© Gerold Wallner

Wunder

Es gibt in Italien Kirchen, in denen den Gläubigen, aber auch dem touristischen Besuchsvolk ein Wunder dargeboten wird. Meist ist es nur dem aufmerksamen Blick zugänglich, es ist oft in einer Nische gleich beim Eingang versteckt oder in der Nähe der Sakristei, nur durch handschriftliche Hinweise auf von Amateuren gefertigten Pappkartons zu sehen, und es drängt sich nicht auf. Im Gegenteil bekommen wir den Eindruck, dass Priester und Pfarrgemeinde gar nicht so sehr darauf erpicht sind, das Wunder öffentlich zugänglich zu machen, und nur weil es sich wirklich zugetragen hat, bekennt sich die Gemeinde verschämt dazu.

Da sind Bilder zu finden, undeutliche Reproduktionen von Photographien oder Gemälden aus vergangenen Zeiten, von Kriegen, Feuersbrünsten, Seuchen, Katastrophen und den darin vorgefundenen Befreiungen, Heilungen, Rettungen. Und irgendwo ist auch der ausgestreckte Arm des Kruzifix, von einer Fliegerbombe oder einer Kanonenkugel getroffen, vom Altar in s Kircheninnere geworfen, und während der Bau in sich zusammenstürzte, legte sich der Gekreuzigte über den Priester, Mesner, Täufling und bewahrte ihn davor, von einem herabfallenden Träger erschlagen zu werden, und der Granatsplitter steckt noch immer im heiligen Glied. Diese Wunder sind Gegenstand lokaler Verehrung, von keiner der hierarchischen Stellen der kirchlichen Obrigkeit anerkannt und von ihnen misstrauischer betrachtet und mehr belacht als von den kritischen Ungläubigen.

Von so einem Wunder, einer Geschichte, die sich unzweifelhaft zugetragen hat, will ich berichten. Ich tue es so, wie die Kirchen in Italien es tun, ohne großen Aufhebens, einfach weil es geschehen ist, mit gebührendem zeitlichem Abstand und mit ruhiger, unaufdringlicher Zeugenschaft. Und wie immer bei Wundern handelt es sich um eine Rettung aus höchster Not. Heute kann ich in Ruhe meinen Bericht abliefern; die Zeit hat das Ihre dazu getan, das Skandalöse aus den Vorfällen damals zu entfernen, wir sprechen kaum mehr davon, und von den Jungen kann sich ohnehin keins mehr erinnern. Außerdem sind die Beteiligten tot außer dem alten Priester, und dass der nicht mehr reden wird, steht fest. Gegenüber dem Wunder verhält er sich als Vertreter des Apostolischen Stuhls, also schweigt er.1 Der Polizist hat schon viel früher aufgehört, nachzudenken. Verschwiegen war er einerseits von Berufs wegen, andrerseits weil ihm niemand geglaubt hätte – oder geglaubt hat, was der Grund für seine Versetzung in den Ruhestand war, den er übrigens genossen hat, wenn auch in Einsamkeit. Ich habe keinerlei Anstalten gemacht, ihn darin zu stören. Nur hin und wieder, wenn er, was selten genug vorkam, betrunken gewesen sein sollte, und wirklich betrunken war er nie, eher trinkfest, und es geschah auch nicht oft, dass er seine Standfestigkeit unter Beweis stellte, erging er sich in Andeutungen, die eine schwer verhehlte Wut sichtbar werden ließen. Aber auch er ist tot, und manche sagen, er starb an gebrochenem Herzen, weil ihm kein Glauben geschenkt, die Affaire vertuscht und die Angelegenheit der Vergessenheit anheim gestellt wurde.

Der Bürgermeister ist auch tot. Kein Wunder, war er doch das erste – und vom gesetzlichen Standpunkt aus betrachtet – das einzige Opfer, wenigstens das, das gewaltsam um sein Leben kam. Die, die dafür der Verantwortung geziehen worden waren, sind, selbst wenn sie noch leben, aus unsrer Welt verschwunden. Sein Nachfolger hat mehr damit zu tun, die Geschäfte der Stadt in Gang zu halten, ohne sich wirklich um Wesentliches zu kümmern. Er beklagt, dass er diesen Posten nie angestrebt habe, dass diese Aufgabe ihm das Mark aus den Knochen sauge, dass alles ungeheuer kompliziert wäre, die Wirtschaft, die Arbeitslosen, die Sachzwänge, dazu käme, dass die Partei und die Leute überhaupt ihn nicht unterstützen, auf nichts und niemand wäre Verlass. Ja früher hätte es nur einer Unterschrift bedurft, und gewisse Dinge wäre in s Reine gebracht worden: der eine Wohnung, dem ein Arbeitsplatz und zwei verlässliche Stimmen bei der Wahl. Jetzt sagt der Betriebsrat, den wollen wir nicht, oder schlimmer noch, er sagt sogar nicht einmal, wollen wir den oder doch nicht, er sagt, mit der Unternehmensleitung wäre abgestimmt, keine Neuaufnahmen vorzunehmen, und die Unternehmensleitung ist aber doch von der eigenen Partei mit den eigenen Leuten besetzt worden. Genauso sieht es im Wohnbau aus, oder versuch, deiner Nichte einen Kindergartenplatz zu beschaffen; abgesehen davon, dass der Kindergarten ohnehin bald geschlossen wird. So ist es auch kein Wunder, wenn der aktuelle Bürgermeister immer grauer und griesgrämiger wird, immer weniger in der Öffentlichkeit bemerkt wird, sich immer weniger Leute an ihn wenden, er immer weniger Leute erreicht.

Ich will damit nicht sagen, dass der alte Bürgermeister unserer Stadt, der der jetzt tot ist, beliebter gewesen war. Und auch dass er mit zwei Schüssen aus einer kleinkalibrigen Handfeuerwaffe getötet wurde, deutet nicht auf übermäßige Popularität hin. Dennoch glaube ich, dass, ereilte seinen Nachfolger ein gleiches Schicksal, die Empörung, die Betroffenheit, der Rumor nicht so eklatant wie damals sein würde. Heute würden die Leute schnell zur Tagesordnung übergehen, ja, fast scheint es mir, als wäre so ein unrühmliches Ende einer politischen Laufbahn im Bewusstsein, in der Erwartung der Menschen nichts Besonderes, würde eher passend sein. Um es deutlich zu machen: Was damals die Leute erschreckte, war, dass die Ermordung nicht comme il faut war; heute wäre sie es. Aus meiner Tätigkeit als Journalist weiß ich, wie die Leute denken. Ich bin sicher, dass damals die Schadenfreude, das klammheimliche Goutieren, die Lust am Schauder sicher stark genug war, um das auszulösen, was als Betroffenheit der Bevölkerung auch in meiner Zeitung dargestellt wurde. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das heute noch mehr als eine Schlagzeile wert wäre.

Natürlich würde unsere Schlagzeile auch heute mit der Betroffenheit und dem Choque aufmachen. Das verlangt das Berufsethos, das wollen die Sitten. Aber wir würden dabei die Schadenfreude aussprechen – offen, nicht einmal zwischen den Zeilen. Damals wurde die Schadenfreude unterdrückt, wohl auch deshalb, weil sie ein Gefühl war, das keins von uns wirklich wahrhaben wollte. Dieses Raisonnement  wurde versteckt hinter einer humanen Rationalität, die sich die Frage nach dem Warum des Mordes stellte, so als gäbe es etwas zu begreifen an den Mordgesellen, wie eben auch ein Gericht mildernde Umstände oder überhaupt nur Umstände sucht, wie ein Kriminalist glaubt, ein Geständnis nur dann gültig zu bekommen, wenn der Delinquent seine Beweggründe preisgibt, erleichtert den persönlichen Kontakt mit seinem Verfolger herstellt, in  ihm den Beichtiger sieht und um Absolution fleht. Ich glaube nicht, dass diese Sicht auf die Dinge der Welt heute noch verfängt. Es würde im gegenständlichen Fall einfach ein Böses akzeptiert werden, dem wir nicht zugehören.

Monsignore hatte diese Sicht nie. Weder damals noch heute hatte er sich der allgemeinen Rationalität ergeben. Der Hofrat war damit nie zu Rande gekommen. Zwar hatte er Monsignore durchschaut, konnte ihm seine nachträglichen Verwicklungen wenn nicht nachweisen so doch behaupten. Monsignore hatte aber die Zeit Gottes und den Einfluss des Heiligen Stuhls auf seiner Seite. Der Hofrat hingegen war Beamter.

Sie werden verzeihen, dass ich mich noch immer in der Einleitung aufhalte. Ich brauche, selbst, nachdem so viel Zeit vergangen ist – wir beinahe in ein neues Zeitalter eingetreten sind, die Ereignisse liegen bald zwanzig Jahre zurück, der neue Bürgermeister ist längst ein alter, der nur durch eine Änderung der Wahlordnung noch immer im Amt ist, eine Änderung, die leicht das qualifizierte Quorum in der Stadtverwaltung und dann in der Landesgesetzgebung erreichte, weil klar war, dass es keinen anderen Nachfolger gegeben hätte und wenn doch, dann keinen besseren und vor allem keinen willigen –, Zeit, mich wieder zu besinnen.

Aber ich werde bald auf das Wesentliche – auf das Wunder – zu sprechen kommen; das  verspreche ich. Was also geschehen ist, war, dass unsere kleine Stadt ein ST verliehen bekam. Böse Zungen sprachen damals, als Wortspiele noch als Ausdruck intellektuellen Vermögens galten, von Ästhetisierung. Der Hintergrund war einfach. Der Heilige Vater aus Rom hatte unser Land besucht, seine Messen abgehalten, wo er willkommen war oder sich angesagt hatte. Unter anderem hatte er auch unsere Stadt besucht und sie der Heiligen Mutter Gottes in einer feierlichen Zeremonie geweiht. In der Folge wurde im Stadtrat der Antrag gestellt, die Stadt derart umzubenennen, dass dem Namen des Schutzpatrons, der mit dem Namen der Stadt identisch war, endlich ein St. vorangestellt werden sollte. So sollte der heilsgeschichtliche und geschichtliche Charakter der Stadt überhaupt betont werden. Was noch dazu kam, war, dass der Heilige Vater in einer in dem Besuch und der Weihung der Stadt enthaltenen Feierlichkeit gleichzeitig einen Toten heilig sprach, der den Namen von Stadt und Stadtpatron trug.

Ganz zufällig war es nicht zu dieser Namensgleichheit gekommen. Sie verdankte sich vielmehr dem alten Brauch, unehelich geborenen Kindern am Tag der Taufe den Namenstag aus dem Heiligenkalender zu geben. So war es auch bei Pankraz Koblinger geschehen, der am Namenstag des Stadtpatrons getauft worden war. Er war ein lediges Kind gewesen, das aber in der Schule durch seine Intelligenz und Fügsamkeit auf sich aufmerksam gemacht hatte. Lehrer und Pfarrer protegierten ihn und er kam auf s Priesterseminar. In der ersten Republik fiel er durch Loyalität zum Bundeskanzler und durch ausgeprägten Konservativismus auf. Im Krieg predigte er gegen die Politik des Regimes. Das ließ man ihm durchgehen, um ein Ventil für die Unzufriedenen zu schaffen. Als seine Predigten sich mehr gegen die Partei zu richten begannen, als an die Stelle einer allgemeinen Kritik, die zudem noch mit Zitaten aus „Mein Kampf“ garniert war, die Propagierung eines österreichischen Nationalgedankens zu treten begann, war es um Pankraz Koblinger geschehen. Die Situation schaukelte sich auf, Koblinger verhärtete sich. Seine Oberen nahmen ihn in s Gebet. Der kleine Priester erklärte, er hätte seinen Eid Gott geleistet und nicht dem Führer. Er wurde gefragt, was das nun mit Österreich, der Ostmark, dem Deutschen Reich, dem Führer zu tun hätte. Koblinger blieb die Antwort schuldig, abgesehen davon, dass er erklärte, nur ein österreichischer Staat sei ein katholischer Staat. Beweisführungen gegen diese subversive Ansicht verschloss er sich mit einer Begründung, die auf Augustinus fußte.

Koblinger wurde zur Beichte befohlen. Sein Beichtiger befrug ihn unter dem Schutz des Beichtgeheimnisses, ob er etwa mit Juden zu tun habe. Koblinger wies diese Insinuation entrüstet zurück. Später wurde daraus die fromme Legende, er habe während dieser schlimmen Zeit seinen Friedhofsgärtner – in einer anderen, weniger feinfühligen Version seine Köchin – geschützt und gerettet.

Ihm wurde „zu seinem eigenen Schutz“ befohlen, sich in ein Kloster zurück zu ziehen. Dort wurde er unter ungeklärten Umständen verraten und ausgeliefert. Bei seinem Prozess wurde ihm bedeutet, er solle theologische Argumente zu seiner Verteidigung anführen, es sei dem Reich an einer Verurteilung nicht gelegen. Koblinger verweigerte die Aussage, beschränkte sich darauf, zu wiederholen, er hätte seinen Eid nicht auf den Führer geleistet. Das genügte trotz der Anstrengungen des Verteidigers, eine Geistesverwirrung oder wenigstens einen Konflikt nachzuweisen, um ein Todesurteil zu rechtfertigen.

Der Heilige Vater sah sich jedenfalls in der Lage, anlässlich seines Besuchs unserer Stadt zu schmeicheln, indem er Pankraz Koblinger zur Ehre der Altäre erhob. Der Bürgermeister brachte dann bekanntlich den Antrag im Stadtrat ein, diesem Ereignis Rechnung zu tragen, indem unsere Stadt von Pankraz in Sankt Pankraz umbenannt werden sollte. Zu dem Zeitpunkt, als der Antrag beschlossen war und durchgeführt werden sollte, war der Heilige Vater längst wieder in Rom. Die Opposition hatte pflichtschuldigst dagegen sein müssen, denn die Mehrheit im Senat war sozialdemokratisch, die christlichsoziale Minderheit also reflexartig gegen die Umbenennung der Stadt. Zunächst war ihr Argument, dass die Heiligkeit des Namens nicht von einem durch die Sozialdemokratie verfügten ST abhängig sei.

