Selbstmörder, Nachtgestalten und Wasserleichen

Der Friedhof der Namenlosen

 

Namenlose Kreuze zieren den FriedhofFährt man den sogenannten Handelskai entlang, vorbei an dem imposanten Wasserkraftwerk Freudenau, in den elften wiener Gemeindebezirk hinein, so wird man rasch auf das Hinweisschild „Albern“ treffen. Dieser kleine Fischerort, der eigentlich kein Ort mehr ist, sondern seit vielen Jahrzehnten schon ein Teil Wiens, beherbergt neben dem wenig malerischen Hafengelände auch einen der ausgefallensten und unheimlichsten Plätze der Stadt: Den Friedhof der Namenlosen. Selbstmörder liegen dort genauso begraben, wie in den Fluten der Donau Verunglückte und auch ein Junge von elf Jahren, durch fremde Hand aus dem Leben gerissen, wie es auf dem eisernen Kreuz zu lesen steht, ist dort zu finden.

Alt eingesessene Bewohner des Bezirkes wissen wenig Gutes über diesen Friedhof zu berichten, der abgelegene Ort, von dichtem Auwald umgeben und nur durch das Hafengelände zugänglich, sei oft Schauplatz krimineller Aktivitäten gewesen, so manches Unglück habe sich dort ereignet, heißt es. Man warnt mich, in der Dunkelheit hinzufahren.

Tatsächlich zeugt einer meiner ersten Besuche von einer Tragödie, die sich nur wenige Tage zuvor ereignet hat. Mord und Selbstmord, auf dem großen Parkplatz, direkt hinter dem Friedhof – in den Nachrichten wurde darüber berichtet. Es ist Winter, immer noch finden sich die gebrauchten Gummihandschuhe der Notärzte am Boden festgefroren, Markierungen der Polizei sind deutlich sichtbar. Ein Mann hat seine Frau umgebracht, dann sich selbst.

Der Tod hat eine lange Tradition in dieser Gegend, nicht nur, weil dort die Donau durch eine Laune der Natur ihre Toten seit jeher freigegeben hat. Auch vom „sich töten“,  vom freiwilligen Scheiden aus dem Leben, von entsetzlicher Verzweiflung und Not, weiß dieser Ort zu erzählen. Immer wieder mussten Erhängte von den Bäumen rund um den Friedhof abgeschnitten werden, einer sogar von dem schmiedeeisernen Gitter der Kapelle. Und selbst der Totengräber fand eines Tages seinen Sohn auf diese Weise aus dem Leben geschieden.

Wie aber hat man sich diesen seltsamen Friedhof nun vorzustellen?

Nun, eigentlich sind es zwei Friedhöfe, kaum zehn Meter von einander entfernt. Getrennt durch einen Schienenstrang und eine Zufahrtsstrasse, die auf den Parkplatz  des Gasthauses führt, läd der neue Friedhof der Namenlosen samt Kapelle zur Andacht ein. Wenige Stufen muss man von der Kapelle hinabsteigen, kurz verweilt man vor dem Eingangstor, liest die Zeilen von Graf Wickenburg, der diesem Ort ein Gedicht gewidmet hat. Dann tritt man zwischen die Gräberreihen. Und tatsächlich – hier scheint die Zeit still zu stehen.

Trotz Hafen, Industrie und Gaststätte ist es seltsam ruhig, Schmetterlinge tanzen lustig zwischen den eisernen Kreuzen.. An einigen der alten Bäume, die den Friedhof begrenzen, hängen Andachtsbilder, da und dort findet sich eine ausgebrannte Kerze in dem gräulichen Lehmboden. Die Gräber sind einfach, auf einigen liegt Blumenschmuck, meist aber wuchert nur üppiges Grün aus den kleinen Erdhügeln. Grabsteine gibt es  kaum. Die einst hölzernen Kreuze wurden von Josef Fuchs sen., dem letzte Totengräber von Albern, durch gusseiserne ersetzt, die ursprünglich vom wiener Zentralfriedhof stammen.  Eine kleines hölzernes Leichenhaus fällt auf, das jedem Besucher einen gruseligen Blick in sein Inneres gewährt: Auf dem Tisch in der Mitte steht ein Sarg. Schon viele Jahre.

Eine schützende Mauer hat der namenlose Friedhof im GegensatzEinmal im Jahr wird in dieser Kapelle eine Messe gefeiert zu vielen anderen Gottesackern nicht. Im Jahre 1935 wurde im Zuge der Erhöhung des  Schutzdammes und der Errichtung der Andachtskapelle auch ein steinerner Wall gebaut, kaum hüfthoch. Der Altarstein dieser Kapelle stammt übrigens aus den Trümmern der „Kronprinz – Rudolf Brücke“, der alten Reichsbrücke, die in Anlehnung an das traurige Schicksal des Thronfolgers auch gerne als „Selbstmord – Brücke“ bezeichnet wurde.

104 Tote wurden zwischen 1900, dem Jahr der Eröffnung des neuen namenlosen Friedhofes und 1940 hier beerdigt, der Letzte war ein Hafenarbeiter aus Deutschland. Mit dem Ausbau des Hafengeländes 1939 verschwand der Wasserstrudel, welcher die toten Körper regelmäßig an dieser Stelle an Land spülte, der Friedhof verlor an Bedeutung, wurde mehr und mehr zu einem Überbleibsel, einem Kuriosum.   

