© Gerold Wallner

Großvater

 

Als die neue Maschine aufgestellt wurde, legte mein Großvater, der damals schon lange Eugen Barta hieß, die Zeitung weg, aus der er die Neuigkeit erfahren hatte, sah mich an – ich spielte auf dem Fußboden –, rief dann die Großmutter und sagte, als sie folgsam mit abgetrockneten Händen und ihrem Interesse, das sie immer zeigte, wenn sie gerufen wurde, aus der Küche gekommen war: „Sie haben die Maschine aufgestellt“. Meine Großmutter nahm diese Information entgegen wie alle Informationen, die ihr mein Großvater zukommen ließ, bedrückt, als wäre jeder Satz eine Prophezeiung des Heiligen Johannes, und erschüttert, als hätte sich diese Prophezeiung erfüllt. Aber ich nahm das nicht wahr, ich saß über meinen Bausteinen aus Ton, mit denen schon der Vater meines Großvaters gespielt hatte und die meine Großmutter mit Eiklar klebte, wenn sie beim Spielen brachen, weil ich einen Turm gebaut hatte, der durch eine Erschütterung des Fußbodens hingestürzt war, hervorgerufen durch einen schweren Lastzug, der am Haus sich vorbeiquälte. Diese Steine wurden nach jedem Spiel von meiner Großmutter eingesammelt und in eine altmodische Spanschachtel verstaut, die brüchig war, nur von meiner Großmutter angefasst werden durfte und auf ihrem Boden eine papierene vergilbte Vorlage trug, auf der die Anordnung der Steine verzeichnet stand, nach der sie in die Schachtel zu verstauen waren, ein Ritual, das mir damals meinen bis in s hohe Alter bewahrten Sinn für Ordnung weckte.

Und über diesen Steinen, versunken hingekauert mit den halbwachen Sinnen eines vom Spiel betäubten Kindes, hörte ich meinen Großvater meine Großmutter rufen, von der Maschine sprechen, was mich aus dem Spiel auftauchen ließ, hörte, dass er in der fremden Sprache weiter sprach, von der ich erst viel später erfuhr, dass sie italienisch war, und erhob mich. Immer, wenn mein Großvater so sprach, wusste ich, dass wir ausgehen würden. Er liebte es, mich mit dem Ausgehen zu überraschen, da er der Überzeugung war, ich würde gerne mit ihm durch die Stadt gehen, und so hüllte er die Vorbereitungen in die fremde Sprache, die mir auf diese Art zum Zeichen wurde, wie einem Hund der Griff des Herrn nach der Leine zum Zeichen wird. Meine Großmutter kämmte mich und setzte mir gegen die Sonne die Mütze auf, die mir mein Großvater, kaum wir um die Ecke gebogen waren, abnahm und achtlos in die Außentasche seines Sakkos knüllte.

Wir bestiegen die Tramway, deren Linie erst vor Kurzem eröffnet worden war und in die Nähe der Wohnung meiner Großeltern führte. Mein Großvater muss damals schon alt gewesen sein, aber es dauerte dann noch eine Zeit, ehe er seinen Namen zum zweiten Mal änderte und als Jakob Kimarek weiterlebte, wobei er mit dieser Namensänderung auch aufhörte, italienisch zu sprechen. Aber damals bestiegen wir die Tramway und fuhren nach dreimaligem Umsteigen in ein Viertel, das ich noch nie gesehen hatte. Der erste Eindruck war der der Finsternis, des Rußes, der Armut, aber auch der Großzügigkeit der Anlagen, und dass alles seltsam altertümlich aussah, und erst später erfuhr ich, dass mein Großvater lange Zeit seines Lebens in dieser Gegend verbracht hatte. Er war zu einer Zeit geboren worden, als der alte Kaiser noch lebte und herrschte, und sein Vater hatte seiner Mutter lange Zeit nicht verziehen, dass sie ihr Kind zwei Tage nach dem offiziellen Geburtstag des Kaisers zur Welt gebracht hatte. Er hatte auf ein Zusammenfallen der beiden Geburtstage gehofft, schmollte, als die Verspätung unwiderruflich feststand, und erklärte in seinem Zorn: „Dann hätte es auch ein Mädchen sein können.“ Er berührte seine Frau zwei Jahre nicht, was sie zunächst mit Erleichterung quittierte ebenso wie die Tatsache, dass er mit ihr nur das Allernotwendigste sprach. Da sich der Vater meines Großvaters aber weigerte, das Kind taufen zu lassen, begann meine Urgroßmutter an seinem Menschenverstand zu zweifeln, sagte: „Er soll haben, was er will, wenn das Kind nur später selig wird“, und bestach einen Standesbeamten, der sich bereit erklärte, das unglückliche Ereignis um zwei Tage vorzudatieren. Da auf diese Art der kaisertreue Ruf der Familie und das häusliche Glück wieder hergestellt waren, konnte das Kind auf den Namen des Kaisers getauft werden und, als es heranwuchs, in die Devotionalienhandlung der Familie eintreten.

Als der erste Krieg ausbrach, zog mein Großvater in s Feld, während sein Vater das Geschäft um ein Beträchtliches erweiterte, indem er einen Staatsauftrag für Leichenbegängnisse an Land zog. Als der Krieg verloren war, wäre mein Urgroßvater ein gemachter Mann gewesen, hätte nicht der Tod des Kaisers, wenige Tage nach Unterzeichnung des Friedensvertrags, das Land in die Wirren eines Bürgerkriegs gezogen. Da das Geschäft von Republikanern geplündert worden war, machte mein Großvater den Bürgerkrieg an der Seite der Royalisten mit und verlor ein zweites Mal eine bewaffnete Auseinandersetzung. In dieser Zeit starben auch seine Eltern: der Vater an gebrochenem Herzen wegen des Untergangs des Kaiserreichs, die Mutter an der materiellen Not wegen des Verlusts des Broterwerbs.