Der Bürgermeister ließ seine Fraktion höhnisch antworten, mit dem Christentum der verehrten Kollegen sei es nicht weit her; zwar ließ er nur eine Hinterbänklerin in diesem Sinn auftreten, deren Abgang leicht zu verschmerzen wäre, falls sich eine unbedachte Äußerung zu einem Skandal auswüchse, aber das Wort blieb im Raum stehen, die Opposition schätze ihre eigenen Ideale nur, solange sie sich nicht um Fortschritt und Zukunft der Menschheit kümmerten. Bevor die Angelegenheit aber langweilig wurde, verschwand sie von der Tagesordnung.

Dann geschah zweierlei. Es standen Wahlen in s Haus und eine Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den letzten Kaiser wenigstens selig sprechen zu lassen, wurde in unserer Stadt tätig – um nicht zu sagen lästig, wenn ich mir als Chronist auch dieses Urteil versagen muss. Jedenfalls holte unser Bürgermeister die alte Idee hervor, die Stadt im Rahmen einer großen Feierlichkeit umbenennen zu lassen, und nun war auch die christdemokratische Opposition dazu bereit. Einerseits konnte sie sich gegen die royalistischen Überbleibsel abgrenzen, andererseits bot sie einen Erzbischof aus der Hauptstadt und dazu gleich den päpstlichen Nuntius auf. So erhoffte sie sich auch Unterstützung und Einfluss beim Wahlgang, aber gewonnen hatte sie letztlich nicht. Zwar war ihr der Gegenkandidat abhanden gekommen, aber die unvermeidliche Mitleidswelle, die über unsere Stadt herein brach, spülte einen vollkommen unbedeutenden Sekretär unsres Bürgermeisters an dessen Stelle, wo er auf die peinlichste Weise unter Beweis stellte, dass er keinen geraden Satz zu formulieren im Stande war, der ihm nicht von seinem Chef oder dessen Ghostwriter vorformuliert worden war. Nach gewonnener Wahl und den ersten gestammelten Dummheiten wurde ihm zugute gehalten, dass er noch bestürzt und betroffen von der Art sei, die ihn in s Amt geführt hatte; später gewöhnten sich die berufsmäßigen Kritikaster – also Leute wie ich – an seine sonderbare Ausdrucksweise und stellten (wie immer) fest, dass noch keins, das in der Verwaltung unsrer Stadt Karriere gemacht hatte, irgend etwas besser oder schlechter als die anderen erledigt hätte, wie immer auch das Auftreten für Volk und Öffentlichkeit gewesen war.

Aber dies ist alles nur vorne weg. Am Tag des Ereignisses, nachdem sich die Stadt in Ratssitzungen zusammengefunden hatte, um ein würdiges Fest auszurichten, bei dem vom Wahlkampf keine Rede sein, sondern das nur der Einstimmung und der Versicherung unserer errungenen demokratischen Freiheiten dienen sollte wie auch der Erinnerung an die Opfer, die es zu dieser Erringung bedurft hatte, versammelte sich, was Rang und Namen hatte, gemeinsam mit dem Volk im Stadtpark, auf dem eine kleine Tribüne für die Würdenträger errichtet worden war. Rund um den Festplatz hatte unsere Polizei für die nötigen Absperrungen und unsere Gastronomie für die nötigen Erfrischungen gesorgt. Für jene, die Pankraz – jetzt St. Pankraz – nicht kennen, sei kurz gesagt, dass unsere Stadt eine sehr typische war. Barocker Stadtkern mit der Dreifaltigkeitssäule, die bezeugte, dass Stadt und umliegendes Land hinreichend katholisch gemacht worden waren, darum herum eine Umfassungsstraße, nach dem Vorbild der Haupt- und Residenzstadt zu Kaisers Zeiten Ring genannt, entlang des Rings bis dorthin, wo die wirklichen Vorstädte wie Miesbach und Bahnstadt oder Heinerwerk begannen, die Villen mit den großen Gärten, fast Parks, mehr zum Stadtkern hin, Genossenschafts- und Zweifamilienhäusern mehr zur Vorstadt hin, aber immer noch mit kleinen Gärten. Dann begannen die Wohnhäuser und Zinskasernen, rund um alte, nunmehr nur noch  selten in Verwendung stehende Industrieanlagen und Fabriken und Werkstätten, der nächste Kreis war dann die Umfahrung mit dem Autobahnzubringer, dem Anschluss an die neuen Produktionsstätten und Einkaufszentren, diese in riesigen, bald selbst schon stadtähnlichen Dimensionen, aber ohne gewachsene Zentren, dann verlor sich die Stadt in einen ungenützten Streifen, in dem Stadt und Land einander die Herrschaft zuschoben, ein Niemandsland, das nur den Grundstücksverwaltungen überlassen blieb.
                       
Dann begann wirklich das Land mit seinem Kampf gegen die Stadt, den es seit Längerem zu führen gezwungen war. Trachtenkapellen verschwanden, Experimentaltheater traten an ihre Stelle; beide waren natürlich mit ihren Abordnungen am Festplatz vertreten. Ebenso wurden Bauernhöfe aufgelassen und verkauft; die neuen Besitzerinnen und Bewohner bauten die Gebäude um (oder ließen, was sie nicht brauchen konnten, verfallen), boten so geschaffene Ateliers den lokalen Bauerntheatern an, um, wie sie behaupteten, das ursprüngliche Leben zu bewahren2 , oder ließen Therapiezentren erstehen, die, was an so genannter Natur vorhanden war, ausbeuteten, um ihren Mitmenschen neue Schübe an isolierbarer Kraft zu vermitteln, schufen Golfplätze oder Lammzuchtbetriebe, wieder mit dem Zweck, Menschen neu zu definieren, neu zu bestimmen, neu zu schaffen, und darüber Geld zu verdienen, dehnten sich jedenfalls auf diese Art wieder in die Stadt hinein, wobei sie das Niemandsland übersprangen und die Trennung zwischen Stadt und Land auf eine vordem nie gekannte und vorstellbare Art auflösten. Natürlich waren auch sie vertreten bei unserer Feier. Es darf jetzt aber nicht gedacht werden, dass diese verschiedenen Abteilungen der Bevölkerung unserer Stadt in ihre Tracht gewandet mit den Symbolen ihres Standes am Fest teilnahmen. Vielmehr war es so – und ist es noch immer –, dass keines zu sagen vermochte, wer wofür stand, außer für einen Aufenthalt in Pankraz.

Alle sahen gleich aus und wirkten gleich (wenigstens die, die in Pankraz aktiv waren und sich für das Leben in Ort und Land einsetzten und wichtig machten), und so kann es auch nicht verwundern, dass die vier jungen Leute, die sich unserem Bürgermeister näherten, weiter nicht auffällig waren. Und hätten sie nach Abgabe der tödlichen Schüsse gerufen: „Der war s“, und sich auf wen auch immer gestürzt, sie wären wohl in der Verwirrung, die sie ausgelöst hatten, davongekommen.

Überhaupt war diese Verwirrung von sonderbarer Art. Ich war nicht direkt anwesend gewesen. Ich befand mich am Rand des Fests, teils weil die direkte Berichterstattung einem jungen Wesen überantwortet worden war, das eifrig an meinem Stuhl sägte, und ich durchaus bereit war, diesem Menschen die Gelegenheit zu geben, sich seine ersten Sporen bei einem langweiligen Ereignis zu verdienen, teils weil ich aus langer Erfahrung in meinem Beruf wusste, dass die interessanten Dinge immer dort stattfanden, wo sie nicht von der Tagesordnung geplant waren. Ich hatte daher eine privilegiertere Position als das Wesen eingenommen, das mich auszustechen sich angeschickt hatte. Ich saß auf der Terrasse einer Wirtschaft, angemessen entfernt vom Festplatz. Die Wirtschaft lag an einem Hügelrücken, so dass wir bequem alles überblicken konnten.

Wir, das waren zwei ältere Herren meines Alters und ich, und es ist eine sonderbare Fügung, dass sie beide im Fortgang der Geschichte eine entscheidende Rolle spielen würden; dies waren also Monsignore Dr. Schwartz und Hofrat Dr. Hanser3. Monsignore Schwartz war unterdurchschnittlich groß, was er durch Breite wettmachte. Dabei war er aber weder dick noch korpulent, sondern nur sehr kräftig. Seine Statur war die eines Ringers, was durch den kantigen Schädel mit dem kurz verschnittenen Haupthaar noch betont wurde. Das Gesicht strahlte eine Mischung aus Güte, Intoleranz und Wissen aus; glatt rasiert sah einen der Monsignore ebenso skeptisch wie wohlwollend an. Er hatte seine Feuertaufe als junger Divisionskaplan auf den Schachtfeldern des letzten Weltkriegs erhalten und diese Fährnisse überlebt. Er war dabei weder dem Befehl des Führers noch dem eines Militärkommandos gefolgt, auch nicht seinem Herzen, sondern schlicht der Anweisung Roms. Zwar hatte es schon damals Stimmen gegeben, die sich verwundert darüber ausließen, dass ein so viel versprechender junger Mann den Gefahren des Kriegs ausgesetzt wurde, wo der frisch gebackene Dr. Schwartz doch über Beziehungen und Protektionen bis weit nach Rom verfügte, aber der Monsignore hatte mir einmal, als er über alte Zeiten sprach, gesagt, die Kirche hätte damals sich um Vieles kümmern müssen: um Schafe, die im Widerstand zum herrschenden Regime standen, wie um solche, die freudig oder wenigstens nicht ablehnend ihre nationale Pflicht zu erfüllen trachteten. Und wenn in diesen bewegten Zeiten auch die meisten der jungen Priester wussten, wie eine Handfeuerwaffe oder ein Sturmgewehr zu bedienen war, so war es doch der Heilige Stuhl und seine nachgeordneten Nuntiaturen, die die Entscheidung trafen, wer sich auf welcher Seite welcher Aufgabe zu unterziehen hatte, und diese Entscheidung war wohl durchdacht gewesen und brauchte nicht erst begründet zu werden.

Nach dem Krieg sammelte Monsignore, ohne dass die guten Kontakte nach Rom abrissen, seine Meriten als Jugendseelsorger und Schulbuchautor, als Verfasser von pädagogischen Schriften, die – entsprechend der Aufbruchsstimmung nach dem Krieg – mit althergebrachten Vorstellungen radikal aufräumten, und als Organisator von Jugendreisen und Freizeitveranstaltungen, in denen der religiöse Hintergrund Hintergrund blieb, im Vordergrund die Freude der Jugend an ihrem Leben stand und eine christliche Unterweisung nur durch das persönlich-distanzierte Gespräch, das die intellektuellen Fähigkeiten der Heranwachsenden zu fördern trachtete, sowie durch das beispielhafte Leben des Monsignore stattfand. Und so wenig er seine Gönner in Rom mit auch nur einer Eingabe für sich persönlich beanspruchte, so wenig drängte er die ihm anvertrauten Zöglinge zu etwas, was sie nicht wirklich selbst wollten, blieb immer zurückgezogen, aber teilnehmend, was ihn dazu veranlasste, in den wenigen Fällen, in denen sich seine Schützlinge nicht bewährt hatten, als Feuerwehr und Rettung, wenn auch ohne Martinshorn und Blaulicht, aber mit angemessener Autorität einzugreifen und Scherben zu kitten, wobei er diese Autorität unmissverständlich nur in diesem speziellen Fall einsetzte und die Gestrauchelten anwies, sich dieselbe Autorität an sich selbst und für sich selbst zu erwerben, um seines Einschreitens entbehren zu können. So tat er sein Leben lang seine Pflicht, ein Soldat Roms und Gottes, ohne mehr zu erwarten, als ihm die Kirche verhieß. Zu erwarten, was Gott verheißen hatte, erschien ihm anmaßend.

Von anderer Art war der Hofrat. Zwar war er wie der Monsignore eher unnahbar, wenn auch wie er dabei freundlich, höflich und den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zugetan und offen, und wenn er wie er ein offenes Ohr für alle hatte, so war seine Abgrenzung doch mehr zynischer Natur. Wo der Monsignore seine Pflicht für Gott sah, an den er glaubte, sah der Hofrat eine Pflicht an den Menschen und für den Staat, an den er nicht glaubte. Wo er die Menschen liebte und sie zu schützen trachtete, sah er gleichzeitig einen Staat, der diesen Schutz nur halbherzig und sparsam gewährte, was bei ihm einen intellektuellen Hochmut auslöste, der seine Liebe zu den Menschen und seine Verachtung für die Gesellschaft jeweils förderte. Die Aporien dieses Lebens bekämpfte er mit Sport, Schießübungen, kulturellem Eskapismus (dem sich seine Freundschaft mit mir verdankte; den Monsignore als Freund zu bezeichnen, hieße, von beiden Seiten zu viel zu verlangen)  und einem ausgeprägten Zölibatismus, den er nur unterbrach, um seine Liebe zu den Menschen und seine Verachtung der Gesellschaft auf eine höhere Stufe zu schrauben. Dieser Prozess hatte noch während seines Studiums beider Rechte begonnen und hatte sich durch die Polizeikarriere hindurch exponentiell gesteigert, so dass am heutigen Tag ein jedes, das mit der Polizei in Berührung kam, froh war, wenn der Hofrat mit der Angelegenheit befasst, und ebenso froh, wenn alles ausgestanden war.