Der ältere Teil, auf der anderen Seite der Zufahrt, ist als Friedhof heute nicht mehr existent. Ein Hort der Namenlosen zu sein, trifft auf diesen Platz sehr viel mehr zu, im Gegensatz zu dem neuen Friedhof ist über die Toten hier tatsächlich nichts mehr bekannt, kein Stein, keine Inschrift gibt mehr Auskunft. Einzig ein Hinweisschild erzählt, daß hier überhaupt ein Ort der Bestattung war, eine kleine Skulptur mahnt den Betrachter, mit einem Bündel Blumen geschmückt. Längst hat sich der Auwald zurückgeholt, was ihm einst genommen wurde, alle Andachtsstätten wurden von den zahllosen Hochwässern der Donau vernichtet, auch wenn die Toten immer noch irgendwo in dem schlammigen Boden des Waldes liegen. Denn die Pläne der Gemeinde Wien, eine Exhumierung der 478 Grabstätten durchzuführen, sind ebenso in Vergessenheit geraten wie die Gräber selbst.

Der ursprüngliche Friedhof wurde im Jahre 1854 angelegt und sollte schlicht die Körper der Toten aufnehmen, welche die Donau freigab. Da viele der Leichen Selbstmörder gewesen waren, verbot man sich ein kirchliches Begräbnis, Priester gab es in Albern keinen. 1877 wurde der Friedhof vergrößert, eine hölzerne Leichenhalle gebaut, die Regelungen zur Bestattung verbessert. Man hob Kleider und Gegenstände von Wert auf, um eine mögliche Identifikation der Toten auch in späteren Jahren zu ermöglichen.

Auch heute noch hört man in Zusammenhang mit dem namenlosen Friedhof von Zeit zu Zeit den Satz:

„Die Donau holt sich ihre Toten immer zurück.“

Dahinter steht die Tatsache der wieder kehrenden Überschwemmungen, die trotz Flussregulierung und Schutzwall auch vor dem Friedhofsgelände nicht halt machten. 1899 beschloss man, den ursprünglichen Friedhof, der sehr nahe am Wasser gelegen war und, so wie der Ort Albern selbst, immer wieder Überschwemmungen zum Opfer fiel, aufzugeben. Kleine Figuren zieren die GräberIm Jahre 2002 wurde auch Wien von dem sg. Jahrhunderthochwasser heimgesucht, das gesamte Friedhofsgelände, alt und neu, überflutete. Es gelang damals nur mit Mühe bis zum Friedhof vorzudringen, das Hafenareal musste gesperrt werden. Das Gräberfeld selbst war verschwunden. Nur noch die Spitzen der Eisenkreuze lugten aus dem schmutzig braune Wasser. In diesem Sommer hatte die Donau ihre Toten tatsächlich heimgesucht.

Wie sehr der Friedhof der Namenlosen an Popularität gewonnen hat, beweist ein nächtlicher Besuch in der warmen Jahreszeit. Oft trifft man Neugierige, Interessierte, Abendheuerlustige, aber auch Verzweifelte und einsame Gestalten, die hier ihren Frieden suchen, zumindest für einen Augenblick.

Ein junges Pärchen hat sich auf den steinernen Stiegen der Kapelle niedergelassen, eng umschlungen, die Sterne betrachtend. Hier kommen sie her müssen heimlich lieben, weil niemand in der Welt  es erfahren darf.

Ich treffe einen alten Mann, der nachdenklich das Gräberfeld überblickt. Oft ist er hier, so erzählt er, weil dieser Platz ein Stück Geschichte darstellt, Kultur pur wie er meint und weil er auch gar nicht wüsste, wohin er sonst gehen sollte..

Und Geister? Die soll es hier tatsächlich geben.

Viele Gesichten ranken sich um den Friedhof der Namenlosen, eine der bekanntesten wird in dem Buch “Spuk in Wien” neu erzählt. Sie handelt von der unerfüllter Liebe des Arnold Moser, der seine verlorene Geliebte erst als alter Mann wieder finden sollte -  Jahrzehnte zuvor hatte sie sich in den kalten Fluten der Donau das Leben genommen.

Aber auch selbsternannte Geisterjäger versuchen ihr Glück, mit Kamera und Taschenlampe bewaffnet, durchstreifen sie das Gelände, auf der Suche nach einer Begegnung der feinstofflichen Art.

Schließlich aber wird es wieder ruhig auf dem kleinen Friedhof,  die Kerzen verlöschen, auch die letzten Besucher ziehen sich zurück.   Einige Stunden ist den Toten nun Ruhe gegönnt, bis der Morgen anbricht und die Namenlosen ihre nächsten Besuche empfangen. Menschen wie du und ich, die dieses Kuriosum staunend betrachten, einen wohligen Schauer genießen und befriedigt ihrer Wege gehen, Wege  die alle an ähnlichen Orten enden, irgendwann. Doch darf bezweifelt werden, dass mein Grab – wie wohl einst mit Namen versehen – so oft Besuch erhalten wird, wie die der Unbekannten in Albern.

                                                                                       W.Brenner, 2006

 

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