Als die Republikaner die Ordnung in ihrem Sinn herstellten, floh mein Großvater  in s neutrale Ausland, um den Massakern zu entgehen. Als er feststellen konnte, dass die bevorzugten Opfer der Massaker nicht mehr die Kaiserlichen, sondern die  radikalen Verbündeten der Republikaner waren, änderte er seinen Namen und kam in die Heimat zurück, die allerdings für seine kindliche und passive Vaterlandsliebe kein Verständnis aufbrachte und ihn durch blanke Armut zwang, mit anderem Lumpenpack in der Fabrik zu arbeiten. Als die Arbeiter eines Tages wegen gewisser Unregelmäßigkeiten in der Abwicklung der Geschäfte streikten, sah mein Großvater seine Stunde gekommen. Als ehemaliger Buchhalter und Compagnon der väterlichen Devotionalienhandlung verstand er zu viel von der Materie, um nicht der Versuchung zu unterliegen, die Eigentümer der Fabrik auf seine Weise zu erpressen. Das Ergebnis gut und verschwiegen geführter Verhandlungen war die Kündigung meines Großvaters, die Einrichtung eines wohl ausgerüsteten Werkschutzes und die Wiederaufnahme meines Großvaters, der nun dem Werkschutz vorstand. Dann  kam wieder Bürgerkrieg, den mein Großvater gewann, dann Krieg, den er verlor, und dann endlich die schönste Zeit im Leben meines Großvaters. Nach dem Krieg wurden überall nationale Versöhnungskomitees gegründet, um einem neuerlichen  Bürgerkrieg vorzubeugen. Mein Großvater wurde Mitglied des Fabriksversöhnungskomitees in seiner Eigenschaft als mit Arbeiterunruhen erfahren, denn die rohe und ungebildete Belegschaft musste zur Versöhnung und zum Wiederaufbau erst angehalten werden. Als die Versöhnung so vollkommen war, dass dieser Begriff seinen  bedrohlichen Inhalt verloren hatte, konnte sich das Fabrikskomitee endlich Direktion nennen und mein Großvater ging fünfzehn Jahre später als Geschäftsführer mit Direktorengehalt in den hoch bezahlten und wohl auch verdienten Ruhestand.

Und nun standen wir vor der Fabrik, sahen die Menge, die das Fabrikstor angaffte, die breite Lücke neben dem Tor, durch die die Maschine in s Innere geschafft worden war, wir sahen den Werkschutz, der die Lücke bewachte, um Unbefugte daran zu hindern, Blicke in s Innere des Geländes zu werfen, wir sahen die Polizisten, die mit ihren Sprechfunkgeräten sich routiniert und gleichsam unbeteiligt um die Menge verteilten, wir sahen die Arbeiter, die in der Nähe der Lücke riefen und gestikulierten, bis ihr Treiben Gestalt annahm und alte Drehbänke, Instrumente und Werkzeuge und Unmengen von Tischen und Stühlen durch die Lücke in der Umfassungsmauer befördert und auf Lastzüge verladen wurden. Mein Großvater drängte durch die Menge, zog mich stumm mit sich, bis wir die Bresche erreicht hatten, zeigte den Bewaffneten und Uniformierten vom Werkschutz seinen alten Ausweis, hob mich über das Gerümpel und den Schutt zwischen den Mauerstücken und betrat das Innere, vorbei an den Arbeitern, die die alte Einrichtung nach draußen schafften. Drinnen betrat mein Großvater das Verwaltungsgebäude, nachdem wir über den Hof gegangen waren, ohne dass er jemanden gegrüßt hätte, er stieg über unzählige Stiegen, ging durch Gänge, noch immer ohne zu grüßen, drang in Räume ein, deren Belegschaft er ignorierte, bis er ein riesiges Büro erreicht hatte, wo er, noch immer grußlos, sich vor ein großes Fenster pflanzte, das auf die neuen Fabriksgebäude ging, und hinausstarrte. Ich verstand nicht viel von dem Treiben unter uns und war über die Sprachlosigkeit meines Großvaters verärgert. Er, der mir sonst immer alles auf die liebenswürdigste Art erklärte, durchsetzt mit schrulligen Anekdoten, deren Pointen er gerne wiederholte, um noch einmal in den Genuss des Lachens zu kommen, war stumm. Selbst als ein offenbar wichtiger junger Herr mit einem weißen Arbeitsmantel und einem Namensschild auf dem Revers zu uns trat, verbindlich lächelte und einige Worte sagte, fuhr ihn mein Großvater grob an: „Seien Sie still! Sie verstehen nichts davon! Verstehen Sie?“

Derweilen stand unten die Maschine, ein riesiges Ding aus glitzerndem Material voll Energie und Kraft und funkelnd, bedrohlich mit Armen, die alles zu erreichen schienen, aber von einer beruhigenden schönen Farbe, und um diese Magie aus Farbe und Strom wurde in aller Eile aus fertigen Teilen ein Gebäude errichtet, das innert dreier Stunden zur Dachgleiche gediehen war. Ich kauerte  am Fenster, fasziniert von der Geschwindigkeit, mit der das Gebäude aufgerichtet wurde, während andere Arbeiter das alte Fabrikshaus leerten, was viel langsamer vor sich zu gehen schien. Hingerissen von den zwei verschiedenen Rhythmen der Zeit versank ich ganz im Blicken, bis mich mein Großvater an der Hand fasste und das Büro verließ. Als wir über den Hof gingen, sagte mein Großvater: „Das möchte ich mir noch anschauen, was daraus wird.“ Auf dem Weg zurück war er dann wieder der liebe alte Mann, den ich kannte, und niemand merkte auch nur das Geringste davon, dass er besessen war.
                                                                                                 