Was mich betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich mich als Chronist, Reporter, als Stadtschreiber, als Verwalter der Regesten betrachte. Dass ich mich an jenem denkwürdigen Vormittag in der Gesellschaft des Hofrats und des Monsignore aufhielt, hat aber nichts damit zu tun, dass ich etwa um Informationen und Hintergrundberichte anstand. Vielmehr war es mein ausgeprägter Konservativismus, der mich veranlasst hatte, diese Gesellschaft zu suchen. Wie in den Dörfern manchmal am Stammtisch der Wirtshäuser – so es welche noch gibt – Arzt, Apotheker, Tierarzt, Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister zusammen sitzen, es kann auch noch der Förster dabei sein, so halte ich dafür, dass mein Zusammensein mit dem Hofrat und dem Monsignore dieser Exclusivität entspringt; die, die symbolisch wie wirklich unsere Gemeinschaft repräsentieren4, die haben sich auch ein gemeinsames Auftreten verdient und erworben. Und so saßen wir auf der Terrasse dieser Wirtschaft über dem Festplatz und genossen den Frühschoppen, den der Monsignore angeschafft hatte, wie die Aussicht auf den unter uns liegenden Platz mit seiner Tribüne, seinen Girlanden und Luftballons und Werbeplakaten für unsere Stadt, womit natürlich die Partei des Bürgermeisters gemeint war, aber das wurde noch nicht ausgesprochen, denn der Wahlkampf würde erst in zwei Wochen beginnen; bislang noch waren Partei und Stadt quasi in heiliger Ehe unauflöslich vermählt und keins stieß sich noch daran, dass beide als das Gleiche und Selbe dargestellt wurden5.

Wir jedenfalls hatten auf der Terrasse, da es versprochen hatte, trotz des Datums des Eisheiligen 6 ein schöner warmer Tag zu werden, Platz genommen, selbstverständlich war uns der Tisch mit der besten Aussicht gegeben worden, ohne dass wir gefragt hätten (Der Herr Redakteur, der Herr Doktor Hofrat, Hochwürden Doktor Monsignore! Ich bitte Sie! Ihr Tisch bitte!), und blickten verachtungsvoll (wie mir schien, trafen wir einander in einer wenn auch nicht ausgesprochenen Ablehnung des Spektakels) und mit dem Interesse derer, die mit etwas befasst sind, was sie kennen, nicht mögen, aber voll Würde und Mitleid ertragen, hinunter. Der Wein war gut und wir ersparten einander unnötige Worte. Als die zwei Schüsse fielen, waren wir zwar alarmiert zusammengezuckt, behielten aber die Contenance. Wir brauchten auch nicht aufzuspringen wie die anderen Gäste auf der Terrasse, denn wir hatten ja den besten Platz. So blieben wir sitzen und zeigten angemessene Erschütterung und angemessene Übersicht. Der Hofrat griff nach seinem Pager und legte ihn auf den Tisch. Bald würde die Polizei sich bei ihm melden. Bis dahin starrte er hinunter. Ich blickte ebenfalls auf den Festplatz, der Monsignore schien in eine religiöse Handlung versunken. Ich weiß nicht, ob die Letzte Ölung auf Entfernung gespendet werden kann. Aber seine Lippen bewegten sich und er rezitierte leise.

Wir hatten, ein jeder auf seine Weise, durchaus professionell reagiert. Die Schüsse selbst hatten wir sofort richtig erkannt: der Hofrat als Polizist, der Monsignore mochte aus seiner Kriegserfahrung noch wissen, was die beiden Knalle zu bedeuten hatten. Ich überschlug, was ich wahrgenommen hatte – sowohl als Zeuge des Hofrats und der Polizei, als auch als Journalist. Mir war sofort klar gewesen, dass geschossen worden war. Zwar hatte ich das Geräusch nicht identifizieren können, wie es die beiden anderen vermocht hatten, aber mir war die Reaktion aufgefallen: diese kurze absolute Stille und dann der erste dünne Schrei, der zu uns heraufdrang. Dieser Schrei hätte auch ein Flüstern sein können. Die kurze voran gegangene Stille war so ausgeprägt gewesen, dass ich glaubte, auch die leise Frage „Was war denn das?“ verstanden zu haben, eine Frage, die ich vom Festplatz zu hören meinte. Dann brachen der Lärm und der Aufruhr los. Hatte ich eben noch gesehen, wie der Bürgermeister, der offensichtlich sein Bad in der Menge genommen hatte, vor zwei Menschen zusammengesunken war, wie sich zwei weitere Menschen an sie heran schoben, aber nicht, um sie aufzuhalten, sondern um sie abzuschirmen und wegzudrängen, so sah ich gleich darauf, wie sich die anwesende Menge um die vier formierte, unschlüssig, ob sie vorrücken oder angesichts der Waffe, die die eine Person noch in Händen hielt, nicht lieber die Flucht ergreifen sollte, wie dann die Waffe vorsichtig zu Boden gelegt wurde, wobei die Person, die sie hielt, bei genauerem Hinsehen sich als junge Frau erwies, und eine andere Person, ein Mann offensichtlich, ebenso sorgfältig den Bürgermeister endgültig zur Erde gleiten ließ, sanft, als wollte er ihn nicht verletzen, als sei er ein Sanitäter, ein Samariter. In dem Moment wurde mir klar, dass ich, als ich das Bad des Bürgermeisters in der Menge ironisch abfällig und nur nebenbei beobachtet hatte, den jungen Mann sich an den Bürgermeister herandrängen gesehen hatte, ja er hatte ihn an der Schulter gefasst und zu sich her gedreht. Er hatte ihn für die Schützin offensichtlich in Position gebracht7. Als der Getroffene stürzte, riss er den jungen Mann mit sich, der ihn dann eben nieder bettete und sich aufrichtete. Die Frau hatte die Waffe neben ihm nieder gelegt, die zwei anderen versuchten, diesen schwachen Schutzschirm zu bilden und zu viert zur Seite abzutauchen, und dann gingen sie unter der endlich in Bewegung geratenen Menge unter.

Erst als die ersten Folgetonhörner der Einsatzfahrzeuge von Polizei und Rettung ganz nah zu hören waren, als sich Männer in weißen Kitteln mit roten Emblemen und Männer in grünen Uniformen in die Stelle drängten und dort für Ordnung und Organisation sorgten, sah ich wieder den Bürgermeister und die vier. Sie saßen auf dem Boden, möglicherweise leicht verletzt, neben dem leblosen Körper, erhoben sich unsicher und linkisch, wurden von den Polizisten sofort wieder zu Boden gestoßen und dort arretiert, so dass sie bewegungsunfähig waren, und in dieser Stellung warten mussten, bis der Bürgermeister untersucht und abtransportiert war, wobei ich aus den immer lässiger werdenden Bewegungen der Sanität schließen konnte, dass er wirklich tot war, während den Polizisten, die die vier in schmerzhaften Griffen auf dem Boden fixiert hielten, die Zeit, die sich die Rettungsleute nahmen, nachdem nichts mehr zu retten war, immer länger wurde, weil es auch für sie unbequem war, in unnatürlicher Stellung und großem Kraftaufwand auf dem Asphalt zu knieen.  „Idioten“, knurrte der Hofrat, wobei nicht klar war, wen er meinte, „ich muss jetzt gehen“.

Der Monsignore und ich blieben stumm zurück. Dann erklärte der Monsignore, er müsse auch gehen. Ich lehnte mich zurück und begann nachzudenken, ob ich dieses Ereignis  dazu verwenden sollte, dem Wesen, das an meinem Stuhl sägte, beizubringen, wie mit Ereignissen dieser Größenordnung journalistisch korrekt umgegangen werde; weiters, ob ich ihm diese Lektion als Anschauungsunterricht erteilen sollte, das hieße, ich wäre dem Wesen immer einen Schritt voraus, und das Wesen müsste aus dem lernen, was es versäumt hätte, oder ob die Lektion den Charakter begleitender Anleitung hätte, ich also nur die schlimmsten Schnitzer zu verhindern und ansonsten das Selbstvertrauen meines Sargnagels aufzubauen und zu pflegen hätte. Ich bedachte dieses Problem ausführlich, wog Hass, Verletzlichkeit und Sympathie beider Seiten ab und beschloss, abzuwarten.

Abwarten war genau das Richtige gewesen, vor allem im Hinblick darauf, dass sich niemand in der Redaktion bemüßigt gefühlt hatte, mich mit einem Fall zu betrauen, der, so die mir schmeichelhaftere Interpretation, nicht dazu angetan schien, die Arbeitskraft und Erfahrung eines der wichtigsten Mitarbeiter an sich zu ziehen und zu binden8. Also geschah nur die blanke Routine. Nachdem in den ersten Tagen die Nachrufe auf den Bürgermeister gebracht worden waren, erging sich der Wunsch des Publikums nach dem Hintergrund des Geschehens. Aber weder waren besonders sensationelle oder auch ekelhafte Details in Erfahrung zu bringen, noch gab es Augenzeugen, die mehr gesehen und gehört hatten als zwei Schüsse und die anschließende Überwältigung und Festnahme. Von der Polizei waren bloß Vornamen zu erfahren, was für eine findige und vife Redaktion nur die Herausforderung bedeutete, die Familiennamen schneller als andere zu erfahren, etwa der Hauptstadtpresse dabei den Rang abzulaufen, und dann die Namen solange unter Verschluss zu halten, bis eine nervöse Konkurrenz, um die geile Neugier ihrer Leseschaft zu befriedigen, damit heraus rückte, worauf wir empört unsere Zurückhaltung in s rechte Licht rücken würden. Ebenso wenig war über ein Motiv oder sonstige Hintergründe zu erfahren.

Zwar wurde der Öffentlichkeit bedeutet, dass es keinen wie immer gearteten politischen Hintergrund gäbe, aber dies wurde mit der üblichen Skepsis aufgenommen, noch wo dazu kein Hinweis auf kriminelle Machenschaften oder persönliche Katastrophen vorhanden war. Insofern wurde der Polizei nicht geglaubt, wenn auch keines einen politischen Hintergrund zu erhärten vermochte9. So war denn auch bald der Fundus erschöpft, aus dem eine Berichterstattung schöpfen konnte, und es begann der unappetitliche Teil. Vor allem die Jüngeren, Hungrigen, die, die sich zu profilieren suchten, schwärmten aus auf der Suche nach Verwandten und Bekannten; armen Leuten, die zu bemitleiden waren wegen des Schicksals ihrer Angehörigen, weil sie darein verwickelt worden waren, oder weil sie nun, ohne zu wissen, was sagen, ihren Auftritt in Presse und Fernsehen suchten, und ich hätte nicht sagen können, was Mitleid mehr zu erregen angetan war. Als diese letzte Stufe journalistischer Tätigkeit erreicht und ausgereizt war, gleichzeitig der Wahltermin näher rückte, die Feier in würdiger Form, nun im Gedenken an zwei große Söhne der Stadt, nachgeholt worden war, verschwand das Interesse und machte dem Alltag Platz.

Die Gefangenen waren längst in die Hauptstadt überstellt worden, wo sie unter Verweigerung weiterer Angaben auf ihren Prozess warteten. Die Öffentlichkeit hatte sich, wie von ihr erwartet worden war, wieder mit ihren kleinlicheren Angelegenheiten zu beschäftigen begonnen, und der Fall unseres getöteten Bürgermeisters sank zu den Akten und Statistiken, um dort bei passender Gelegenheit, die hoffentlich nicht eintreten würde, unter dem Rubrum Politische Attentate in der Zweiten Republik noch einmal Erwähnung finden zu können. Auch wir behandelten dieses Thema nicht weiter, wenn wir einander trafen, der Monsignore, der Hofrat und ich. Überhaupt waren unsere Treffen sogetane, die keine Themen hatten, die wir behandelten; einerseits weil es dem Charakter unseres Beisammenseins nicht entsprach – wir trafen einander zu vorher nicht fest gelegten Zeiten, sondern eher instinktiv, dann beschäftigten wir uns höchstens mit uns und unseren Ansichten, nie mit Tagespolitik oder Aktuellem, wenn von gelegentlichen Erwähnungen des Zustands unseres städtischen Fußballklubs abgesehen wird, für den wir drei alle eine Schwäche hatten, wie für Fußball überhaupt (wir drei kickten hin und wieder, wenn sich eine Gelegenheit, etwa bei einem Prominententurnie für einen guten Zweck bot, und einmal war es dem Hofrat gelungen, dem Bundeskanzler, der selbst ein guter Palesterer war und dies immer wieder unter den Augen der Presse und der p.r.-Abteilung seiner Partei zur Schau stellte, ein böses foul beizubringen, worauf er sehr stolz war, gern davon sprach, und dem Monsignore gegenüber erwähnte, dies wäre die einzige lustvoll einem anderen Menschen beigebrachte Verletzung gewesen, die er je zu beichten hätte. Der Monsignore antwortete ernst, gemessen und ein wenig geniert und verärgert, ohne den Anflug des Lächelns, das eigentlich auf so einen wenn auch schwachen und bösen Witz folgen sollte, und sofort entspann sich unter uns eine intellektuell hoch stehende und kaprizierte Diskussion um Schuld, Sühne, Beichte und Vergebung).

Andererseits hätte ein Erwähnen des Vorfalls nicht der Art unserer Gesprächsführung entsprochen. Wir sprachen über Gott, den Menschen, über Gut und Bös, aber nicht über Schicksalsschläge oder sonstige Fährnisse, oft nur Emanationen unbewussten und einsichtslosen Verhaltens und tauber Triebhaftigkeit. Lieber sprachen wir, wollten wir die großen Themen nicht anschneiden, gar nichts, sondern lobten den Wein oder die Küche oder den Sonnenuntergang. So stellte sich ein Gleichgewicht zwischen Gemüt und Geist ein, wobei Geist Seele wie Intellekt umschloss, ein Gleichgewicht, das uns erlaubte, unsere Gemeinschaft an uns zu genießen, und uns Ruhe und Geborgenheit wenigstens für diese kurzen Stunden gab.

