In den Tagen des Kaisers Augustus

Das Verfassen und das Lesen von historischen Romanen gehört heutigentags zu den intellektuellen Vergnügungen des Bildungsbürgertums. Nun ist der historische Roman nicht unbedingt eine Erfindung der Postmoderne, um diesen unhandlichen Begriff einmal zu gebrauchen1. Schon immer war die Darstellung vergangener Epochen und darin vorgekommener Ereignisse oder von Ereignissen, die darin hätten vorkommen können, jenseits der historiografischen Erzählung, ein Mittel zur Erbauung und Unterhaltung des Publikums, eine Möglichkeit, mit literarischen Mitteln pädagogischen und wohl auch politischen Einfluss zu erlangen und auszuüben. Nehmen wir als Beispiele „Der Kampf um Rom“ (Felix Dahn; der Roman gilt als Warnung vor Dekadenz wie vor nationaler Überschätzung), „Rienzi, der letzte Tribun“ (Edward Bulwer-Lytton, romantische Faszination des Individuums), „Ben Hur (Lew Wallace; christliche Ausrichtung in Auseinandersetzung mit der aufklärerischen Moderne 2), „Quo vadis“ (Henryk Sienkiewicz, christlich wieder, diesmal in Auseinandersetzung mit nationaler und kultureller Unterdrückung), aber auch Hervorbringungen wie „Cromwell“ oder „Hannibal“ (Mirko Jelusich, österreichisch-nationalsozialistisches Führerbeispiel), dazu im Gegensatz Werke wie das grandiose Fragment „Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar“ (Bertold Brecht, hier kommt der historische Materialismus zu Wort). Immer finden wir in der Interpretation der historischen Ereignisse und an den in diese eingeführten fiktiven Personen den Anspruch, Fragen der Gegenwart zu beantworten und das geneigte Publikum mit den Ansichten des Autors zu indoktrinieren.


Der aktuelle, heutige historische Roman verzichtet aber darauf, uns an Hand der Darstellungen Nutzanwendungen zu präsentieren und uns aus der Geschichte lernen zu lassen. Vielmehr entspricht diese Variante von Roman eher den Themenparks und der Eventtouristik und passt sich auch mit entsprechenden ökonomischen Erfolgen in diese Geschäftsbereiche ein. So gesehen entspringt das Interesse des Publikums auch längst nicht mehr dem historistischen Unterfangen, die Geschichte für die Gegenwart auf die eine oder ander Art nutzbar zu machen, die unser aktuelles Dasein legitimieren und rechtfertigen könnte, uns zu Vollstreckerinnen und Vervollkommnern der Anstrengungen der Vorfahren zu machen. Vielmehr ist das Eintauchen in die Vergangenheit durchaus mit einem Abenteuerurlaub vergleichbar, dessen gütlicher Ausgang garantiert ist, wenn auch die momentanen Herausforderungen schon dazu angetan sind, ein kleines Adrenalinflash genießen zu können: der historische Roman also ein literarisches Disneyland.


Die Herausforderungen, die er bereit hält, sind durchaus intellektueller Art: entweder wegen des Vergnügens, die Fehler in der historischen Darstellung herauszufinden, oder wegen der Freude an gelungener Dechiffrierung und Aufkärung überlieferter Wundererzählungen, Sagen oder Legenden.
Oft wird dem auch noch Rechnung getragen, indem am Ende mancher Romane der Verweis auf die Quellen dem Publikum nahe gebracht und penibel aufgelistet wird, welche Figuren fiktiv sind und welche überliefert. Die Fantasie der AutorInnen stößt dabei auf die Erwartungshaltungen der LeserInnen und beide ergänzen einander zum gegenseitigen Nutzen (sowohl auf der Gebrauchswert- wie auf der Tauschwertebene. Anders gesagt drücken die Verkaufszahlen beiderseitige Befriedigung aus). Dabei ist das Schema einfach; einfach zu verstehen und einfach durchzuführen. Ein bekanntes vergangenes Ereignis wird zur Folie, auf der nun sich die Erzählung entfaltet. Nein, kein Ereignis, es handelt sich mehr um eine bekannte vergangene Umgebung. Eine mittelalterliche Stadt beispielsweise oder eine antike, in der sich die Aktivitäten eines Romanhelden entfalten, und zwar dergestalt, dass die historische Folie wie ein Theaterprospekt wirkt, wie eine Guckkastenbühne, in der immer wieder in verschiedenen Kostümen und Kulissen das ewig gleiche Stück gegeben wird. Kriminalkommissare und Bankiers, Geheimdienstler und Privatdedektive gibt es dann in Karthago, in italienischen Klöstern oder im Ägypten der Pharaonen, dazu auch die entsprechenden amourösen Verwicklungen und richtige Liebesgeschichten.