Die Besessenheit meines Großvaters kam zur Kenntnis der Familie, als es schon zu spät war. Wie hätte auch etwas von seinem Zustand bemerkt werden sollen, wenn er selbst sein Leben ohne die kleinste auffällige Änderung weiter führte. Er stand jeden Tag gegen sieben in der Früh auf, wusch und rasierte sich, kleidete sich an und ging aus dem Haus, um die Tageszeitungen zu erstehen und sich mit den für den Tag nötigen Zigaretten zu versehen. Wenn er zurück kam, hatte meine Großmutter das Frühstück bereitet, es stand dann gedeckt auf dem Tisch, und wenn mein Großvater in s Zimmer trat, zog sie die Serviette vom Gedeck, fragte, ob etwas fehle, was nie der Fall war, und ging in die Küche. Mein Großvater frühstückte, entfaltete die Zeitungen, drehte dazu das Radio auf, las und hörte die Neuigkeiten des Tages, füllte Körper und Seele, vermischte und verdaute und verarbeitete Frühstück und Nachrichten aus Rundfunk und Presse und rief, wenn ihm etwas mitteilenswert erschien, mit vollem Mund meine Großmutter aus der Küche, um ihr vorzulesen oder nachzusprechen, was wichtig war; ein Vorgang, der gut zwei Stunden dauern mochte. Darnach machte er seinen ersten Spaziergang, kehrte um eins pünktlich zurück zum Mittagessen heim, die Großmutter entfernte die Servietten von den Gedecken, durfte sich zum Essen mit an den großen Tisch setzen, erzählte, was für Post gekommen sei, erfuhr vom Spaziergang, räumte den Tisch ab und bewegte sich bis zwei Uhr fünfzehn auf den Zehenspitzen, weil mein Großvater schlief.

Dann ging er auf seinen zweiten Gang, kam gegen sieben, aß, hörte die Abendnachrichten, informierte meine Großmutter je nach der Dringlichkeit oder Kuriosität der Nachrichten, stand auf und ging in die Pfarre oder Kartenspielen. Um zehn Uhr dreißig war er zurück, blieb auf bis elf, las im Bett bis zwölf und stand am nächsten Tag um sieben auf. Die Reihe der Tage wurde jeden Mittwoch unterbrochen, wenn mich meine Eltern um halb neun, oder später, als ich schon zur Schule ging, um halb zwei auf Besuch brachten. Nie erwähnte mein Großvater, dass ihn seine Spaziergänge immer öfter, bald jeden Tag, in die Nähe der Fabrik führten. Er betrat sie nicht, kehrte aber auch nicht in die Wirtschaft gegenüber ein, da sie einen schlechten Ruf hatte und von den Arbeitern der Fabrik frequentiert wurde. Und nie wollte mein Großvater mit dem Gesindel gesehen werden. Er stand nur an der Straße und starrte auf das mit frischem Beton verkleisterte Mauerstück neben dem Fabrikstor. In der Straße, die mit Wunderlichem voll genug war, gewöhnten sich die Leute an den Anblick des gut und solide gekleideten alten Herrn, der Tag für Tag ein paar Stunden vor der Fabrik verbrachte, und einige ältere kannten ihn noch von früher, gingen vorbei und grüssten: „Guten Tag, Herr Direktor.“ Und wer hätte es einem grauen Mann im Ruhestand verübeln mögen, in seiner Freizeit an die Stätte seiner beruflichen Laufbahn zurückzukehren? Hatte er sich doch ganz von unten emporgearbeitet und den Betrieb in den Wirrnissen der Zeit zusammengehalten.

Über die nächsten Jahre gibt es nichts zu berichten, oder nichts, was mit dem oben erwähnten Sachverhalt zu tun hätte. Ich wuchs heran, besuchte das Gymnasium, machte die Abschlußprüfung und bekam von meinem Vater mitgeteilt, dass er für mich eine Stelle im Staatsdienst gefunden hatte.

Er schilderte mir diese Stelle in leuchtenden Farben und befahl mir, meinen Dienst dort unverzüglich anzutreten. Er zählte seine Gründe für diesen Beschluss auf und sie leuchteten mir ein. Zum einen würde ich, wenn ich die Probezeit vorbildlich hinter mich gebracht hätte, woran keines seine Zweifel hatte, unkündbar werden, wofür ich Gott zu danken haben würde, denn keines wüsste, wie sich die Zeiten entwickeln, zum anderen würde auch für meine moralische Stabilität gesorgt werden, denn nach meinem Eid auf die Verfassung würde ich nie mehr aus freien Stücken Entscheidungen treffen müssen, im Gegenteil, allen Fährnissen eines noch ungewissen Schicksals zum Trotz würde ich mich immer, unter dem Schutz des Verfassungseids, an der Seite derer finden, die Recht behielten, indem sie ruhig und gewissenhaft ihre Pflicht taten, und die Verwirrungen, denen mein Großvater in einem vergleichbaren Alter ausgesetzt war, würden für mich bloß die pragmatische Gestalt eines Paragrafen in der Dienstvorschrift annehmen, in der diese Fälle alle vorgesehen waren und ihre Lösung gleich dazu. Ich war meinem Vater wegen seiner weisen und liebevollen Voraussicht sehr dankbar, und als der Tag kam, an dem mich mein Amtsvorstand zu sich in s Zimmer rief und mir in einer kurzen aber würdevollen Ansprache mitteilte, mein Gesuch um definitive und unkündbare Anstellung sei positiv entschieden, mir dann den Eid abnahm und mich an die Dienstpflichten erinnerte, wobei er sagte, diese Erinnerung sei im Grunde hinfällig, denn selten hätte er einen so gewissenhaften Beamten wie mich erlebt, hätte ich vor Rührung fast geweint. Es war einer der schönsten Tage eines Lebens, das, wie ich Gott dankend sagen muss, mich verschonte, wo es nur ging. Ich blieb immer in sicherer Stellung, hatte mein Auskommen und eine vorgezeichnete Laufbahn, in der ich weder zurückblieb noch irgendeine Stufe verdächtigerweise zu früh erklomm, nahm den etwas frühen Tod meiner Großmutter mit Tränen, den zeitgemäßen Tod meiner Eltern mit der gebührenden Trauer hin und bewegte mich in einem erfüllten Leben mit der gemessenen Ruhe eines reifen Mannes auf den Ruhestand zu.