Umso mehr musste es auffallen, als eines Abends der Monsignore den Hofrat ansprach und sagte:
„Herr Doktor, Sie müssen mir eine Besuchserlaubnis beschaffen.“
Und dann, als müsse er sich verständlich machen wie gegen renitente Schulkinder:
„Die Maria hab ich noch unterrichtet.“
Im Grund genommen war diese Anmaßung eine Erschütterung unseres Vertrauensverhältnisses, die uns allen bewusst war, die wir aber zunächst so hinnahmen, weil sie sicher nicht ohne gute Gründe geschehen war. Und der Monsignore hatte ja mit seinem Hinweis auf erteilten Unterricht dargetan, dass er wohl persönlich betroffen war, und wer ihn kannte, würde wissen, dass ihm das Schicksal eines Zöglings – so ein Schicksal – zu Herzen gehen musste. Daher drangen wir auch nicht in ihn, was uns unsere Vornehmheit ohnedies nicht erlaubt hätte, und diskret und ohne Belastung unserer Beziehung erhält der Monsignore die erforderlichen Dokumente. Ob er nun Maria getroffen, ihr die Beichte abgenommen, wie und ob sich der Kontakt zu ihren Verbündeten gestaltet hatte, das fragten wir nicht; es entsprach nicht unseren Gepflogenheiten und auch nicht unserem Gesprächsthemen.

Was weiter in diesem Fall zu berichten ist, ist schnell gesagt: Unser Leben nahm seinen angewöhnten Fortgang, unterbrochen durch unaufschiebbare gesellschaftliche und familiäre Verpflichtungen (wir waren alle drei unverheiratet, aber mit Verwandtschaft gesegnet), die aber keinen von uns allzu vieler Zeit beraubten, und durch die berufliche Tätigkeiten, deren wir uns mit einer ethisch verantwortlichen Mischung aus Routine und Hingabe entledigten und ein schönes Gleichgewicht zu unserem abgemessenen Vergnügen hielten. So gingen wir dem Ende unserer Tage entgegen.

Es begann damit, dass sich eines Tages der Monsignore von uns trennte. Ihm wurden seelsorgerische Aufgaben auf dem Land zugewiesen, genauer in einem Kloster, das der Wallfahrt und der Versorgung und Pflege älterer geistlicher Würdenträger diente. Und es war für ihn bezeichnend, dass er uns erzählte, dies wäre ihm schon die längste Zeit bekannt gewesen, er hätte aber seine Übersiedlung sorgfältig vorbereiten müssen, um seine Zelte so abbrechen zu können, dass er zu keiner Rückkehr durch welche Umstände auch immer noch genötigt werde, sowie die Voraussetzungen für seine neue Tätigkeit so zu organisieren, dass er sofort und ohne langes Einarbeiten damit beginnen könne, und dies wäre nun abgeschlossen, so dass wir nun auf den Abschied einen Schoppen trinken und ihn in guter Erinnerung behalten sollten. Er brachte das Alles so unbeteiligt vor, so distanziert und beiläufig, als spräche er von einer Schicksalswendung, die gar nichts mit seinem Leben zu tun, dass es uns im ersten Moment auch gar nicht weiter überraschte, als er hinzu fügte, wir würden einander nicht mehr sehen. Damals kam es uns nur logisch und einsichtig vor, und wir fragten nicht nach den weiteren Umständen seiner, wie wird es in kirchlichen Kreisen genannt?, Versetzung und auch nicht nach den Gründen.

Sechs Wochen später, der Monsignore hatte uns schon verlassen, ging die Meldung durch die Nachrichten, dass nach langer und gründlicher Vorbereitung der Prozess wegen des Attentats auf den Bürgermeister unserer Stadt gegen die vier mutmaßlichen Attentäter 10 in Bälde eröffnet werde. In diesem Zusammenhang hörten wir wieder von unserem alten Bekannten und Gefährten, denn Monsignore Dr. Schwartz war in den Berichten als einer der Zeugen im Prozess angeführt, als ehemaliger Religionslehrer von Maria T., der sie und die anderen im Gefängnis regelmäßig besucht hatte, und der über ihren Charakter und ihre Umstände wohl Erhellendes beizutragen hatte. Wir saßen damals gerade im Kaffeehaus, selbstverständlich an unserem Tisch, tranken Mocca und Mineralwasser und Cognac und lasen die Zeitungen, kommentierten knapp und treffend, was wir erfuhren, stritten hin und wieder – quasi als Fingerübung – über Polizei und Druckmedien, wobei wir Wahrheit meinten, als uns dieser Artikel vor die Brillen kam. Der Hofrat grinste auf seine hässliche Art, schob das Blatt über den Tisch und sagte:
„Er sagt nichts. Für ihn ist das alles Beichtgeheimnis.“
Zwei Tage, bevor der Prozess dann wirklich beginnen sollte, waren die Schlagzeilen balkendick, die Kurznachrichten im Radio waren dicht gedrängt, das Fernsehen zeigte in wiederholten und sich wiederholenden Sondersendungen verstörte Gesichter. Die Gefangenen waren verschwunden.

Es wurden sofort Untersuchungen eingeleitet, die zum Teil durchaus unfreiwillig humoristische Komponenten enthielten. Zunächst wurde festgestellt, dass die letzte Person, von Wachpersonal einmal abgesehen, die die Gefangenen im Gewahrsam angetroffen hatte, ein Priester gewesen war. Er war, vom Monsignore geschickt, nur ein einziges Mal da gewesen, um den Angeklagten geistlichen Trost und Beistand zu spenden – der Monsignore wollte sich für seine Zeugenaussage nicht mit zu großer Nähe belasten, wie er auf Befragen erklärt hatte (er hatte sich natürlich verdächtig gemacht, wo er doch im letzten halben Jahr eine Art Vertrauensstellung im Gefängnis sich durch seine vielen Besuche erworben hatte), es war aber unklar, ob ein Wunsch der Häftlinge nach Empfang des Bußsakraments oder eines Besuches überhaupt bestanden hatte. Jedenfalls war die Verteidigung informiert und einverstanden und der Priester ein – wie es hieß – „Spezialist“ gewesen. Der Priester war in der Folge nicht mehr anzutreffen, Monsignore Dr. Schwartz hatte ihn persönlich auch nicht gekannt, wie er zu Protokoll gab, sondern sich an seine Oberen gewandt, um geistlichen Beistand zu schaffen, der nicht persönlich involviert war und umso weniger voreingenommen, nur seinem Gott und der Möglichkeit seiner Vergebung verpflichtet war.

Abgesehen davon war das, was sich bei den Untersuchungen herausgestellt hatte, dazu angetan, ein höchst sonderbares Licht auf unsere Gesellschaft zu werfen: sowohl, was unsere öffentliche Verwaltung und ihr Engagement für ihren Behuf betrifft, als auch auf die Gesellschaft selbst und ihre bald krankhaft zu nennende Sucht 11 nach Aufklärung aus eigener vernünftiger Kraft. Geschehen war nämlich, dass einer der Angehörigen der Wache erklärt hatte, der Priester und sein Besuch wäre noch wahrgenommen und protokolliert worden, aber darnach wäre, und das ist das Zitat, das dann die Nation erheiterte und unterhielt, „eine unzuerwartende Häufung von Ereignissen wie ein Erdbeben ausgebrochen“. Was der gute Mann gemeint hatte, war, dass, seit der Priester die Anstalt verlassen hatte, alles schief gegangen war: Die Videoüberwachung zeigte sonderbare Ausfälle, Protokolle verschwanden nach ihrer Anforderung auf dem Amtsweg, die Anschrift des Priesters war nicht mehr eruierbar, weil die kirchlichen Stellen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, ein Krankenstand war nicht mehr korrekt datierbar, und Ähnliches.

Was davon im kollektives Gedächtnis verblieb, war lediglich diese missglückte Formulierung, bei der einem subalternen Beamten, der sich plötzlich in die Lage versetzt sah, vor den Medien Aussage abzusondern, die Bilder durchgegangen waren. Und das war nicht ohne Folgen geblieben. Die Anzahl von Leserbriefen war Legion. Langsam kristallisierte sich aus der Menge von Meinungen eine heraus, die sich durchzusetzen im Stande war. Zunächst hatte es zwar so ausgesehen, als ob die Mistkübel öffentlicher Meinung ganz einfach über dem Wachmann und seiner geglückten Formulierung, mit der er die Inkompetenz und Dummheit seiner selbst und seiner Spießgesellen beschrieben hatte, ausgegossen würden. Doch über kurz oder lang erschien die Debatte in einem anderen Gewand und in Gestalt  intellektueller Rechthaberei insofern, als Leute auf den Plan traten, die zu beweisen trachteten, dass gerade die Häufung sonderbarer Umstände höchste Plausibilität und Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen konnten. Denn diese Häufung von Ereignissen war entsprechend der Wahrscheinlichkeitsrechnung genau das, was zu erwarten gewesen war. Es erschien sogar ein Leserbrief, der nicht mehr in der Alltagssprache abgefasst war, sondern nur noch aus Formeln und mathematischen Beweisen bestand. Der Boulevard war befriedigt und sprach in der Folge vom „Wahrscheinlichkeitsausbruch“, ein gelungenes Wortspiel, das die Tatsache der Flucht und die anschauliche Darstellung des Wachmanns mit der Mathematik verquickte.

Die Polizei war nüchterner und hartleibiger; wo zwei plus zwei beim Zusammenzählen vier ergab, wurde, ohne mit der Wimper zu zucken, mit vier weiter gerechnet. Und was wie eine Verschwörung zur Fluchthilfe aussah, wurde als solche untersucht, mit aller gebotenen Diskretion und Professionalität. Und nachdem nicht nur der letzte priesterliche Besuch zu einem Objekt der Untersuchung geworden, sondern auch der Monsignore, der diesen Beichtgang eingefädelt hatte und in der Folge nicht mehr auffindbar war, wurden sowohl ich als auch der Hofrat zu unserem Verhältnis zum Monsignore befragt so wie über etwaige Kenntnisse über seine Verhältnisse. Ich konnte dazu naturgemäß nichts oder nicht viel beitragen, und auch der Hofrat sagte, als wir über diese Befragungen sprachen, er sei für die Vorgänge in Rom nicht zuständig.

Damals machte mir diese Bemerkung noch kein Kopfzerbrechen, aber später, als sich eins zum anderen fügte, wurde mir klar, dass der Hofrat wesentlich früher als ich Verdacht geschöpft hatte – das heißt, ich hatte ja nie Verdacht geschöpft, eher die Dinge genommen und geglaubt, wie ich sie erfahren hatte, wie sie mir zugestoßen waren, und so konnte ich auch nicht verbittert sein, nur erstaunt, als sich etwas als Wirklichkeit anbot und herausstellte, das auf Realität eigentlich keinen Anspruch zu erheben wagen durfte. Wie dem auch sei, die Abwesenheit des Monsignore empfanden wir als persönlichen Verlust, teils einer angedeuteten Freundschaft wegen, die nun nur noch als Erinnerung gelten sollte, teils weil wir durch die polizeilichen Fragen mit seiner Existenz, die wir nicht mehr wahrnehmen konnten, konfrontiert waren. Uns fehlten seine trockenen, ruhigen Worte, mit denen er zu uns gesprochen hätte, wenn die Rede auf die Vorfälle der letzten Zeit gekommen wäre.

Jedenfalls empfand ich es so, aber der Hofrat und ich bedrängten einander nicht mit allzu persönlichen Befindlichkeiten. Doch ich fühlte mich verlassen. Ich hatte unser Miteinandersein immer genossen, weniger wegen der freundschaftlichen Gefühle, mehr wegen Ordnung, die damit verbunden war: Das Gesetz, die Religion (das Gesetz Gottes) und die vermittelnde Öffentlichkeit waren untrennbar verbunden und zeigten, wie die Welt stabil war; dass wir zu dritt waren, war auch für unsere Stadt von Bedeutung. Und nun war der Platz des Monsignore leer, und dass wir auch für die anderen zusammengekommen waren und nicht nur für uns, damit sich die anderen an uns aufrichten, sich an uns anlehnen, sich nach uns richten konnten  und beruhigt waren, wurde mir immer schmerzhafter klarer. Und ich wusste auch nicht, ob nur ich so empfand oder auch der Hofrat oder auch die Stadt, wenigstens der Teil der Stadt, der am öffentlichen Leben so weit teilnahm, dass unser Auftreten erwartet und registriert wurde so wie gewürdigt und interpretiert.

Doch diese trüben Gedanken hatte ich nur, wenn ich mich mit dem Hofrat traf, und so sah ich zu, dass dies nicht allzu oft geschah, und wenn, dann so, dass wir nur kurz Konkretes besprachen und uns unserer gegenseitigen Wertschätzung versicherten; dann blieben wir ein jeder für sich. Ich lebte dann mein Leben weiter, das damit ausgefüllt war, die vitalen Funktionen in Gang zu halten und dabei das rechte Ebenmaß von Pflicht und Neigung, von Genuss und Einsicht zu wahren, und in der Redaktion meinen Platz gegen die jungen Talente zu verteidigen, wobei ich dabei damit befasst war, weder einem vorgeblichen Schwinden meiner journalistischen Begabung noch einer persönlichen Verletzung Nahrung zu geben.

Als aber der zweite Sommer nach dem Mord an unserem Bürgermeister 12 in s Land gegangen war, erhielt ich eine Korrespondenzkarte vom Hofrat. In dem ihm eigenen Tonfall schrieb er:
„Liebe Redaktion! Wie Sie aus der Karte ersehen können, verbringe ich meinen Urlaub in Rom. Was könnte es dort geben, das mich interessiert. In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort hält sich empfohlen Ihr Dr. Hanser, Wirklicher Hofrat“.
Ich war, als ich die Karte erhalten hatte, erst amüsiert und verwirrt, dann etwas konsterniert. Zum einen hatte ich vom Hofrat noch nie Urlaubsgrüße in dieser Art erhalten. Hatte er etwa begonnen, unsere Freundschaft, die ja nie ausgesprochen wurde, anzuerkennen, vielleicht auch nur, weil er sich ähnlich verlassen fühlte wie ich? Dann strichen meine Gedanken zum Urlaubsort des Hofrats und der erschien mir so unpassend wie nur irgend möglich. Er hatte seine Sommerreisen nie anders verbracht als in abgezäunten Feriensiedlungen und all inclusive Clubs der höheren Preislage, wovon er in geschliffen sarkastischen Bemerkungen erzählte 13, oder als ähnlich vorgefertigte Gruppenreisen, die im Amt von der Personalvertretung organisiert worden waren und die er buchte, ohne sich der Gemeinschaft der Reisenden durch die Tage und Busetappen hindurch außer bei den Mahlzeiten wirklich anzuschließen. War er davon wieder zurück, kam er in aller Regel mit einem dicken Album, in dem Photos geordnet waren nach Reisetagen, einigermaßen gelungen, in jedem Fall interessant 14, das er uns mit nur wenigen Kommentaren zur Ansicht vorlegte, da die Bilder alle fein säuberlich beschriftet waren und so des gesprochenen Worts entraten konnten.

