Jeder Tag hat seinen eigenen Geruch. Dieser riecht nach Weizenfeldern, in denen der Wind Wellen aus reifem Korn vor sich her treibt und den Feldblumen, die an den Wegrändern gedeihen. Es riecht nach Trockenheit und dem Staub, den unsere Schritte aufwirbeln, nach der Sommerhitze, die prickelnd auf meinem Gesicht liegt.
Insekten summen durch die Luft, seit langer Zeit höre ich wieder das Zirpen von Grillen. Es ist ein Tag ohne Ende, so wie der blaue Himmel über uns. Ich kann den alten Tennisball mit aller Kraft werfen, es gibt keine Grenzen, nichts das uns hält. Wir strecken unsere Körper, baden in der warmen Sommerluft, atmen ein wenig tiefer als sonst. Selbst der Hund wirkt verspielter, hört nicht auf zu laufen, obwohl es so heiß ist.
Es sind wunderschöne Stunden, weil ich sie mit dir verbringen darf. Kein Tag zum Nachdenken. Ein Tag zum Erinnern.
Alles was man dafür tun muss, ist morgens die Augen zu öffnen, denke ich heimlich, während du mit dem Hund tollst.
Ich fühle die kleinen, weißen Tabletten in meiner Hand, spiele mit ihnen, lasse sie durch meine Finger wandern, während ich dich ansehe. Ich bin glücklich, denn ich weiß, es wird keinen Regen geben, an diesem Tag, der strahlender nicht sein könnte. Wir werden uns lieben nach diesem Ausflug, auf schwarzem Satin, der deine weiße Haut für immer einprägt, in meine Erinnerung. Es bleibt noch Zeit, bis der erste Tropfen vom Himmel fällt.
Das Mobiltelefon läutet. Ich vermute es irgendwo im Bett, schiebe die Photos zur Seite, den halbvollen Teller von Mittag, meine alte Wäsche. Ich folge der schwachen Klingelspur, wühle im Bettzeug und fördere am Ende doch noch mein Telefon zu Tage, neben der Fernsehfernbedienung, einem leeren Glas und zerfledderten Comics.
Es ist eine Frau, wenn auch nicht meine. Das enttäuscht, selbst jetzt noch.
Die Dame ruft aus dem Pflegeheim an, in das mein Großvater vor Jahren schweren Herzens gezogen ist.
Sachlich wird mir erklärt, das der zunehmende körperliche und geistige Verfall eine Verlegung in die Bettenstation unbedingt erforderlich macht. Die Schwester möchte den Beschluss mit einer Reihe von Fakten untermauern, zählt mit trockener Stimme einen Vorfall um den anderen auf, der meinen Großvater auf das tiefste beschämt hätte, könnte er sich noch daran erinnern. Aber auch das klappt nicht mehr. Ich will das nicht hören, dazu respektiere ich ihn zu sehr, so willige ich rasch ein. Ich habe fünf Tage Zeit, das Zimmer zu räumen. Bereits jetzt gehört es ihm nicht mehr. Es gibt einfach zu viele alte Menschen, die sehnlichst darauf warten ein kleines, tristes Zimmer mit den paar Habseligkeiten eines verbrauchten Lebens zu füllen. Also werde ich kommen, noch heute. Das verbessert meine Situation zwar nicht, aber verändert sie zumindest.
Die Direktorin persönlich begleitet mich zu dem Zimmer. Sie hätte sowieso den selben Weg, meint sie. Vielleicht zehn, fünfzehn Jahre trennen sie noch von den Bewohnern und offensichtlich gedenkt sie diesen Vorsprung zu halten, mit dunkelrot gefärbten, toupiertem Haar und teurer Schminke. Sie trägt einen Damenanzug im Nadelstreif und ein kleines, goldenes Kettchen über der schwarzen Seidenbluse. Ihre hohen Absätze lassen markante Schritte in den langen, stillen Gängen widerhallen. Respektvoll weichen die Alten zurück, wo immer sie vorüber zieht. Ich kann die neugierigen Blicke sehen, höre, wie leise Zimmertüren sich öffnen und faltige Gesichter verstohlen aus dem Halbdunkel schielen. Wann immer diese Schritte hörbar werden passiert etwas. Jemand kommt in die Gemeinde, oder jemand verlässt sie. Ansonsten lebt die Heimleitung in einer anderen Welt, hat mir mein Opa einmal erzählt, dort, wo der Boden mit Teppichen ausgelegt ist und Grünpflanzen die hellen Räume zieren. Die Welt drei Stockwerke unter mir, wo sogar Bilder an den weißen Wänden hängen.