Einzig das Verschwinden meines Großvaters warf einen kleinen Schatten auf das weiße Tuch unserer Saga, und es mag der Vorsehung zum Lob gereichen, es so eingerichtet zu haben, dass die Lösung dieses Rätsels sich erst nach dem Tod meiner Eltern vollzog. Als meine Großmutter gestorben war, mieteten meine Eltern eine Zugehfrau, die darauf zu achten hatte, dass es meinem Großvater an nichts fehlen sollte. Sie hielt, obwohl alte Menschen bekanntlich für ihre Umwelt manchmal anstrengend werden können, und mein Großvater war ein eigenwilliger, schwerer Charakter, drei Jahre bei ihm aus und hätte noch länger ausgehalten, wäre er nicht eines Tages verschwunden gewesen. Sie wartete entsprechend ihrem dickflüssigen Blut eine Nacht, einen Tag und wieder eine Nacht, verständigte dann erst meine Eltern, blieb bis zum Ende des laufenden Monats und ließ sich dann auszahlen. Meine Eltern leiteten die notwendigen Nachforschungen ein. Ich will hier gar nicht nachzeichnen, was an Trauer, Hoffnung und Mutmaßungen meine Familie erschütterte, welche Überlegungen, Schlüsse und Theorien der Reihe nach verworfen wurden, ich will auch nicht weiter darauf eingehen, in welches Unglück mein Vater meine Mutter stürzte, als er einen stadtbekannten Wahrsager, einen gerichtsnotorischen Lügner, eine Kartenleserin und einen ewig betrunkenen Zigeuner bei sich aufnahm, nur um das Ausbleiben meines Großvaters auf irgendwelche Weise aufzuklären.

Schließlich musste man sich mit der bitteren Wahrheit abfinden, meinen Vater entmündigen, meinen Großvater aufgeben und dem Klatsch der Nachbarn durch den Umzug in ein anderes Viertel vorbeugen. Meine Mutter begann meinen Großvater zu hassen und sein Andenken zu besudeln, mein Vater verkroch sich weiter in seinem Wahnsinn, vergreiste und wurde weinerlich und kindisch, und ich machte einen letzten Versuch, die Dinge einigermaßen in s Lot zu bringen, indem ich meine Versetzung zum zentralen Meldeamt betrieb, in der Hoffnung, über diese staatliche Stelle etwas über den Verbleib des unglückseligen Großvaters zu erfahren. Doch mein Vater hatte jede Hoffnung und sich selbst aufgegeben, und als ich endlich alle Papiere geschrieben, mit der vorgeschriebenen Anzahl von Stempelmarken versehen, dem Gewerkschaftsfunktionär vom Vertrauensleuteausschuss mein Gesuch um Versetzung plausibel gemacht hatte, wobei ich mich verpflichtete, einen Urlaub im gewerkschaftseigenen Reisebüro zu buchen, und in der Folge mein Gesuch von der Arbeitnehmervertretung befürwortet wurde, in der Direktion von beinahe den selben Leuten, diesmal unter staatlichem Titel, bearbeitet worden war und nun die Form eines positiven Bescheids angenommen hatte, ich also endlich einen anderen Schreibtisch bekommen und mich soweit eingearbeitet hatte, um daran gehen zu können, die Meldeakten der letzten zweieinhalb Jahre durchzusehen, lehnte sich mein Vater in seinem Fauteuil, in dem er gehalten wurde, zurück, sagte: „Ich bin doch nicht blöd“, und starb.

Meiner Mutter verbarg ich meine Nachforschungen, um ihre ungesunden Gemütsbewegungen, hervorgerufen durch ihren jählings entfachten Hass, nicht weiter anzuheizen. Nach einer für meine Begriffe zu kurzen Zeit der Trauer legte sie mit der schwarzen Witwenkleidung auch ihre alten Bindungen und Gewohnheiten ab, lernte in kürzester Zeit Bridge und dazu nahezu alle Patiencen – dies allerdings, wie sie erklärte, nur zur Übung – und wurde eine bis zu ihrem Tod in ihrer Altersklasse gefeierte Schönheit, die ihre Einkünfte aus Pensionen und Erbschaften durch Kartenspielen vermehrte, ohne sich dabei mehr zu gönnen als das notwendigste make up und die unerlässliche Kleidung für Fünfuhrtee und Spielabend. In dieser Phase ihres Lebens sah ich sie nur noch selten, das letzte Mal bei ihrem Begräbnis, und immer sagte sie mir, dass die Bäder und Kurorte nicht mehr so waren wie früher, was mich umso mehr wunderte, als sie sie früher nicht gekannt hatte, aber das spielte keine Rolle, wie ich auf ihrem Leichenbegängnis erfahren konnte, wo der Sarg von einigen gleichaltrigen Epigoninnen und manch zehn Jahre jüngerem Bewunderer, Liebhaber und Eintänzer begleitet wurde, und alle murmelten sie unter schlecht geweinten Tränen, dass die Bäder und Kurorte nicht mehr so wären wie früher.

