etwas das ich nicht erwarte, mich wehrlos werden lässt. Dieser Mann nimmt meine Hand, beinah wie ein Vater, der seinen furchtsamen Sohn geleitet.
„Keine Sorge“, sagt er grinsend, „ich will ihnen nur etwas zeigen.“
Wir betreten die große Halle gemeinsam.
Ich habe so etwas noch nie gesehen. So vollkommen makellos, in reinstem weiß gehalten, glänzend und schimmernd im Licht der Deckenlampen. In der Mitte der dämmrigen, leeren Halle thront sie, wirkt wie eine Illusion, in ihrer Schönheit beinah obszön im Vergleich zum Rest dieser sterbenden Welt. Katharina. Diese Yacht muss an die zwanzig Meter lang sein.
Ausgelassen wie ein Kind umrundet er das Boot, baut sich davor auf und atmet tief diesen speziellen Duft ein, wie nur neue Dinge ihn verströmen.
„Zwei Kojen. Voll eingerichtet.“ Er lacht. „Es ist alles fertig. Fehlt nur noch das Wasser rund herum.“
Selten habe ich einen Menschen so glücklich gesehen.
„Kommen sie, ich zeige ihnen alles.“
Zwischen Flachbildfernseher und seidenen Laken erfahre ich von seinem Geheimnis. Selbst die Lagerhalle gehört ihm. Niemand weiß davon. Das ist seine Zukunft. Seine Rente. Sein Leben. Jeder hat seinen Traum.
Und Dana?
Er sieht mich verdutzt an. Es überrascht uns beide, dass ich wage diese Frage zu stellen.
Er möchte mir noch etwas zeigen, bittet mich auf die Bücke.
Seine Kapitänsmütze. Schwarz und weiß. Zeitlos, klassisch, elegant.
Ich ziehe meine Waffe aus der Manteltasche.
„Du bist ein Schwein Papa“, höre ich mich in seiner Sprache sagen. Diesen Satz habe ich gelernt.
Die Szene hat nichts heroisches, nichts befreiendes an sich. Hollywood lügt. Ich bin enttäuscht, hatte mir mehr erwartet als einen alternden Mann der winselnd vor mir auf dem Boden kriecht. Wie immer im wirklichen Leben wird dieser Moment zu rasch vorbei gehen. Kein Dialog, keine Aussprache. Nur eine vollgepisste Hose. Stellt sich die Frage ob er versteht denn überhaupt?
Ich spanne den Hahn. Zeit eine Entscheidung zu treffen. Doch darin habe ich keine Übung. Das habe ich nie gelernt.
Wir betrachten einander misstrauisch, bleiben auf Distanz. Es gibt viele Gründe Angst vor dem Anderen zu haben. Gerne würde ich sie in den Arm nehmen und in einer fremden Sprache sagen, dass alles gut wird. Doch ich fürchte mich davor, dass Günther wieder kommt. Sehr häufig, wenn ich einen Menschen berühre, erscheint er plötzlich und nimmt ihn mir weg. Ich habe mir vorgenommen mit Günther zu reden, wenn zuhause bin, in meinem Bett liege, der Wand zu gedreht. Ich habe mir sehr viel vorgenommen.
Janinas große Kinderaugen schimmern in der Dunkelheit. Die Geschichte nimmt hier ihren Anfang, in einem kalten Wagen, der auf einem verlassenen Industriegelände parkt, irgendwo in einem verödeten Land.
Und während ich den Zündschlüssel drehe und der Wagen langsam anrollt weiß ich was zu tun ist. Wir werden einen Weihnachtsbaum kaufen, mit bunt bemalten Glaskugeln, Süßigkeiten und Lametta. Ein großer Baum soll es sein, mit echten Kerzen und Sternspuckern. Der Fernseher wird keine Chance haben dagegen. |