Raunacht

Publiziert in “Weihnachten” im Dr. Ronald Henss Verlag, 2006

Ich hatte Lena ermahnt, sie solle den Schnee nicht essen, davon würde sie Husten bekommen. Als sie es wieder tat schlug ich ihr den weißen Klumpen ärgerlich aus der Hand und drohte ihr eine Ohrfeige an. So wie unsere Mutter wollte ich sein, streng und unerbittlich, das bisschen Autorität einer älteren Schwester gewürdigt wissen. Inmitten des verschneiten Waldes hatte ich tatsächlich den Zeigefinger erhoben und altklug den Zusammenhang zwischen Schnee, Husten und Bauchweh erklärt. Außerdem, und davon versprach ich mir die größte Wirkung, würde es für ein krankes Kind kein Weihnachtsfest geben, keinen geschmückten Baum, keine Lieder und kein Geschenk. Nur bittere Medizin.

„Kein Geschenk?“

„Nein. Nichts.“

Lenas blaue Augen weiteten sich erst ungläubig, dann machte sich Entsetzten in ihrem von der Kälte rot gefärbten Gesicht breit.

Ich blieb standhaft, genoss schweigend meinen Sieg. Dabei hatte ich etwas für sie in diesem Jahr. Das restliche Sackleinen hatte für eine Puppe ausgereicht, mit Sägespänen gefüllt, zwei weißen Knopfaugen und Wollresten, die einen bunten Haarschopf formten. Einen lachenden Mund hatte ich ihr mit Nadel und rotem Faden auch noch verpasst. Gucki war ein wenig unförmig geraten, die Arme gar kurz und dick, wartete sie mit ihrem rundlichen, gut gepolsterten Bauch schon versteckt auf dem hohen Bücherregal, endlich in kleine Kinderhände gelegt zu werden.

 In der Nacht, als ich mühsam Sägemehl in das Stück Leinen füllte, gehörte sie Lena bereits. Mit etwas Bast formte ich den Kopf und sah das strahlende Gesicht meiner Schwester darin, die schon mit weniger zufrieden war, alles zum Leben erwecken konnte. Selbst einen Stein erklärte sie zu ihrem Freund.

 Manchmal, wenn Lena längst schlief, schlich ich mich zurück in die Stube, erklomm vorsichtig das Regal und holte Gucki hervor. Ihr unerschütterlich fröhliches Gesicht fixierte mich so lange, bis ich das Lächeln nicht mehr unterdrücken konnte. In jenen Nächten schlief ich leichter ein, zufrieden, mit der wärmenden Gewissheit etwas Gutes getan zu haben, während draußen die Welt gefrohr.   

Besonders an den letzten Tagen vor Weihnachten fiel es mir zunehmend schwerer, nichts von Gucki zu erzählen. Der vierundzwanzigste Dezember hatte seinen Glanz verloren, jedes Jahr ein wenig mehr. Allmählich waren die Zimtsterne und der duftende Lebkuchen vom Gabentisch verschwunden. Gerade als Lena das Alter erreicht hatte, in dem man lernt zu staunen, schimmernden keine bunten Christbaumkugeln mehr an unserem Baum.

„Die Zeiten sind schlecht“, hatte mein Vater einmal gesagt. Inzwischen war auch er verschwunden und viele Andere mit ihm.

Stille statt Besinnlichkeit.

Die heilige Nacht verdunkelt?

Zu jener Zeit, als Weihnachten auch seine Geschichten einbüßte, keine Märchen und Erzählungen mehr vorgelesen wurden, in dem Jahr als niemand mehr so recht darüber sprechen wollte, weil mein Vater recht behalten hatte, zu jener Zeit begann ich Gucki zu nähen.

Mutter hatte dieses Jahr keinen Christbaum mehr gebracht. Und als  ich diese Puppe spät nachts im schwachen Licht einer Glühbirne so unbeirrt fröhlich lächeln sah, wie ich es selbst nicht gekonnt hätte, reifte der Entschluss, den heiligen Abend doch noch heilig zu machen.

Wir setzten uns wieder in Bewegung. Lena schob, ich zog an der Deichsel so fest ich konnte. Die Dämmerung kroch zwischen den Bäumen auf uns zu und ließ die Konturen der etwas weiter entfernten Stämme langsam in dem grauen Hintergrund zerfließen. Noch vor Einbruch der Nacht wollte ich die Hauptstrasse erreicht haben, auf der wir unseren Leiterwagen einsam durch das Zwielicht schoben. Große Weichselbäume, deren dunkelrote, säuerliche Früchte im Frühsommer Kinder und  Wespen gleichermaßen anzogen, säumten nun verwaist die verschneite Strasse. Die Kirschenallee musste noch durchquert werden, um die ersten Häuser des Ortes zu erreichen. Eines davon gehörte uns.

Der alte Sutter Bauer hatte das Quietschen und Klappern unseres Leiterwagens wohl schon aus der Ferne gehört und winkte uns freundlich aus seinem Vorgarten zu. Er hielt einen langen Stock in der Hand und klopfte damit immer wieder auf die Äste seines Apfelbaumes. Dies tat er mit großer Sorgfalt, ließ keinen der dickeren Äste aus und wiederholte die Prozedur mehrmals.

„Habt´s einen Baum geholt“, rief er uns zu und deutete vergnügt auf die kleine Fichte in unserem Wagen.

Lena, die den alten Mann gern hatte weil er den Kindern im Sommer oft Marillen und später auch Äpfel von seinen Bäumen schenkte, lief ohne zu zögern an den Zaun und fragte, was es mit dem Stock auf sich hätte.

Der alte Bauer wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schob seinen Filzhut zurecht.

„Das macht man um die Geister zu vertreiben“, sagte er unverblümt. „Damit wir auch nächstes Jahr wieder gute Äpfel haben.“

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, wusste ich doch wie einfach es war, Lenas Fantasie zu beflügeln.

„Das sind nur Bräuche“, ergänzte ich ruhig.

„Sechs Nächte vor und sechs nach Weihnachten, da ist der Umgang“, fuhr der alte Sutter mit gespieltem Ernst fort. Er kannte unsere Lena und ihren Hunger nach Märchen und Geschichten.

„In den Zwölfernächten, da haben sie alle Ausgang, die Guten und die Bösen. Sie treiben sich in den Wäldern herum, fliegen durch die Luft, schleichen um die Häuser.“

Möchten sie wissen wie es weiter geht? Die vollständige Geschichte finden sie im Band “Weihnachtsgeschichten”, erschienen im Dr. Ronald Henss Verlag, 2006.

Weihnachtsgeschichten                                                        Dr. Ronald Henss Verlag, 2006                                           ISBN-10: 3-9809336-9-5                                                     ISBN-13: 978-3-98093336-9-8                                                10,30 Euro (A)                                                                       9,90 Euro (D)      

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