Andrerseits hatte er schon einmal Urlaub als Bildungsurlaub ohne Wegbereitung durch die Personalvertretung gemacht, da hatte er diese Liaison mit einer Sozialarbeiterin (offensichtlich hatte beide einen gemeinsamen Klienten gehabt, der sie zusammengebracht hatte), und da war der Hofrat nolens volens durch französische Städte und Museen gefahren. Sollte es sein, dass ihn ein ähnliches Schicksal nach Rom geführt hatte und nicht in einen club mediterrané? Damals war seine Schilderung der Reise so untypisch wie das Reiseziel selbst gewesen und er schwankte zwischen Verärgerung über den unerhörten Bruch der Routine und Begeisterung darüber, dies zugelassen zu haben, bis ihn der Monsignore auf die Möglichkeit hinwies, eine neue Liebe und neue Erfahrungen als Erwachsener genießen zu können, ohne die unvermeidlichen jugendlichen Torheiten als Regression bekämpfen zu müssen, sondern als gehobene Erinnerungen an glückliche Jungentage mit Abstand und Anstand zu durchleben.

Der Monsignore! Der Hofrat war in Rom, um den Ereignissen hier bei uns nachzuspüren. Wie Schuppen fiel es mir von Augen. Als einer, der wenigstens anfangs beruflich als Ermittler mit der Angelegenheit befasst war, musste es für ihn ein leichtes sein, diskret bei den römischen Behörden Erkundigungen einzuziehen. Die polizeiliche Routine hatte ihm also das eingegeben, worauf mich die journalistische Intuition schon längst hätte stoßen müssen. Der Hofrat hatte das Verschwinden der Gefangenen, den geheimnisvollen Beichtiger, und dass der Monsignore unserer Stadt den Rücken gekehrt hatte, zur Deckung gebracht und verdächtigte ihn nun, damit zu tun zu haben. Und so stellte er seine privaten Nachforschungen an, während ich den guten alten Zeiten nachtrauerte. Natürlich war dies in höchstem Grad ärgerlich. Ich hätte genauso darauf kommen können, noch dazu wo ich ja nicht wie eine Behörde oder deren Vertreter eine unanfechtbare Beweislage hätte erbringen müssen. Im Pressewesen begnügen wir uns mit einer relativen Wahrheit. Es hätte genügt, dass gleichzeitig Vorgefallenes erwähnt wird. Das Publikum hätte sich schon einen Reim oder auch keinen darauf gemacht, und ich hätte meine Stellung gegenüber den jungen Talenten festigen können, indem ich ihnen praktisch vorführte, wie ein derart sensibles Thema zu behandeln sei.

Als ich in meinen Gedanken so weit war, schoss mir die Scham ein. Jeder einzelne Teil dieses Überlegens ließ mich erröten und stellte eine berufliche Verbindung zu den damaligen Vorfällen als Verrat an unserem Beisammensein dar. Aber hatte nicht auch der Monsignore an uns Verrat geübt? Nun, mir war klar, und das war wohl immer so gewesen, dass seine Verpflichtungen und seine Treue nicht auf die Menschen ausgerichtet waren, sondern auf das Göttliche, vertreten durch seine Kirche und durch sie den Gehorsam einfordernd. An dieser besonderen Loyalität hatten wir keinen Anteil, oder nur so weit, dass wir als Katholiken seine Entscheidung akzeptieren konnte, umso mehr, als er mit dieser besonderen Treue auch die Treue anderer Menschen zu Gott auf sich nahm und sie durch sein Wirken ihrem Himmlischen Vater näher brachte. Diese Nachfolge Christi, die ihn für alle Menschen da sein ließ, verhinderte natürlich, dass er allzu irdische Beziehungen eingehen konnte. Und so schämte ich mich, das Andenken an Monsignore Dr. Schwartz mit allzu Profanem quasi besudelt zu haben, wie es journalistische Überlegungen zu seiner Person sein mochten.

Aus dieser Verstörung über meinen ersten emotionalen Aufwallungen nach dem Urlaubsgruß des Hofrats heraus hatte ich meinen nächsten Schritt schnell bestimmt. Ich musste mit dem Monsignore Kontakt aufnehmen und ihn warnen; nicht um einen neuerlichen Verrat zu begehen, diesmal am Hofrat, sondern um die Situation zu klären: um das alte Band der Freundschaft erneut zu knüpfen, um es zu verstärken, um mich zu versichern, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde. Ich wusste aber nicht, wie er zu erreichen sei. Ein Brief an die neue Stelle seines Wirkens kam zurück mit dem Vermerk, dass der Empfänger an der angegeben Adresse unbekannt wäre. Ein telefonischer Anruf brachte kein Ergebnis, aber die Stimme in der Leitung hatte nicht so geklungen, als wäre ihre Besitzerin besonders kompetent. Interessanterweise aber versprach sie mir einen Rückruf, der natürlich nicht kam. Ein weiter Anruf nach gebührender Wartezeit führte zum selben Ergebnis. Auf meine Vorhaltungen, diese Adresse wäre mir von Monsignore Dr. Schwartz gegeben worden, also müsse er hier oder verzogen sein und dann wüsste ich gerne wohin, wurde mir beschieden, ich müsse mich irren. Ich ließ mich aber nicht beirren und entschloss mich kurzerhand, selbst zu fahren.

Ich hatte genug Urlaub aus früheren Jahren angesammelt, um überraschend mir eine Woche frei nehmen zu können. Dazu kam, dass die jungen Talente – übrigens im Einverständnis mit Chefradaktion und Geschäftsleitung – nichts dagegen hatten, mich für einige Zeit nicht zu sehen. Der Monsignore war, so weit ich wusste, in das Kloster Marienfron, das gleichzeitig ein neu etablierter Wallfahrtsort geworden war, berühmt auch für ein Ensemble moderner Architektur ebenso wie für Erleuchtung, Sammlung und Heilung durch die Gnaden der Muttergottes, berufen worden. Marienfron war in der Nähe eines Orts zu finden, der schon unübersehbar an seinem Eingang Hinweise auf das Kloster, dessen Architektur und Möglichkeit zur Einkehr – wohl im doppelten Sinn des Wortes – auf einem großen Werbeschild angebracht hatte. Ich suchte mir einen Gasthof. Ich wollte kein Hotel, das war eine Art Berufskrankheit. Ich pflegte nie die Orte zu frequentieren, an denen die übrigen Journalistenhorden sich herumtrieben, wenn es galt, über ein Ereignis zu berichten. Ich war immer am Rande des Geschehens unterwegs, lebte mit den Leuten, die nicht unmittelbar betroffen waren, hielt aber doch dabei Distanz genug, um ihnen das Gefühl zu geben, ihre Zeugenschaft sei wichtig und bedeutend, und ich wäre das Medium, diese ihre Wichtigkeit und Bedeutung der Welt da draußen mitzuteilen.

So hatte ich auch bald den passenden Gasthof ausfindig gemacht und war zwei Tage später mit allem nötigen Respekt Mitglied des Stammtischs. Ich hatte nun den Apotheker, den Wirt, einen Ingenieur eines in der Nähe angesiedelten Industriebetriebs und zwei Bauern kennengelernt, von denen der jüngere offensichtlich die intellektuelle Kapazität des Orts darstellte und der mich auch eingeladen hatte, am Stammtisch Platz zu nehmen. Er interessierte sich für nahezu alles und wusste auch über nahezu alles hinreichend Bescheid, um darüber reden zu können. Als ich mich vorgestellt und über meine Position Bescheid gegeben hatte, machte irgendeiner aus der Runde eine Bemerkung, dass der eine Intellektuelle („Großkopferte“ oder einen ähnlichen, leicht vulgären Ausdruck verwendete er) einen anderen wohl sofort erkenne. Dieser freundliche Spott wurde mit angemessenem Gelächter belohnt und ich wiederum meinte, dass sich die Zeiten eben geändert hätten. Früher wären am Stammtisch der Lehrer, der Pfarrer, der Tierarzt, der Förster und der eine oder andere Großbauer anzutreffen gewesen. Jaja, wurde zugestimmt, aber der Tierarzt sei dreißig Kilometer weiter, der Lehrer sei ein ganz junger, der nicht in s Wirtshaus gehe, der Pfarrer komme zwar in s Wirtshaus, trinke aber nicht mit, sondern schlage nur die Veranstaltungen der Kirche an. Er rede zwar mit allen, aber das sei eben nicht mit einem Stammtischmitglied zu vergleichen.

Ich war also als interessanter Gesprächspartner angenommen, und als sich heraus stellte, dass mir das Tarockspiel auch in der örtlichen Variante vertraut war, war meine Position gesichert. Ich gab also den Erholung Suchenden, ging viel spazieren, was mir wirklich Erholung brachte, und verbrachte meine Abende in der vertrauten Runde, wo ich über meine Wanderungen berichtete, eine Ausbeute an Pilzen der Küche übergab und den Stammtisch zu einem Ragout einlud oder mich über das Leben im Dorf informieren ließ. So brachte ich das Gespräch auf Marienfron, wie der Ort Pechlahn mit der anwachsenden Zahl von hierher pilgernden Gläubigen fertig werde, ob es überhaupt Kontakte mit dem Klosterleben gebe und ob es einen wirtschaftlichen Faktor darstellte. Ich lenkte meine Fragen so, dass ich auf das Anwachsen dieser Aktivitäten hinwies und die Frage stellte, ob die klösterliche Gemeinde nicht angewachsen wäre.

Aber ich erhielt bei meiner Fragerei keinerlei Hinweis auf einen Priester, der seit einigen wenigen Monaten oder mehr sich im Kloster niedergelassen hätte. Überhaupt war ich mit mir selbst unzufrieden und sich an die Bevölkerung heran zu machen, um Informationen zu gewinnen, ärgerte mich. Ich war ja nicht beruflich unterwegs und fragte mich, warum ich wie die Katze um den heißen Brei schlich, anstatt einfach im Kloster vorzusprechen. Was hielt mich eigentlich davon ab? Ich redete mich vor mir damit heraus, dass ich ja auch auf Urlaub wäre, und so wurde mein Besuch des Klosters damit begonnen, dass ich eine Besichtigung wie ein gewöhnlicher Tourist unternahm.

Mein Begleiter beim Rundgang durch die öffentlich zugänglichen Teile des Klosters – ich hatte auf einer Einzelführung bestanden – war ein junger Student, der in den Ferien hier arbeitete und vom Kloster angestellt und bezahlt wurde. Er führte mich durch das Ensemble, wobei er routiniert, aber nicht unfreundlich mich vor allem auf die Gnadentaten der Jungfrau Maria hinwies, mich über die neue Spiritualität belehrte und, ohne klar zu machen, ob er gläubig war oder nicht, und ohne zu fragen, wie es bei mir damit stand, die religiösen Hintergrunde erklärte. Er spulte sein, wie mir schien, Standardprogramm ab. Dann sah er mich fragend an, ich wusste nicht, ob es wegen eines Trinkgelds war oder ob es genügte, ihm zu verstehen zu geben, dass seine Ausführungen wohlwollend und als Bereicherung aufgenommen worden waren. Und da die Lage also für einige abschließende Worte günstig war, fragte ich nach dem Monsignore; diesmal aber geradewegs heraus mit der Behauptung, dass ein Freund von mir hier tätig sei und ich ihn gern sehen würde. Ob mir mein Führer behilflich sein konnte.

Der junge Mann ging mit mir darauf zur Klosterpforte, wo er mit der Pförtnerin sprach und dann kopfschüttelnd zu mir zurückkam. Monsignore Dr. Schwartz war hier unbekannt, lautete der Beschied. Dann stand er unschlüssig neben mir, ob ich noch Fragen hätte oder ob er nun denn entlassen wäre, dann wollte er mich hinaus begleiten. Neben der Pforte hing eine Marmortafel mit Widmungen, Gebeten und Erinnerungen zur Geschichte des Klosters, mit Danksagungen an irdische und himmlische Förderungen, und angelegentlich sagte ich, ich wäre zufrieden, den Weg zurück würde ich finden, und wandte mich der Tafel zu, um sie genauer zu studieren. Als mein Begleiter den Rückzug angetreten hatte, wandte ich mich selbst an die Pförtnerin und brachte mein Anliegen vor. Sie schien nun etwas verschüchtert und griff immerhin zum Telefon. Aber statt des Monsignore betrat eine Nonne den Vorraum, die auf mich zutrat und mir stumm fragend in die Augen sah.