Ich rückte im Amt immer weiter vor und hatte knapp vor meiner vorgesehenen Ernennung zum Amststellenleiter, wenn ich richtig gerechnet hatte, nur noch vier Jahre bis zu meiner Pensionierung. Ich hatte in der letzten Zeit meine Nachforschungen nur noch routiniert und oberflächlich betrieben, gerade genug, um nicht im Amt auf mich aufmerksam zu machen und mich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, und gerade genug, um mein Gewissen zu beruhigen. Meine Mutter hatte ja die Sache seit dem Abbruch der Trauerzeit überhaupt nicht mehr weiterverfolgt und so lag alle Verantwortung in dieser leidigen Affäre schon vor ihrem Tod nur noch bei mir. Oft schon hatte ich mir überlegt, ob ich meinen Großvater nicht von Amts wegen für tot erklären lassen sollte, aber ein sonderbarer Instinkt, gepaart mit Scheu und Ehrfurcht, ließ mich von diesem letzten Schritt Abstand nehmen. Wiewohl ich auch wissen musste, dass hier ein eindeutiger Verstoß gegen die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen vorlag, ebenso wie ein Verstoß gegen die Dienstpragmatik, hielt ich mir auch nach dieser langen Zeit noch immer das Recht des Zweifelns zugute und verschloss die Augen davor, dass diese eigenwillige extensive Auslegung der Vorschriften wohl nicht sehr überzeugend war.

Mit dieser Gewissensbürde beladen tat ich meinen Dienst, wohl wissend, dass die ganze Familientragödie so weit nur irgend möglich geheim gehalten war, dass wo kein Kläger kein Richter, dass mir also niemand mein Fehlverhalten als Amststellenleiter des Meldeamts zum Vorwurf machen könnte, außer den Akten, die mir manchmal bedrohlich genug erschienen und mich auf meinen Lapsus auf Grund ihrer himmelschreienden Unvollständigkeit hinwiesen. Es war mein Großvater selbst, der mich nach und nach aus diesem Konflikt befreite.

Etwa zwei Monate vor meiner turnusmäßigen Pensionierung brachte mir ein Konzipient einen Antrag auf Namensänderung, der ihm sonderbar erschien. Das Geburtsdatum stammte aus dem vorigen Jahrhundert, und mein Mitarbeiter interpretierte die Angelegenheit so, dass sich jemand einen üblen Scherz erlaubt hätte. Ich las das Gesuch durch, das Gesuch eines gewissen Eugen Barta, und reagierte instinktiv. „Das erledigen wir ganz unbürokratisch“, sagte ich, blinzelte dem Konzipienten vielsagend zu, zog jovial die Mundwinkel hoch, um ihn zum Lachen zu ermuntern, und warf das Gesuch in den Papierkorb. Mein Untergebener lachte pflichtschuldigst, um nicht meinen Unmut auf sich zu laden, und ging. Den Antrag nahm ich in meiner Aktentasche nach Hause nebst den notwendigen Beantwortungsformularen und den Stempeln. Ich spürte noch lange das Gefühl des Unrechtmäßigen, das mich erfasste, als ich mit meiner bedeutungsschweren illegalen Aktentasche am Portier vorbei das Gebäude verließ, war es doch nie vorgekommen, dass ich auch nur das kleinste Stückchen Papier oder den abgeschriebensten Bleistiftstummel aus dem Amt zu mir nach Hause getragen hätte.

Zu Hause bearbeitete ich den Antrag, fälschte einen Poststempel, um den Bescheid auf Stattgabe der Namensänderung selbst unauffällig zustellen zu können, schlief unruhig und war tags darauf der erste im Amt, um die entwendeten Utensilien wieder an ihren Platz zu bringen. Nachmittags meldete ich mich krank und blieb es bis zu meiner Pensionierung, ein Verfahren, das nicht weiter auffiel, weil es usus war, dem Gesuch um Versetzung in den Ruhestand durch eine längere Krankheit Gewicht zu verleihen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte ich aufgehört, mich als Beamter zu fühlen. Alles, was ich in Hinkunft unternahm, diente nur noch dazu, Licht in s Schicksal meines Großvaters zu bringen. Nachmittags zu Hause überprüfte ich noch einmal den Antrag, den Bescheid und den gefälschten Poststempel. Der Antrag schien mir echt. Der Name Eugen Barta stimmte mit den persönlichen Daten überein, die Unterschrift war ebenso korrekt. wie das Geburtsdatum. Mein Großvater musste zwar steinalt  sein, aber den Gedanken an einen Scherz oder Spott, den irgend jemand mit dem Schicksal meiner Familie getrieben haben könnte, wies ich von mir. Mein Großvater begründete den Antrag auf Namensänderung mit familiären Schwierigkeiten und der Notwendigkeit, durch eine Ordnung seiner Verhältnisse in den Genuss einer Sozialrente zu kommen. Auch das sprach für die Richtigkeit und Leibhaftigkeit meines Großvaters. Den Bescheid hatte ich korrekt ausgefüllt und wollte ihn selbst zustellen. Die entsprechenden Aktenvermerke in meinem gewesenen Amt waren so angebracht, dass alles seine Ordnung hatte. Die Paraphe des vorgeblichen Bearbeiters war so gefälscht, dass sie auf fast alle meine Mitarbeiter passen konnte, die beste Möglichkeit, den Weg einer Akte unverfolgbar zu machen. Eine einzige Nachlässigkeit fiel mir auf. Ich wusste nicht, wann die Post an der angegebenen Adresse zugestellt wurde, noch, ob mein Großvater den Briefträger erwartete, um persönlich seine Korrespondenz in Empfang zu nehmen, oder ob er irgendwann seinen Briefkasten untertags leerte. Das allzu schnelle Anbringen eines Poststempels mit Datum erschien mir im Nachhinein als Fehler, insofern ich erst hätte die Lebensumstände meines Großvaters erkunden müssen. Aber die nächsten Tage beruhigten mich. Ich konnte mir auch eingestehen, dass es mir mehr um meinen Großvater ging als um seine Namensänderung, und mein heimlicher Verstoß gegen die Dienstvorschrift hing mehr mit meiner Neugierde zusammen, die plötzlich aus ihrem Schlummer geweckt worden war und knapp vor ihrer Befriedigung stand. Ich hätte meine Nachforschungen auf jeden Fall begonnen und nur die von mir hinterlassenen impulsiv gefäIschten Aktenvermerke drängten mir eine Ordnung auf, in der ich meine Recherchen einleiten musste.