Wenn kein Verbrechen oder Geheimnis aufgeklärt wird, dann wird die Geschichte neu erzählt und zwar so, dass der Held, der dann vielleicht kein Arzt, die Heldin, die dann vielleicht keine Äbtissin ist, mehr als eine zufällig in s Geschehen gestolperte Nebenperson ist. Eher erscheinen sie als Hauptfiguren, die in ihrer Subjektivität die historischen Größen in den Schatten stellen, grade so, als wären diese ohne jene gar nicht möglich. Dabei handelt es sich auch gar nicht um eine Widerspiegelung des beliebten oral history der Achtzigerjahre des verwichenen Jahrhunderts, das sich noch um die wenn nicht gerade aufklärerische, so doch sympathische Sicht des Volkes, respective dessen unterer Schichten handelte, sondern um die während der Neunziger- und Zweitausenderjahre immer stärker um sich greifende Betonung des autonomen Individuums. Während die Betonung des oral history in guter aufklärerischer Manier (wie wir es auch vom historiografischen Ansatz der annales-Schule, später auch von Foucault kennen) die eingeforderte Objektivität zu Gunsten der einfachen Leute und des alltäglichen Erfahrungshorizont zu verschieben suchte, so wird in den historischen Romanen unserer Zeit die Subjektivität auf dem Hintergrund der überlieferten Geschehnisse zum wahren Helden. Und alles hätte ganz anders ablaufen können und ist im Roman nur deswegen nicht anders abgelaufen, weil die Geschichtsbücher nichts anderes überliefern. Gerade dies aber rückt die Subjektivität von etwa Bernie Gunther oder Richard Sharpe oder Antigonos dermaßen in den Vordergrund, dass deren Fährnisse von den Anstrengungen Philip Kerrs, Bernard Cornwells oder Gisbert Haefs’ übertroffen werden, die Geschichte doch vielleicht noch zu ändern (was ja doch nicht gelingen kann, und daraus zu lernen verbietet sich ohnehin, nachdem die Protagonisten in Wirklichkeit nur ihre Erfolge erzählen, unabhängig davon, wie es dem Dritten Reich und anderen Diktaturen, wie es Hannibal oder Nelson ergangen sein mag).