Ich wiederholte also meine Geschichte: dass mein Freund Monsignore Dr. Schwartz aus Pankraz, nunmehr St. Pankraz, hierher befohlen worden war, vor über einem Jahr, dass er mir und einem anderen Freund diese Adresse hinterlassen habe und ich ihn in persönlichen Dingen nun zu sehen wünsche. Die Antwort überraschte mich: „Er ist nicht mehr hier.“ Ob sie wisse, wo er jetzt sei. „Wenn er Ihr Freund ist“, sagte sie15, „dann wird er sich, wenn es an der Zeit ist, wohl bei Ihnen melden. Ich jedenfalls kann Ihnen dazu nichts sagen; nur so viel: Wir leben alle hier nur auf Abruf, und unsere Loyalität ist nicht von Freundschaft geprägt, sondern von Gehorsam; wie es der römische Hauptmann im Evangelium beschreibt: Wenn ich einem sage geh, dann geht er, und wenn ich einem sage komm, dann kommt er16. So sind wir auch.“ Und dann, wobei ihr Gesichtsausdruck das Autoritative verlor und verbindlich wurde, wenn auch unpersönlich, fragte sie: „Und war Ihr Rundgang durch das Kloster zu Ihrer Zufriedenheit? Hat Sie Stephan (offensichtlich der Name des Studenten; er hatte sich mir nicht vorgestellt) mit der modernen Architektur vertraut gemacht?“ Und dann eifriger: „Es ist ja interessant, dass Ihr – und auch unser Monsignore Schwartz – mit der Architektur dieses Klosters sehr verbunden ist. Tatsächlich hat er eine wichtige Rolle gespielt, dass unser Haus so dasteht, wie es ist, gegen viele Widerstände.“ 17

Sie merkte meine Verwirrung und gab mir Zeit, mich zu sammeln. Ich kennte den Monsignore nur als Pädagogen und Seelsorger, sagte ich, wobei seine Schulbücher zu einer gewissen Zeit als gar zu fortschrittlich gegolten hätten, wenn sie auch heute zur klassischen Unterrichtsunterlage im Schulwesen geworden wären. Aber dass er sich mit moderner Architektur befasst hätte, noch dazu so engagiert, sei mir neu. „Nun, es war nicht ganz so, wie Sie es jetzt vielleicht verstehen wollen“, sagte die Nonne. „Im Grunde genommen war er mehr mit der Heiligen Jungfrau beschäftigt. Ich weiß eben nicht, ob Stephan Sie darauf hingewiesen hat, aber die Architektur entspricht ja in keiner Weise der herkömmlichen traditionellen Anlage. Wenn Sie die Anlage quasi aus der Vogelperspektive betrachten, werden Sie sehen, dass alle Gebäude in den stilisierten Umriss einer Schutzmantelmadonna integriert sind. Der Architekt hat den Namen des Klosters für seinen Entwurf verwendet. Es gab natürlich Widerstand und Empörung, viele maßgebliche Herren waren der Meinung, wir sollten doch zur Tradition zurückkehren. Ein Kloster dürfe nicht den Grundriss von Kreuz und Quadrat verlassen.“

„Ihr Monsignore“, sie betonte das „Ihr“ auf eine besondere Art und Weise, als wolle sie zum Ausdruck bringen,  dass sie mir nicht glaube, „Ihr Monsignore hat aber eine lange Eingabe verfasst. Was das Architektonische betrifft, hat er mit Le Corbusier argumentiert, das war ja ganz leicht; aber dann hat er dazu eine lange Abhandlung über die Himmelmutter dazu gefügt, und das hat schließlich den Ausschlag gegeben, wenn die endgültige Entscheidung auch knapp war. Die genaue Argumentation weiß ich nicht mehr, aber es war wohl unanfechtbar. Es gibt ja genug Gnadenorte, die der Heiligen Jungfrau geweiht sind, und Ihr Monsignore war der Meinung, dass auch unsere moderne Zeit so einen Ort haben müsse, und dass sich diese moderne Zeit auch in der Gestaltung ausdrücken sollte. Und recht hat er gehabt! Es kommen ja viele Besucher wegen der Architektur, so wie auch viele nach Melk kommen wegen der Architektur, und dann geraten sie doch in den Bann der Jungfrau und des Herrn. Das hat unser (Jetzt war es nicht mehr „Ihr“ sonder ihr) Monsignore ganz richtig erkannt. Dazu musste er nicht einmal ein Verfechter moderner Kunst sein. Es hat genügt, dass er in dem Entwurf des Architekten eine große, ja göttliche Schönheit gefunden hat; und er hat argumentiert, dass die Schönheit, Klarheit und einfache Geschlossenheit dieses Entwurfs direkt von der Muttergottes kommt. Sie sehen, es war ein theologischer, ein religiöser Disput, kein künstlerischer oder architektonischer.“

Sie schwieg und musterte mich wieder mit diesem strengen Blick, der mich mich schuldig fühlen ließ. Dann wieder verbindlicher, nachdem sie den Abstand betont hatte: „ Wollen Sie vielleicht noch einmal einen Rundgang machen? Vielleicht sehen Sie das Kloster jetzt mit anderen Augen?“ Ich beteuerte, dass mir Stephan wohl alles in ausreichendem Maße gezeigt hätte, wenn er auch nicht über das Hintergrundwissen meiner Gesprächspartnerin verfügt haben mochte. Aber wenn ich schon eine Bitte aussprechen dürfte, ob es möglich sei, Einblick in die seinerzeitige Eingabe von Monsignore Schwartz zu nehmen? Die Nonne führte mich daraufhin in eine modern ausgestattete  Bibliothek, und während ich den Mikrofilm in ein Lesegerät geschoben bekam, machte sie sich erbötig, mir eine Kopie seines Aufsatzes, seiner Streitschrift, seines Traktats zu machen.

Abends lag ich in meiner Herberge im Bett, hatte das Nachtlicht brennen und las ein um s andre mal die Schrift, die einfach mit A. S. gezeichnet war. Mir tat sich ein ganz neues Bild auf. In seinen pädagogischen Schriften, Schulbüchern, Predigten und Vorträgen hatte der Monsignore einem Gott das Wort geredet, der unbegreiflich, bildlos, ja apathisch im Sinne der griechischen Philosophie war 18, so ganz den intellektuellen Bedürfnissen einer aufgeklärten rationalen Jugend entsprechend. Nicht um Gott ginge es, hatte Monsignore gepredigt, sondern um den Guten Menschen, und seinen Lieblingsspruch hinzugefügt: „Der Mensch muss handeln, als ob es Gott nicht gäbe, vor allem in zwei Situationen: wenn der Mensch Almosen geben und wenn er Gerechtigkeit üben muss.“ 19 Er hatte einen Gott gepredigt, der dadurch, dass er seinen Sohn in die Welt geschickt hatte, die Liebe, seine Liebe selbst in die Welt geschickt und so diese Liebe nun zu einer Angelegenheit der Menschen gemacht hatte. Ohne Menschen gäbe es die Liebe Gottes nicht.
                         
Und hier schrieb er nun von einer Liebe, die das genaue Gegenteil davon war. Mit einer tiefen, sinnlichen, kreatürlichen Inbrunst beschrieb er die Liebe, die die Menschen und die Heilige Jungfrau verband. Hier war es eine Liebe, der sich ein Jedes hingeben konnte, die nicht forderte und nicht gefordert wurde, die nicht in die Welt gesandt wurde, um sie zu erlösen und ihr in der Folge aufzuerlegen, sie am Leben zu erhalten und zu verbreiten; nein, hier beschrieb er eine Liebe, die vor allem da war, und nach allem da sein würde, verschwenderisch, aber greifbar, gebunden an eine Person, eine Frau, die einfach liebte und die wiederum zu lieben, das Einfachste auf der Welt war und jeder Begründung entraten mochte.

Ich muss gestehen, dass mir das Alles zu hoch war und ich auch meinen Monsignore hier nicht wieder erkannte. Zwar war die Schärfe der Beweisführung mir durchaus bekannt, aber nicht die inhaltliche Ausrichtung. Dass Gottes Liebe mit einem Heilsplan der Menschen verbunden war, der das Opfer seinen eigenen Sohns mit einschloss, war mir wohl vertraut; dass durch dieses Opfer die Liebe in die Welt gekommen war, so dass sie auch von griechischen Philosophen akzeptiert werden konnte und nicht nur akzeptiert, sondern in der Folge auch verkündet, war nur allzu logisch und ein Beweis der Macht und Güte Gottes. Aber Marias Liebe, schrieb A. S., war vor der Liebe Gottes in der Welt, wenn sie auch nicht älter als die Liebe Gottes war, aber dadurch, dass sie vor Gottes Liebe in der Welt war, konnte sie erst sich zum Heilsplan Gottes hinzufügen – also gälte auch hier, ohne des Menschen Liebe wäre Gottes Liebe hinfällig. Und ihre Liebe wäre das Äußerste an menschlicher Liebe, das Äußerste an weiblicher Liebe, das Äußerste an irdischer Liebe. Ich legte die Schrift verwirrt zur Seite, fragte mich kurz, wie weit diese Ausführungen nicht ketzerisch gewesen waren – aber offensichtlich waren sie es nicht, denn das Kloster war letztlich nach dem Entwurf des Architekten und den theologischen Erläuterungen des Monsignore gebaut worden.

Ich beendete zwei Tag darnach meinen Urlaub in Pechlahn, zwei Tage, in denen ich nur mit Mühe meine Rolle am Stammtisch aufrecht erhielt, weil ich mit meinen Gedanken woanders war als bei der abendlichen Tarockpartie. Meine Spielfehler glich ich dadurch aus, dass ich meine Mitspieler frei hielt, dem Spott über mein unkonzentriertes Spiel entging ich aber nicht. Als mich einer von ihnen noch mit der Aussage hänselte, ich spielte wie ein Verliebter, sah ich mich gezwungen, den Herrn hervorzukehren, was die Stimmung am Stammtisch schlagartig veränderte. Am Ende des Abends war nur der junge Bauer anwesend, der auch nicht recht wusste, wie er mich anreden sollte, jedoch mir zu verstehen geben wollte, er sei mir nicht gram. Ich aber sehnte mich nach dem Hofrat.

Als ich ihn wieder traf und darauf gespannt war, was er mir von seiner Romreise berichten würde, fiel ich dann doch in die Unsicherheit zurück, die ich in Pechlahn schon verspürt hatte. Im Grunde hatte ich weder etwas erreicht, indem ich mit dem Monsignore gesprochen hätte, noch waren meine Gedanken durch das, was ich über sein Wirken im Kloster erfahren hatte, einigermaßen geklärt worden – im Gegenteil. Wenn ich mir über mein Auftreten in Pechlahn Rechenschaft ablegte, musste ich eingestehen, dass ich in die Irre geleitet worden war. Ich hatte zum Beispiel das Dossier, das mir die Eingabe des Monsignore enthüllt hatte, aber ich wusste nicht einmal, wann dies geschehen hätte sein sollen. Erst nach und nach, durch Recherchen nach meinem Urlaub, wurde mir klar, dass ich nicht einmal wusste, wann das Kloster neu gebaut worden war. Sollte es Stephan erwähnt haben, hatte ich es vergessen. Als ich nachlas, wurde mir klar, dass das erst einige wenige Jahre zurück lag. Also hatte der Monsignore seine Liebe zur Muttergottes schon Jahre davor mit sich herumgetragen und ich oder wir hatten nie davon gewusst. Aber das mochte wohl stimmen; er hatte sie verschwiegen wie eine Freundin, eine Geliebte, eine Frau, die mit unserem Zusammensein (oder mit seinem Zusammensein mit der sündigen, beladenen, mühseligen Welt) nichts zu tun zu haben brauchte.

Als ich also das erste Mal nach diesem Sommer mit seinen höchst sonderbaren Urlauben wieder über einem Schoppen Wein mit dem Hofrat beisammen saß, hatte ich das Gefühl, dass wir wie zwei Kater um den heißen Brei schlichen. Schließlich war es der Hofrat, der den Bann brach: „Wie war Dein Urlaub? In Rom hab ich mir mehr als das Colosseum angesehen, aber nichts gefunden, was mich interessiert hätte.“ Das Spiel war eröffnet und ich antwortete: „Ich war in Marienfron. Aber ich hab auch nichts heraus gebracht.“ Dann schwiegen wir beide angelegentlich, bis ich leise fragte: „Du hast auch versucht, etwas über Schwartz zu finden?“ „Ja“, sagte der Hofrat, und dann waren wir beide lange Zeit ruhig, starrten in die Gläser oder in die Umgebung, bis sich unsere Blicke trafen, begleitet von einem schmerzvoll verzerrten Lächeln und einem Stöhnen und der angstvollen Erkenntnis, dass wir den selben Verdacht hegten.
„Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen“, sagte der Hofrat schließlich.

„Wir wissen beide, dass er damit zusammenhängt. Er schickt einen Priester, der der letzte ist, der die Attentäter sieht. Der verschwindet mit ihnen. Schwartz ist seit der Zeit nicht mehr zu finden. Zähl zwei und zwei zusammen – was kommt heraus?“
„Ich weiß“, murmelte ich, „aber warum?“
„Ja, warum?“, wiederholte der Hofrat. „Ich weiß nur, er hatte die Gelegenheit und die Mittel; das Motiv fehlt.“
„Er hat ja keins gehabt“; entgegnete ich.
Und dabei fiel mir ein, wie die Nonne Matthäus und seinen römischen Hauptmann zitiert hatte. Würde der Monsignore auch kommen und gehen, wie es ihm befohlen würde? Ich fragte den Hofrat nach seiner Ansicht, aber er sagte nur:
„Was sollte die Kirche für ein Motiv haben?“
„Also haben wir alle Gelegenheiten, alle Mittel, aber kein Motiv?“
„Aber alle Mittel“, stieß der Hofrat nach und sah mich nachdenklich und – wie mir schien – misstrauisch an, „was weißt du über Mittel? Hast du da etwas herausgefunden?“
Ich musste mir eingestehen, dass ich da selbst nichts wusste, also die Mittel ohnedies ebenso fraglich waren wie die Motive. Ich war erleichtert und mir schien, dass sich unser Verdacht wohl in Luft auflösen würde, was ich auch sofort äußerte. Doch der Hofrat sah mich lange an, schüttelte dann den Kopf und flüsterte fast, als er sagte:
„Klosterlinie, ratline“.