Zimmer eins, drei, fünf. Sie öffnet mir die Türe, dann verabschiedet sie sich. Alles was nicht innerhalb der vorgeschrieben Frist abgeholt wird, geht automatisch an das Altenheim, erklärt sie abschließend.
Ich stehe alleine in dem düsteren Gang. Ein Namensschild klebt an der Türe, aber sie hat seinen Namen nicht genannt. Nur die Nummer, mit beiläufiger Stimme. Zum ersten Mal wird mir klar, wie gering die Bedeutung eines Lebens ist, mag es noch so lange gewesen sein. Man kann es fühlen, wie Existenzen hier langsam verblassen, in dem großen Speisesaal, dem Park, dem Cafe. Schließlich vergessen die Alten sich selbst. Dann ist es vollbracht. Aber das schreckt mich nicht. Im Gegenteil, die Selbstverständlichkeit, mit der hier zu ende gelebt wird lässt das wohlig warme Gefühl der Verantwortungslosigkeit in mir hochsteigen, als ich Nummer eins, drei, fünf betrete. Die Gewissheit, das längst nicht alle Dinge so wichtig sind, wie man sie gemeinhin sieht, nehme ich zufrieden mit mir in den Raum.
Finanzielle Werte gibt es hier keine. Ein Schrank, eine Vitrine, ein Wandteppich. Zwei abgenutzte Stühle aus den Fünfzigern, einer rot, einer olivgrün, mit Stoffüberzug. Dazwischen ein zerkratzter Couchtisch. Die meisten der Dinge hier waren schon alt als ich als Kind meine Großeltern besuchte, an den Wochenenden. Von den Tellern mit Blümchen Muster, die in der Vitrine lagern, habe ich oft gegessen, einen sogar zerbrochen.
Der hölzerne Schrank ist voll mit alten Hemden und Anzügen, die mein Großvater seit Jahren nicht mehr getragen hat. Breit geschnittene Krawatten aus den Siebzigern, ein Paar polierte, schwarze Lackschuhe. Alles mit dem Duft von Naphtalin getränkt.
Draußen regnet es ohne Unterlass, seit Tagen schon. Durch das kleine, nasse Fenster wirkt die Welt wie ein bewegtes Aquarell, ganz in grau gehalten. Der Blick führt auf die Hauptsrasse, in der das Leben pulsiert. Von der Strasse aus kann man oft die Gesichter der Alten hinter den Scheiben beobachten. Wie vergessene Gespenster starren sie auf eine Welt, die sich viel zu schnell dreht, für ihre verbrauchten Augen. Manche haben sogar noch Sehnsüchte, andere einfach nur Angst.
Ich wende mich ab, öffne eine der Schubladen. Mein Gesicht ist grau dieser Tage, die Augen sind müde. Und wieder ein weiteres Gespenst, das auf die Strasse stiert, denke ich voll Trotz. Tatsächlich habe ich den Anschluss verloren, wurde aus meinem Sitz geschleudert, während das Karussell des Lebens sich munter weiter dreht, mit all den Lichtern und der Musik. An diesem Ort hier ist alles alt und starr und die Ruhe tut furchtbar weh.
Es gibt Momente, da hasse ich sie. Es gibt Zeiten, da verstricke ich mich in endlose Selbstgespräche auf der Suche nach einem Weg zurück in das bunte, duftende Leben mit ihr. Und immer finde ich mich letztlich vor dem Fenster, in meiner engen Wohnung, in den Regen starrend.