Ich fand mich also tags darauf in der Nähe der Adresse ein. Eine Kindheitserinnerung tauchte in mir auf, denn es handelte sich um ein ähnliches Viertel wie das, in das mich mein Großvater geführt hatte, als sie die neue Maschine aufstellten, die damals Tagesgespräch, heute aber alles andere als neu war. Das Viertel, in dem ich mich nun bewegte, war auch nicht allzu weit von der Fabrik entfernt, in der mein Großvater als Geschäftsführer mit Direktorengehalt und Leiter des Werkschutzes gearbeitet hatte. Nur dass hier einfache Wohnhäuser mit lieblos niedergetretenen Rasenflächen und kleinen mühsam gepflegten und eingehegten Blumenrabatten gegenüber den Industriebauten überwogen. Ich lungerte in der Nähe eines Hauses herum, das wohl die Wohnung meines Großvaters beinhalten musste, wagte aber erst nach einigen Stunden hineinzugehen. Ich fand auch richtig die Türnummer im bezeichneten Geschoß und wurde in meiner Meinung, am richtigen Ort zu sein, durch den Umstand bestärkt, weder Namensschild noch Visitenkarte oder ähnliches an der Tür zu finden. Ich stahl mich wieder aus dem Haus und trieb mich weiter in der Nähe herum, ohne feststellen zu können, ob und wann Post zugestellt würde, und ohne meinen Großvater zu sehen.

Anderentags kam ich schon zeitig in der Früh, rechtzeitig genug, um zu erfahren, dass der Briefträger um etwa sieben Uhr seine Runde just in der Siedlung aufnahm. Bei meinem Großvater musste er schon gewesen sein, denn ich traf ihn am unteren Ende der schmutzigen Häuseransammlung und überlegte, wie lange es her sein mochte, dass er im Haus gewesen war, in dem mein Großvater wohnen musste. Ich versuchte, seinen Weg zu rekonstruieren, ging zwischen großen staubigen Rasenstücken von Haus zu Haus, blieb vor jedem stehen, etwa die Zeit, die der Zusteller brauchte, um alle Stockwerke zu bedienen, aber nach dem vierten Haus sprach mich eine Frau an, die mich offenbar schon längere Zeit beobachtet hatte. Mein erster Impuls war zu fliehen, nota bene ich den verräterischen Bescheid in der Innentasche meines Sakkos trug, und das pikante Gefühl von etwas, das von Amts wegen nicht korrekt war, hatte mich noch nicht verlassen. Aber ewig konnte ich hier nicht herumschleichen, und so fragte ich kurz entschlossen nach Eugen Barta, wobei ich meinen amtlichen Tonfall hervorholen musste und erstaunt merkte, wie schnell er mir abhanden gekommen war, sei es durch den kleinen Unterschleif einer privaten Regelung behördlicher Angelegenheit, sei es durch die nahe bevorstehende Pensionierung.

„Ach, der Barta“, sagte die Frau, noch eine Spur misstrauischer. „Was wollen Sie denn von dem?“

Aber mittlerweile war mein Tonfall wieder so, wie er sein sollte, und auf mein Insistieren erhielt ich die gewünschte Antwort, dass er dort wohne, wo ich es vermutet hatte, erfuhr einiges mehr, wonach ich nicht gefragt hatte, und schickte sie weg, als sie mich den Weg zum bezeichneten Haus begleiten wollte, schickte sie weg wie aus meinem Büro, bald wieder jeder Zoll ein Herr. So gestärkt betrat ich zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden den Flur vor der Wohnungstür meines Großvaters.

Es fällt mir dabei schwer, die weitere Geschichte zu erzählen, gar nicht so sehr wegen verschiedener unglaublicher Elemente, wie etwa dem hohen Alter meines Groß­vaters (er zählte dann wohl mehr als hundert Lenze und für ihn waren es wohl Lenze gewesen). Im Gegenteil, er sollte noch älter werden, wir vergreisten beide zum gleichen Zeitpunkt, es war, als hätte ich seine Entwicklung eingeholt. Zwar be­nützte er dann später einen Rollstuhl, den ich schob, aber damals er erkannte mich beim ersten Zusammentreffen wieder, rüstiger noch als später, als wir wieder zusammen waren, er nahm auch sofort seine Gewohnheit aus meinen Kindertagen wieder auf, mit mir regelmäßig auszugehen, wobei er mich wie ehedem an seinen Stimmungen auf humorvolle, herrschaftlich großzügige Weise und seinem ewigen „Verstehst Du“ teilnehmen ließ, aber er sprach mich nicht mehr italienisch an. Doch dieser sonderbare Lebensabend, den wir gemeinsam verbringen durften und der uns der Welt um uns entzog, ist weniger das, was mir schwer fällt, jetzt darzustellen, sondern wie es dazu gekommen ist.