Als ich mich ahnungslos zeigte, begann er zu erzählen; von Alois Hudal, vom Roten Kreuz, von der Kurie und Giovanni Battista Montini. Aber ich tat seine Erläuterungen als Verschwörungstheorien ab, als Gerüchte, die wohl nach dem Krieg in die Welt gesetzt wurden, weil ein Sündenbock dafür von Nöten war, dass nur wenige der Naziverbrecher vor ein Gericht gekommen waren,  da wurde er ärgerlich.
„Der Typ hat sich ja selbst bezichtigt“, fuhr er mich an, „der Hudal, den hat es wirklich gegeben, der steht im Lexikon, und seine Memoiren sind erst vor kurzem erschienen. Also bezichtigt, stimmt nicht ganz. Er hat sich rechtfertigt. Da gibt es keine Verschwörungen, außer denen, die es wirklich gibt.“

Ich wusste, dass der Hofrat esoterischen und eskapistischen Aussagen und Theorien nie ganz abgeneigt war, wenn er sie auch mit zynischem Augenzwinkern in sein Gedankengut aufnahm, und sei es nur, um die, denen er sie anschließend vortrug, höchst wirkungsvoll zu blamieren. Insofern reagierte ich reflexartig, aber der Hofrat musste mir das angesehen haben, denn er wurde nur noch ärgerlicher und fuhr mich – noch immer flüsternd – an: „Du glaubst mir wohl nicht!“, und er schoss eine Suada von historischen Daten nach, die mich noch mehr verunsicherten, scharf, präzis und leise, geradezu gemein, als wollte er bei einer Prüfung einen ungeliebten Lehrer mit seinem Wissen überfahren20. Unter dem Schwall seiner immer heftiger hervor gestoßenen Sätze murmelte ich begütigend:
„Doch, doch, ich glaube dir ja. Aber du darfst mir nicht böse sein, du hast ja als Polizist andere Quellen zur Verfügung als unsereins.“
„Und wer hört regelmäßig den Polizeifunk ab?“
Diese Replik kam unerwartet.
„Also gut, es gibt auch die Mittel“, räumte ich ein.

Aber der Hofrat war in seinem Zorn nicht mehr zu bremsen – wobei mir der Ursprung dieses Zorns nicht klar war. Sein Flüstern war jetzt nur noch als schwaches Zischen zu vernehmen, wie bei einem Reifen, der Luft verliert, ohne dass sofort klar wird, wo das Loch ist.
„Ich hab das nicht aus Polizeiberichten. Ich hab dir doch gesagt, die Memoiren von Hudal sind erst vor Kurzem veröffentlicht worden. Ich hab mich selbst drum gekümmert. Ich mach nämlich meine Aufgaben“, schnaubte er.
Ich versuchte zu begütigen:
„Und du glaubst, dieser Hudal könnte damit in Zusa … ?“
„Unsinn“, unterbrach er mich barsch und fand zu seinem normalen, belustigten, nonchalanten Tonfall zurück, „der ist vor mehr als zehn Jahren in Rom gestorben. Und bevor du fragst: Marienfron hat mit der Klosterroute nichts zu tun, und Schwartz hat keine Verbindung mit Hudal gehabt, wenigstens so weit ich das nachvollziehen konnte.“
Er schwieg erschöpft und lehnte sich zurück.

„Also Mittel und Gelegenheit“, wiederholte ich, mehr blöde als in sonst einem beschreibbaren Zustand. Als ich die Grimasse des Hofrats sah, wurde mir klar, dass ich wirklich blöd war.
„Darum geht es doch gar nicht“, sagte der Hofrat und wirkte ermüdet, „ich hab mich umgehört, und du auch. Ich hab was raus gekriegt über die Möglichkeiten der Kirche und du was über ihre Seele, so weit du in Marienfron überhaupt irgendetwas erfahren hast.“
Er schwieg, und ich war erstarrt und alarmiert.
„Woher weißt du das?“
Und er war noch müder: „Ich hör auch den Polizeifunk“, und sein Lächeln war abstoßend. Dann beugte er sich vor, sein Lächeln wurde schärfer, gleichzeitig schien mir, es würde wehmütig 21, und dann fragte er in einer vollkommen einfachen Art:  „Das alles ist doch egal. Worum es geht, sind ohnehin nur wir. Warum kümmern wir uns darum? Warum? Los! Du zuerst!“

Dieses Gespräch riss mich hin und her. Ich war schon längst nicht mehr in der Lage, die Information, die ich bekommen hatte (von der Äbtissin oder Nonne und vom Hofrat, vielleicht beide Agenten einer Wahrheit, die ich nie erfahren würde), zu ordnen. Ich hätte nun der Ruhe bedurft, um das alles mir zurechtzulegen, aber der Hofrat hatte sein Gesicht über den Tisch bis nahe an meines geschoben und wiederholte unter seinem Lächeln:
„Du zuerst.“
Und ich begann zu stammeln, versuchte, ihm klar zu machen, warum ich nach Marienfron gefahren war, versuchte ihm klar zu machen, dass diese Fahrt nicht gegen ihn gerichtet war,  fühlte mich deswegen schuldig, ihm gegenüber und mir gegenüber, erkante, dass ich nichts wusste, was Bestand hatte und was ich vertreten konnte, suchte nach Worten, die meine Woche im Weinviertel, als Urlaub getarnt, rechtfertigen konnte, war mir im Klaren darüber, dass dies alles nicht hinlangte, verhedderte mich darin, hob endlich meinen Blick, um dem Blick des Hofrats zu begegnen,  der am Schluss seine Schärfe verlor, und dann hörte ich ihn seufzen: „Also du auch. Ich hab gewusst, dass mir niemand glauben wird.“
            
Es war dies der letzte Abend, an dem wir zusammengesessen waren, und es war schon damals, dass wir unsere Freundschaft zu Grabe tragen mussten. Heute erscheint es mir, dass diese unsere Freundschaft schon längst nicht mehr gültig war, ja recht eigentlich nur durch die Person des Monsignore zusammengehalten war. Heute denke ich, dass nicht unsere gesellschaftliche Stellung, sondern Monsignore Dr. Schwartz durch seine schiere Präsenz uns zusammengehalten hatte, unabhängig davon, ob wir nun gläubig waren oder in welchem Ausmaß. Von mir kann ich behaupten, dass ich, wie jeder andere vernünftige Mensch, an ein höheres Wesen glaube, noch immer und mehr denn je. Vom Hofrat weiß ich es nicht so genau und mir kommt, wenn ich an ihn denke, immer wieder der Spruch in den Sinn, von dem ich nicht mehr weiß, wer ihn geprägt hat, den aber wohl alle verwenden, die über ihre religiöse Lässigkeit sich ausdrücken wollen, ohne von sich selbst allzu viel preiszugeben, und sich hinter gelungenen Formulierungen zu verbergen suchen, und der mir vielleicht auch in den Sinn kommt, weil ich Angst habe, dass er einmal für mich selbst gelten möchte: „Herr, wenn es Dich gibt, rette meine Seele, wenn ich eine habe.“ Er hatte einen Satz dieser Art mir gegenüber nie geäußert, so weit ich mich erinnern konnte, und erst recht nicht gegenüber dem Monsignore. Dazu hatte er zu viel Respekt, oder wenigstens angeborene oder durch Erziehung oder zynische Toleranz erworbene Höflichkeit.

Doch meine Erlebnisse in Marienfron und meine Gespräche darnach mit Ewald Hanser hatten zwar nicht meinen Glauben, aber doch meine Stellung gegenüber der Kirche erschüttert. Zwar hielt ich immer meinen Glauben und meine Zugehörigkeit zur Einen Heiligen Apostolischen Kirche für etwas, was nicht zu trennen war, hielt also meine Taufe (und glaubte es im religiösesten Sinne) für einen gangbaren Weg zu Gott, wusste aber (im wissenschaftlich-historischen Sinn), dass die Kirche Menschenwerk war und mich so weniger überraschen konnte als die unerforschlichen Wege Gottes22. Aber dass der Hofrat mich verlassen hatte mit einem „tu quoque mi fili“, konnte ich zu keinem Wirken Gottes zuordnen, nur zu einem Fehlverhalten unter uns Sterblichen.

Ich hatte den Hofrat seit jenem Gespräch nie mehr allein in unserer vertrauten Gewohnheit getroffen. Ich hatte mein Gewissen erforscht, womit ich ihn hätte so in Wut versetzen und beleidigen können, dass er den Kontakt mied, aber außer meiner Naivität gegenüber der Welt und meiner Loyalität gegenüber alten Bindungen hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Jetzt, wo ich diese wunderbare Geschichte zu Papier bringe, diese Geschichte eines Wunders rekapituliere, denke ich, dass ich mir doch etwas zu Schulden hatte kommen lassen, das mich aber auch wieder zum Heilsplan Gottes zurückführte: Ich hatte mich vom Glauben entfernt. Was ich für Loyalität gegenüber dem Monsignore gehalten hatte, war Hybris; was ich als Loyalität gegenüber dem Hofrat im verzweifelten Versuch, zwei zusammen zu halten, wo nur drei sein konnten – ebenso ein Fall von Hybris –, ausgegeben hatte, konnte ihn nur beleidigen, wo er doch versucht hatte, zu dritt zu verstehen, was der Monsignore allein nicht verstehen konnte.

Ich erfuhr über den Hofrat, dass er in den Ruhestand getreten war, nachdem er eine namentlich gezeichnete Eingabe (vom Wort „Anzeige“ oder „Sachverhaltsdarstellung“ hatte er Abstand genommen, so dass vollkommen unklar für die befassten Beamtem war, wie sie mit des Hofrats Schriftstück umgehen sollten, außer einen Aktenvermerk anzulegen, dem ein langes Modern und ein zeitweiliges Hervorkramen zur Belustigung von Anzulernenden oder Amtsbesuchen als Schicksal bevorstehen würde) verfasst hatte. Der Inhalt der Eingabe und ihr weiteres Schicksal wurde mir gegen meinen Willen und gegen meine Intention von einem Unterläufel aus der Polizei beigebracht, der wohl damit rechnete, Hansers Platz bei mir einnehmen zu können. Wiewohl ich auch mich ablehnend bis zur Beleidigung verhielt (soweit ich dies überhaupt zu Stande brachte – beleidigend sein), war mir trotzdem willkommen, dass ich erfuhr, was geschehen war. Der Hofrat hatte sich gründlich in die Nesseln gesetzt. Er hatte seine Schlussfolgerungen wenn nicht an die Öffentlichkeit, so doch zur Kenntnis der Behörden gebracht, und zwar mit solcher Vehemenz, dass er sich unmöglich gemacht hatte. Er hatte dabei mich als Zeugen namhaft gemacht, was umso eher verworfen wurde, als er nur ein Hörensagen geltend machen konnte, dass ihm niemand abnahm.

Ich wurde mit der ganzen Angelegenheit nicht weiter konfrontiert, aber in der Folge begann ich mir Gedanken zu machen und zu überlegen, ob ich dem Hofrat in die Seite treten sollte. Allein, was konnte ich beitragen. Ich konnte nur über eine Vermutung berichten, die durch nichts zu belegen war: Der Monsignore war darein verwickelt, dass die, die unseren Bürgermeister auf dem Gewissen hatten, verschwunden waren. Es war vollkommen unklar, wie das gewesen sein sollte. Der Monsignore selbst war nicht aufzufinden. Was ich über ihn herausgefunden hatte, half nicht weiter. Was der Hofrat heraus gefunden oder erschlossen hatte, konnte nur durch das Zeugnis des Monsignore belegt werden. Das Andenken an den Monsignore hatte ich verraten, indem ich dem Hofrat nicht geglaubt hatte in meinem verzweifelten Versuch, moralische Einfachheiten zu suchen, wo ich den Monsignore mit seinen komplizierten Aufgaben hätte weiter in Freundschaft und Abwesenheit lieben sollen. Dies hatte dazu geführt, dass der Hofrat seinerseits sich von mir abgewandt und im verzweifelten Versuch, Gehör zu finden, seinen Verdacht laut geäußert hatte, anstatt bei mir die Möglichkeit zu finden, gemeinsam an einem Unaussprechlichen teilzuhaben und ein Geheimnis zu teilen, das uns genügte und der Welt verborgen bliebe. So hatte ich auch den Hofrat verraten.

Oft dachte ich, wie es hätte gewesen sein können. Wir hätten den Monsignore ausfindig gemacht und ruhig bei einem Glas Wein, mit allem nötigen Abstand, uns von ihm erklären lassen, was vorgefallen war. Der Gedanke faszinierte mich. Ich sah uns drei, alte, gesetzte Männer, denen nichts Menschliches mehr fremd ist, abgeklärt und weise, die einander beichteten, einander auf eine besondere Art beichteten: ohne Hoffnung auf
Vergebung, da die Vergebung durch die Beichte schon inkludiert war und nicht erst erfleht werden musste, ohne Gebot der Reue, denn was getan worden war, war getan worden, um Gutes zu tun, und wir säßen zusammen im Wissen um die Welt, die wir zu gestalten hätten, und im Wissen darum, wie sie war, und im Wissen darum, wie wir uns darin verhielten.

Aber wie die Dinge standen, hörte ich nur von meinem Einflüsterer, dass der Hofrat richtiggehend menschenscheu geworden war, ein gefürchteter Misanthrop, der auf alles, was ihn berührte, mit Verachtung reagierte und so immer einsamer wurde. Ich ersuchte diese Kreatur einmal, dem Hofrat etwas von mir zu bestellen. Die Kreatur antwortete, sie sei mit dem Hofrat auf nicht so vertrautem Fuß; im Übrigen suche er offen gestanden auch nicht seine Nähe und ob ich mich anderer Kanäle bedienen könnte. Ich brach den Kontakt mit der Kreatur ab. Später wurde mir hinterbracht, die Kreatur wäre recht froh darüber, nicht mehr mit mir zusammensein zu müssen. Ich vermied jede Interpretation dieses Gerüchts.

Damit endet die Geschichte vom Monsignore, vom Hofrat und mir. Der Heilige Vater hatte unser Land der Gottesmutter geweiht und einen großen Sohn unserer Stadt ihr als Vorbild, als Patron und Fürbitter zur Ehre der Altäre erhoben. Dem würdelosen Spektakel, das sich daran anschloss, machten Maria T., Johannes M., Andreas K. und Peter  W. auf ihre Art ein Ende. Warum, was ihr Hintergrund war und wie sie verschwanden, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden.