Die Schublade ist mit alten Fotos und Ansichtskarten gefüllt. Jede Menge Urlaubserinnerungen, auf einigen Bildern bin auch ich zu sehen, als kleiner Junge, mit goldenen Locken und Zahnlücken. An die meisten dieser Ausflüge kann ich mich nicht mehr erinnern.
Tief unten, von all den Schichten aus Urlauben, Geburtstagen und Weihnachtsfesten überlagert, liegt eine andere Welt begraben. Diese Photos am Grund der Lade strahlen keine Geborgenheit aus, schwarz auf weiß grinst mich der Krieg aus dem Gesicht eines deutschen Soldaten an. Er steht neben meinem Großvater und einem dritten Mann. Mein Opa ist augenscheinlich der Jüngste. Noch ein halbes Kind. Sturmgewehr und Stahlhelm wollen nicht so recht zu ihm passen. Alle drei lächeln, als Hintergrund dient ein zerstörter Panzer, der wie ein riesiger Kadaver langsam in der Steppe verrottet. Im Vergleich zu den anderen ist das Grinsen des ersten Mannes echt. Ich bemerke auch, das dieser Soldat ein wenig abseits zu den beiden anderen steht. Nicht seine Freunde, aber sein Krieg.
Das Portrait einer jungen Frau kommt zum Vorschein. Volles, dunkles Haar umrandet das Gesicht mit leicht asiatischem Einschlag, doch ihre Augen sind leer. Auch ihr Lächeln ist nicht echt. Ich glaube, sie würde lieber weinen, aber sie spielt ihre Rolle. Ihr fröhliches Gesicht ist so voller Hoffnungslosigkeit, das es mich anzieht. Meine Fingerspitzen gleiten sanft über ihr Bild. Nein, da ist keine Lust, obwohl sie hübsch ist. Viel mehr möchte ich ihr Schicksal kennen und es teilen. Ein Stück des Weges mit ihr gehen, solange der Augenblick besteht. Zu gerne hätte ich ihr gesagt, das ich heute hier sein werde, um sie damals zu trösten.
Die letzten beiden Bilder sind blankes Grauen. Menschliche Leiber hängen schlaff an eilig zusammen gezimmerten Galgen. Männer und Frauen, die Köpfe durch den Strick unnatürlich schräg gelegt. Ich kann sehen, wie ihre Körper sich langsam um die eigene Achse drehen. Rund herum stehen Soldaten, rauchen, reden, machen Pause. Ich zähle zehn Gehängte. Manche tragen russische Uniform, andere Zivil. Hinter dem Galgen breitet sich endlose Steppe aus. Am rechten Bildrand lodert ein gewaltiges Feuer. Dunkle Rauchschwaden hängen träge über dem Szenario. Das Bild hat etwas apokalyptisches. Ich betrachte die beiden Aufnahmen nur kurz, fühle mich unangenehm berührt, denn diese Menschen sind wirklich tot. Umgebracht. Darauf war ich nicht vorbereitet. Nervös suche ich nach dem Gesicht meines Großvaters unter den Soldaten, habe Angst, er könnte einer von denen sein, die lächeln. Wie sollte ich mit diesem Mann dann umgehen, der nun zwei mal täglich die Windeln gewechselt bekommt.
Ich habe nur die Aufnahmen vom Krieg mit genommen. Es ist nicht richtig, das Leid anderer zu benutzen, aber es hilft, das eigene zu lindern. Es beschäftigt mich. Besonders das Bild der jungen Frau hüte ich auf dem Heimweg, beschädigt ist es schon genug. Geknickt, verblichen, verschmutzt. Würde ich es jetzt verlieren, hätte ich rückwirkend eine Geschichte ausgelöscht, vielleicht ein ganzes Leben. Wer würde jemals wissen, das es ein Mädchen mit diesem Gesicht überhaupt gegeben hat, an diesem Ort, zu dieser Zeit. Allein die Möglichkeit, das ich der letzte bin, lastet schwer auf mir. Ich frage mich, warum mein Großvater diese Aufnahme gemacht hat. Was er mit ihr gemacht hat. Oder sie mit ihm...
|