Oft denke ich darüber nach, was in den wenigen Tagen zwischen der kurzen Zeit vor meiner Pensionierung und dem ersten Zusammentreffen mit meinem Großvater nach so langer Zeit der familialen Verschollenheit mit mir vor sich gegangen ist. Ich glaube, ich habe ausführlich genug meine Gewissensbisse geschildert, die mich plagten, als ich gegen jede Vorschrift meinen Großvater nicht für tot erklären ließ und später seinen Akt an mich nahm unter einer, wie mir schien, verantwortungslosen Umgehung des Amtsweges. Heute hingegen erscheint mir mein Beamtentum gerade dadurch geadelt, weil ich durch diese willkürlichen Handlungen neben die Dienstpragmatik die eigenmächtige Erhaltung eben dieser Welt und dieser Menschen stellte, die einen Staat mit seinen Bürokraten – und dieses Wort meine ich in seinem besten positivsten Sinn – hervorgebracht und zu erhalten verstanden hatten. Ich glaube, dass dieser für mich neue Stolz seinen Anfang genommen hatte genau zu dem Zeitpunkt, als ich meine Recherchen abschloss, mich einer Concierge, einer Portiersfrau, einer Hausmeisterin verdächtig gemacht hatte und diesen erbärmlichen Zustand überwunden hatte, jeder Zoll ein Herr, mir eigene Würde selbst erworben, nicht verliehen bekommen hatte, und an der Tür meines Großvaters läutete.

Während ich das aufschreibe, ist es für mich gar kein Zufall mehr, dass er just damals nicht zu Hause war. Dieses retardierende Element, das sich auch so harmonisch in den Erzählfluss einpasst, gab mir nämlich die Gelegenheit, dieses neu gewonnene Selbstvertrauen an Ort und Stelle noch einmal zu überprüfen, und nach einer neuerlichen Bestätigung konnte ich auch meinem Großvater gegenübertreten in der kleinen schummrigen Wirtschaft mitten in dieser regellos angewürfelten Häufung von zweigeschoßigen altertümlichen Wohnhäusern, in dieser Wirtschaft, in der Arbeitslose und Rentner, Krüppel und das Gesindel aus der Fabrik ihre Mahlzeiten und Räusche einnahmen, in der Prostituierte den ganzen Tag über saßen, die dafür berühmt waren, dass ihre Freundlichkeit und ihr Entgegenkommen vollkommen natürlich und ehrlich waren, denn ihre Kunden waren ihresgleichen, vom gleichen groben Körperbau, den dauernder leichter Alkoholgenuss mitgestaltet hatte, vom selben undefinierbaren ewig gleichen Alter, und ihre Küsse und ihr Beischlaf waren echt, und sie wurden mit Mahlzeiten und dem Erhalt ihrer kleinen Wohnungen abgegolten.

Und diese Kaschemme betrat ich mit düsterer wichtiger Miene, setzte mich in die Mitte des Raumes, rief die Leute einzeln an meinen Tisch, um sie über Herrn Eugen Barta auszufragen, um etwas über die letzten Jahrzehnte meines Großvaters zu erfahren, was ich gleich wieder vergaß, denn er würde es mir authentischer, richtiger, freundlicher, humorvoller erzählen, ich wollte nur den Genuss erleben, allein durch mein Auftreten, durch mein Gehabe, meine Stimme, meinen Blick andere dazu zu bringen, Dinge zu sagen, die sie sonst für sich zu behalten pflegen, und es war mir gleich, ob sie mich für einen von der Steuer hielten, vom Meldeamt, von der Staatspolizei, vom Sozialministerium, ich wollte sie nur reden hören, ich brachte sie zum Reden, ich, trotz meiner kleinen Unkorrektheit, die jetzt schon exkulpiert und entschuldigt war, ich, noch immer ein Herr, ein Bürokrat, ein Beherrscher, ein Mann vom Staat.

Und mitten in dieses Vergnügen platzte mein Großvater, zwar alt, gebrechlich, mit zwei Stöcken, aber noch immer mit der Fähigkeit versehen, sich gerade zu halten und die Unterhaltung an sich zu ziehen, und alle, die ich befragte, schlichen von meinem Tisch zurück, weil sie instinktiv fühlten, hier hatten sich zwei Große getroffen, und sie murmelten nur leise hinter ihren Biergläsern und warfen uns scheue Blicke zu, als ich das Dokument aus meiner Brusttasche zog, den Umschlag mit dem falschen Poststempel abnahm und es ihm reichte. Und mein Großvater war von solcher feinen Höflichkeit, den Bescheid unbesehen und ungelesen in die Innenseite seines Sakkos zu stecken und sich statt dessen freundlich und korrekt und schmunzelnd mit mir zu beschäftigen, denn er hatte mich gleich erkannt.

Wir trafen uns ab dann regelmäßig alle zwei bis drei Tage. Nie war die Rede darauf gekommnen, warum uns mein Großvater vor so langer Zeit spurlos verlassen hatte, er sprach nicht davon, und ich fragte nicht danach, erkannte ich doch sofort die Größe seiner selbst gestellten Aufgabe. Und nachdem mein Großvater die letzten Reste seiner alten Existenz aufgegeben hatte und seine neue angenommen und mit mir wieder zusammen war, konnte er sich ohne Beschwernis ganz dem weiteren Schicksal der Maschine widmen. Er gab seine Wohnung auf, bezog eine neue schräg gegenüber der Fabrik, drei Häuserblöcke weiter, ordnete alle durch sein plötzliches Verschwinden ungeordnet gebliebenen Verhältnisse, wodurch ich in den Genuss verschiedener Erbschaften und Legate kam, die er mir großzügig überließ, denn er beanspruchte, wie er es in seinem Antrag geschrieben hatte, nicht mehr als eine Sozialrente, was mich in die Lage versetzte, meinem Großvater einen Rollstuhl und mir einen Wagen mit Chauffeur zu beschaffen, wobei sich der Chauffeur, den ich langen genauen Prüfungen unterzogen hatte, auch um meinen Großvater kümmern musste, was ihn weiters vor keine großen Probleme stellte, da mein Großvater seinen Beobachtungsposten am Wohnzimmerfenster kaum mehr aufgab.