Vom Monsignore hörte ich durch die langen Jahre hindurch nichts mehr, bis ich, wie gesagt, eben in einem lokalen Blatt für die Provinz und Umgebung unserer Stadt einen Nachruf auf Monsignore Dr. Schwartz las. Er war in Rom gestorben, wo er schon seit langem gelebt haben musste. Er wurde mit einem Lebenslauf gewürdigt, der die Stationen seines Wirkens aufzählte, auf seine Bedeutung für den Aufbau des religiösen und sozialen Lebens nach dem Krieg hinwies und mit folgenden Worten schloss: „Seine letzten Jahre verbrachte er zurückgezogen in Rom, wo er in einer der unzähligen Kirchen, die nicht wegen ihrer Kunstschätze in den Reiseführern stehen, Sonntagsmessen für deutschsprachige Touristen las und sie manchmal nach dem Gottesdienst einlud, mit ihm als Cicerone durch die Ewige Stadt zu wandern. Er war bekannt für seine leutselige, wenn auch zurückhaltende Freundlichkeit, eine burschikose 23  Frömmigkeit und eine ausgeprägte, damit einhergehende Verehrung der Jungfrau Maria.“


1 Während ich mit der Niederschrift dessen befasst bin, erreicht mich die Todesmeldung auch des Monsignore. Ich werde darauf noch zurückkommen müssen, ohne die einführenden Worte jetzt zu ändern.

2 Sie nahmen sogar die Mitgliedschaft im örtlichen Jagdverband an, was umso leichter war, als sie schon Mitglied gewesen waren, da sie noch in der Stadt wohnten – jetzt allerdings lernten sie, das Horn zu blasen.

3 Und dass wir drei uns am Rande des Geschehens aufhielten, lässt nicht darauf schließen, dass der Monsignore und der Hofrat auch beruflich – wie ich – ihren Standort bedroht sahen und zu verteidigen hatten. Die Kirche verfügt über andere Mittel als über junge Nachrückende, wenn es darum geht, Mitarbeiter bei der Stange zu halten, neu zu motivieren oder aus dem geschäftigen Treiben der Welt heraus zu halten, ganz abgesehen davon, dass Gott eine andere Zeit hat als wir Menschen und daher mehr Geduld im Guten wie im Bösen, unbesehen seines Heilsplans. Die Polizeiführung wiederum sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass der Hofrat als Beamter unkündbar und in der Gesellschaft (selbst in der schlechten) wohl gelitten war und darüber hinaus sich untadelig führte und nicht mehr Marotten pflog, als von einem Hofrat ziemlicher Weise zu erwarten waren. Der einzige, dessen Stellung zur Disposition stand, war ich, und ich hatte mir außer meinem Alter nichts zu Schulden kommen lassen, was allerdings den Vorzug einer gewissen Weisheit mit sich brachte, und ich war also nicht beunruhigt. Eher sah ich den Lauf der Dinge als etwas, dem ich mich unterzuordnen hatte, und sei es nur, um den Konsens unsrer Gesellschaft nicht willkürlich wegen eines Einzelschicksals in Frage zu stellen.

4 Wohlgemerkt: eine Gemeinschaft der Gläubigen! Handle es sich um die Geschichte, das Recht oder die Religion, immer sind wir durch den Glauben daran gebunden.

5 Es ist überhaupt ein Sonderbares zu sehen, dass gerade dann, wenn das Volk als Souverän seine Stimme zu erheben hat, die Stadt von der Partei abgekoppelt wird. Die glückliche Fügung, die beide zusammen gebracht hat, gilt plötzlich für die Dauer des Wahlkampfs nicht mehr, und wo der Bürgermeister durch die Amtsperiode hindurch nur Pankrazer und Pankrazerinnen kennt, die er wütend gegen jede Zumutung einer anderen Gemeinde verteidigt, dort wird er zu einer solitären erratischen Gestalt im Wahlkampf, die – wie ex machina – plötzlich sich seiner Gemeinde annehmen will, mit der er bis jetzt quasi nichts zu tun hatte, die er jetzt aber glücklich machen will. Kaum die Wahl geschlagen, ist er unter dem allgemeinen Jubel und der giltigen Versicherung der Bevölkerung wieder Bürgermeister aller, die in Pankraz wohnen, und quasi Pankraz selbst.

6 Es war zwar geplant gewesen, die Feierlichkeiten nicht am Namenstag des Heiligen durchzuführen – aus Gründen, die eher von Furcht vor dem Wetter bei einer Veranstaltung im Freien als dem Gedanken einer Trennung von Kirche und Staat entsprangen –, aber schließlich fügte sich alles, wie es sollte.

7 Es war den Politikern und Würdenträgerinnen unseres Landes schon früher nahe gelegt worden, sich nicht ohne Polizeischutz der Öffentlichkeit auszusetzen – oder sich ihr überhaupt auszusetzen. Als ich den Hofrat im Zuge dieser Affaire darauf angesprochen hatte, zog er die Lippen nach oben, zog die Mundwinkel nach hinten, zeigte die Zähne und sagte, das wäre eine Sache des Berufsethos. Jeder mache seine Arbeit, so gut er sie könne und wie er sie verstehe, und seine Arbeit sei, die Verbrechen aufzuklären, und im Übrigen sei ihm jeder recht. Ich lächelte auch. Der Hofrat war immer sehr unterhaltsam.

8 Diese Interpretation ist auch wegen einer nicht auf den Beruf bezogenen Dimension schmeichelhaft. Sie entspricht dem, was ich als Erfolg bezeichne: Nicht ein momentanes Gelingen an einem momentanen Plan ist für mich Erfolg, sondern das Übereinstimmen mit der Welt. Mein Erfolg liegt darin, in Einklang mit dem Notwendigen dieser Welt zu leben; diesen Einklang nicht voraus zu bestimmen, ihn nicht planmäßig und rational herzustellen, sondern schon immer in ihm gewesen zu sein.

9 Der Hofrat hatte mir später mitgeteilt, wenn er auch nicht mit den Untersuchungen befasst war – die Arbeit wurde, politischer Hintergrund ja oder nein, von der Hauptstadt aus und von der Staatspolizei wahrgenommen –, dass es keine Geheimniskrämerei gewesen, sondern das Motiv wirklich unklar war. Bei den Vernehmungen war nie viel mehr zur Aussage gelangt als die stereotype Behauptung, wer es sehe, würde es schon erkennen. Die Beamten diskutierten eher Wahnvorstellungen, konnten oder wollten sich aber nicht festlegen.

10 Dies ist typisch für den Stil unserer Presse: Die Angeklagten werden mit dem Beiwort „mutmaßlich“ angesprochen, solange sie nicht wegen des ihnen zur Last gelegten Delikts verurteilt sind. Dies schreiben der Schutz der Person, wie er in diversen Gesetzeswerken verankert ist, wie der Grundsatz, dass unschuldig zu betrachten ist, wer  nicht verurteilt ist, vor. Gleichzeitig wird darüber hinweg gegangen, dass unter den Angeklagten eine Frau ist und es wird einfach von „mutmaßlichen Attentätern“ gesprochen, eine sprachliche Schlamperei, die mir sauer austößt: nicht so sehr, weil ich mich für so genannte geschlechtsneutrale und, wie es nun heißt gegenderte, Sprache einsetzte; nein mir verschließt sich schlicht die Notwendigkeit, Geschlecht, Fall, Deklination nicht korrekt anzuwenden, wenn die Sprache sie denn zur Verfügung stellte – ich habe eine Zeit lang bei der Ausbildung darauf gedrungen, dass unser Nachwuchs eine kompetente Sensibilität auf diesem Gebiet entwickelt, allein, wo kein Richter, da kein Kläger. So schließt sich der Kreis.

11 An dieser Stelle möchte ich einen alten Freund, H. B., hier erwähnen, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass das  Wort Sucht nicht mit „suchen“ zusammenhängt, sondern mit siech, erhalten in Wörtern wie Gelbsucht, Fallsucht, etc.

12 Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich „von unserem Bürgermeister“ schreibe (und denke), ganz so, als hätte es nach ihm keinen mehr gegeben. Das hängt aber nicht damit zusammen, dass ich ihn so geschätzt hätte, dass alles, was nach ihm gekommen wäre, ihn oder die Erinnerung an ihn nicht auszulöschen vermochte, sondern damit, dass die damit verbundenen Geschehnisse der tiefste Einschnitt in meinem Leben waren und es völlig umgestaltet hatten – so, als wäre die Zeit davor das Leben gewesen und die danach nur noch ein Dahindämmern in einer zerstörten Umgebung.

13 etwa über die ekklektizistische Architektur dieser Anlagen: „… mindestens drei Stilbrüche auf das Harmonischste miteinander vereint …“

14 Er wies daraufhin, dass er die Kirchen, Ruinen, architektonischen Sehenswürdigkeiten, die landschaftlichen Besonderungen und Spezifika der örtlichen Flora ohne jede Anleitung eines Reiseführers und ohne Begleitung von Polizeikameraden gefunden hatte: „… besoffene Kieberer kann ich im Dienst auch sehen …“

15 Sie betonte diesen Halbsatz auf eine Art und Weise, die mich sofort schuldig machte. Ich muss dazu sagen, dass ich eine eher autoritäre Disposition habe, in beide Richtungen, in die gebietende also wie auch in die gehorchende. Das mag erklären, warum das folgende Gespräch verlaufen ist, wie es verlief, und warum ich nicht insistierte, sondern mich abspeisen ließ.

16 Matthäus 8,9

17 Diese Nonne – oder war es die Äbtissin selbst – war also über meine Anwesenheit schon informiert, und wieder schrak ich zurück und  fühlte mich vor ihrer Autorität wie ein bei einem Streich ertappter Schulbub.

18 Er berief sich dabei auf ein Standardwerk von Carl Schneider, das 1954 unter dem Titel „Geistesgeschichte des antiken Christentums“ erschienen war.

19 Dass es sich hierbei um ein jüdisches, nicht um ein christliches Weistum handelte, erfuhr ich erst später.

20 Was ich damals, zu meiner Schande muss ich es gestehen, nicht wusste, war, wie nach dem Krieg unter den Bedingungen des beginnenden Kalten Kriegs Naziverbrechern mit Hilfe der Kirche und unter Duldung der Geheimdienste und Diplomatie der Alliierten die Flucht nach südamerikanischen und nahöstlichen arabischen Ländern ermöglicht wurde – teils, um gegen den kommunistischen Einfluss in diesen Staaten in vorausblickender Absicht ein Gegengewicht zu schaffen, teils aus politischer Naivität und auch, wie im Fall Hudals, um sein eigenes Lebenswerk nicht diskreditiert zu sehen, mit der Begründung karitativer und humanitäre Absichten. Hudal scheint in diese letzte Kategorie zu fallen, obwohl das nicht ganz klar ist; er kann auch aus politischer und theologischer Überzeugung gehandelt haben. So schrieb er in den „Römischen Tagebüchern“: „Alle diese Erfahrungen haben mich schließlich veranlaßt, nach 1945 meine ganze karitative Arbeit in erster Linie den früheren Angehörigen des NS und Faschismus, besonders den sogenannten "Kriegsverbrechern" zu weihen, die von Kommunisten und "christlichen" Demokraten verfolgt wurden, oft mit Mitteln, deren Methoden sich nur wenig von manchen ihrer Gegner von gestern unterschieden haben; obwohl diese Angeklagten vielfach persönlich ganz schuldlos, nur die ausführenden Organe der Befehle ihnen übergeordneter Stellen und so das Sühneopfer für große Fehlentwicklungen des Systems waren. Hier zu helfen, manchen zu retten, ohne opportunistische und berechnende Rücksichten, selbstlos und tapfer, war in diesen Zeiten die selbstverständliche Forderung eines wahren Christentums, das keinen Talmudhaß, sondern nur Liebe, Güte und Verzeihung kennt und Schlußurteile über die Handlungen der eigentlichen Menschen nicht politischen Parteien, sondern einem ewigen Richter überläßt, der allein die Herzen, Beweggründe und letzten Absichten überprüfen kann. (...) Ich danke aber dem Herrgott, daß Er mir meine Augen geöffnet hat und auch die unverdiente Gabe geschenkt hat, viele Opfer der Nachkriegszeit in Kerkern und Konzentrationslagern besucht und getröstet und nicht wenige mit falschen Ausweispapieren ihren Peinigern durch die Flucht in glücklichere Länder entrissen zu haben.“ Dafür spricht auch, dass er recht bald vom Vatikan aus dem Verkehr gezogen wurde, als seine Aktivitäten (das Besorgen gefälschter Papiere, das Verstecken der Verbrecher, die Organisation der Flucht) zu offensichtlich ruchbar geworden waren. Seine letzten Jahre verbrachte er in Rom als Privatmann – soweit bei einem Priester davon gesprochen werden kann.

21 So kam es mir damals vor, aber ich weiß nichts Genaues mehr über diesen Tag; es kann auch sein, dass ich die Wehmut nur sehen wollte; so wie ich sie heute mir erinnere.

22 Genauer gesagt – wieder im religiösen Sinne – konnte mich Gott nicht überraschen, aber sehr wohl die unübersehbare Menge an Möglichkeiten menschlichen Handelns, die zu unerwünschten oder ungewollten Ergebnissen führte; dass sich darin – zu Grunde gelegt, dass die Zeit Gottes eine andere ist als die der Menschen – dann ein Wirken Gottes oder eine Emanation seines Heilsplans den Gläubigen zeitigen konnte, ist in dieser Hinsicht schon wieder nicht mehr überraschend.

23 Hier scheint es sich um eine schlechte Übersetzung aus einem italienischen Text zu handeln. Ich hatte versucht, an Gemeinde- oder Pfarrzeitungen in Rom zu kommen, um aus reiner Neugier festzustellen, ob er auch dort mit dieser Art von vita Erwähnung fand. Ich sah nur einige unkommentierte Todesnachrichten.