Bei einem meiner ersten Besuche in seiner neuen Wohnung, anderthalb Wochen nach unserem Wiedersehen, erzählte mir mein Großvater das Schicksal der neuen Maschine. Er führte mich an s Fenster und zeigte mir die Fabrik. Die alte Umfassungsmauer aus dem ältesten Gebäudekomplex stand noch immer, ebenso das alte Fabriksgebäude. Das Verwaltungsgebäude war abgetragen worden, die Maschine litt unter Krebs und Wucherungen, war gewachsen, hatte sich am Boden ausgebreitet, überdeckt von Fertigteilbauten, war über den hinteren Teil der Umfassungsmauer gekrochen, streckte sich in die benachbarten Grundstücke, war von Latrinen, Duschen, Umkleidekabinen und Tischtennistischen umgeben und trug das alte Fabriksgebäude wie eine Narbe auf dem Rücken.

Mein Großvater erzählte mir jedes einzelne Wachstumsstadium, „Verstehst Du“, wusste Bescheid über jede einzelne Schraube, knüpfte unzählige Arbeiterschicksale und Erwerbslosigkeiten an jeden Entwicklungssprung, stellte Korrelationen her zwischen Wirtschaftskrisen und Maschinenleben, sprach den ganzen Vormittag und fragte mich am Ende seiner Ausführungen, warum ich nicht geheiratet hatte, was mich zunächst verblüffte, da ich mir nie Rechenschaft darüber abgelegt hatte, aber ich gewöhnte mich an diese Frage nach Maßgabe der Häufigkeit, mit der er sie stellte. Meine Tage mit meinem Großvater verliefen in wiederkehrender Gleichförmigkeit, nur dass wir uns immer öfter trafen, bis ich den Chauffeur von den Diensten an meinem Großvater ganz entbinden konnte.

Ich kam nun bald jeden Tag zu ihm, von Sonntagen abgesehen, da sonntags in der Fabrik nicht gearbeitet wurde. Wir tranken Tee und manchmal Likör und Wein, was ich aus einem Delikatessenladen der Stadt mitbrachte, dann bestieg mein Großvater den Rollstuhl, ich schob ihn zum Fabrikstor, sommers um das ganze Areal, im Winter auf kurzem Weg wieder zurück in die Wohnung, während er von der Maschine sprach und mich jedes Mal am Ende unseres Wegs fragte, warum ich Junggeselle geblieben war.

Als sie die Fabrik dann stilllegten, lehnte sich mein Großvater im Rollstuhl zurück und war auf eine sonderbare Weise befriedigt. Mir fiel sein Ausruf ein, bösartig und trotzig, in einer Stimmlage, die ich bei ihm nur sehr selten bemerkte, damals, als sie die Maschine das erste Mal aufgestellt hatten, als ich noch ein Kind war, und mein Großvater gesagt hatte: „Das schau ich mir noch an, was daraus wird.“ Und seit einem halben Jahr hatte mein Großvater prophezeit, dass es bergab ginge. Sie hatten im gleichen Produktionszweig am anderer Ende der Stadt einen neuen Betrieb hingestellt und ließen die alte Fabrik, wie sie war. Wir standen am Fenster und starrten hinunter, lange Tage, auf das zerfallende Gemäuer, auf die Mischung von Ziegelstaub und Rost, auf das damit verbundene Überhandnehmen der roten Farbe, auf das verrammelte Fabrikstor, das mit der Zeit dem Ansturm des Wetters und des jugendlichen Vandalismus nachgab, auf die Kinder und Halbstarken, die die Gebäude benutzten und selbst in den Installationsrohren Plätze für ihre Orgien einrichteten, mein Großvater erzählte währenddessen, wie es früher war, als die Arbeiter noch unter seiner Aufsicht standen und er bewaffnet die Montageabteilung besichtigte, „das waren noch persönliche Verhältnisse, verstehst Du, die Arbeiter haben gewusst, wer sie kontrolliert, da waren noch Beziehungen, aber heute ist alles maschinell, das ist menschenunwürdig, verstehst Du, auch die maschinelle Überwachung, nichts als Bildschirme, ich hatte eine Pistole dabei und einen Stock hatte ich, einen Stock, ich hätte in meiner Position auch in Zivil gehen können, aber so war es persönlicher, verstehst Du, die Arbeiter wollen wissen, wer sie zum Arbeiten anhält“, und als das Fabrikstor so weit zerfallen war, dass der Rollstuhl ohne Schwierigkeiten durchgeschoben werden konnte, äußerte mein Großvater den Wunsch, noch einmal die Fabrik zu besichtigen, und ich schob ihn hin und es war das Chaos, das ganze Areal war mit Schutt und Abfall aus Industrie und Jugendverwahrlosung übersät, die Wände mit lasterhaften Sprüchen voll gepinselt, und als  der erste Halbstarke auftauchte, traten wir den Rückzug an, verfolgt von obszönen Schreien, und der Schutt flog uns nach, und zwei Greise verließen eine Welt, die sie nicht mehr verstanden, und mein Großvater fragte unablässig, warum ich nicht geheiratet hatte.