Und nun zu etwas ganz anderem.
Wir können heute ein Reihe von neunzehn Romanen lesen – antiquarisch oder als e-book –, die nie als historische Romane geschrieben wurden, aber uns heute als solche begegnen. Ich spreche von den Geschichten über Dr. David Audley vom britischen Auslandsgeheimdienst, die uns Anthony Price hinterlassen hat. Ich sage „hinterlassen“, weil er zu schreiben aufgehört hat. Ich überlasse es den geneigten LeserInnen, sich selbst über Mr Price zu informieren; nur so viel als Einstieg: http://www.existentialennui.com/2011/08/interview-with-anthony-price-author-of.html. Was in diesen Interviews nicht angesprochen wird (oder bloß am Rande), ist eben der historistische Aspekt. Der erste Band aus der Reihe (The Labyrinth Makers, deutsch: Labyrinth) entstand 1970 (auf deutsch erschienen bei Ullstein 1986, vergriffen). Es handelt sich dabei bloß um eine der damals üblichen Geheimdienstgeschichten, die gegenüber anderen Hervorbringungen dieses Genres vor allem durch den Erfindungsreichtum und die Fantasie des Plots hervorsticht sowie durch die literarischen Qualitäten und die (gerne mit allen Vorlieben, auch und vor allem für Rudyard Kipling zur Schau gestellte) erworbene Bildung des Autors. So etwa wird ein Verlobungspräsent überreicht, eine Ausgabe von Tolkiens „Der Herr der Ringe“ mit der Widmung: „Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn – but may you never be sad“. Der Autor mutet also seinem englischen Publikum einiges zu: Nicht nur, dass es deutsch verstehen sollte, es sollte auch Heine erkennen (der im Text dann erwähnt wird), vor allem aber wissen, dass sich die Glückwunschzeile auf die nicht zitierten ersten zwei Zeilen der Strophe bezieht. An dieser Stelle sei auch gleich der Hinweis angebracht, dass das Buch (und alle anderen in der Folge) vorzugsweise in der englischen Sprache zu lesen ist. Dabei sei auch noch in einem Nachsatz der Stil des Autors hervorgehoben (und gelobt), der die Spannung der Geschichten nicht aus der Schilderung der action bezieht, sondern aus der fein ziselierten, psychologisch durchgearbeiteten Dialogregie.


Bemerkenswert wäre auch noch, dass die Geschichte sich ganz im Rahmen der Trivialliteratur des Kalten Krieges aufhält mit bösen Russen und guten Briten (und Amerikanern, wiewohl diese etwas herablassend vom Autor und seiner sehr britischen Personnage behandelt werden) und Anthony Price nicht die geringsten Anstrengungen macht, seinen ideologischen, konservativen Hintergrund zu verbergen; abgesehen davon, dass er unter den Kalten Kriegern bei aller Ablehnung des von der UdSSR dominierten Ostblocks doch die Seite der Tauben einnimmt.


Und genau dies macht jetzt das Besondere dieser Reihe aus: ein Szenario, das sich zeitlich von 1968 3 bis zum Ende der Achtzigerjahre mit Glasnost und Perestroika und dem Ende des Kalten Kriegs hinzieht. Allerdings wurden diese Romane als zeitgenössische thriller geschrieben, sie sind sozusagen Quellen und Zeitzeugen in einem. Natürlich bieten sie das Vergnügen, das historische Romane im Allgemeinen bereitstellen 4. Verdoppelt wird das Vergnügen dadurch, dass die historische Epoche des Kalten Kriegs zwar nicht so lange zurück liegt, dass die Älteren unter uns sich daran und an die damit verbundenen ideologischen Auseinandersetzungen – auch in der eigenen Biografie – nicht noch erinnern könnten. Zusätzlich aber wird eine Dimension in  die Lektüre eingeführt, die daran gemahnt, wie schnell wir vergessen (Wer war noch einmal Malenkow? Wie war das mit ihm und Chruschtschow? Wie kam Breschnew in s Spiel?), wie schnell wir uns an unsere heutigen Verhältnisse gewöhnt haben und ohne daran zu denken, wie oft mühselig sie zu Stande gekommen sind. Price beschreibt eine gesellschaftliche Stellung von Frauen, die wir heute nur noch aus der – eben – Literatur kennen oder vielleicht noch – wieder wir Älteren – aus unserer Kindheit und Jugend. Dabei zeigt er sich als der durchaus wohlwollende liberale Konservative, der gegen etwaige Emanzipationen nichts einzuwenden hat, Taube also auch hier.


Für die Jüngeren ist ein zusätzliches Vergnügen am nun historisch gewordenen Roman dadurch gewährleistet, dass ihnen eine Art Quellentext an die Hand gegeben wird, der mehr anbietet als der übliche historische Roman: Nicht nur der thriller in einer vergangenen Zeit steht zur Debatte, sondern der Autor selbst. Er schreibt nicht nur einen gelungenen Agentenroman, sondern beschreibt auch gleichzeitig sich selbst und seine Zeit – die des Kalten Kriegs – und seine Auseinandersetzung mit ihr. Er beschreibt also auch – nolens volens und der Effekt stellt sich eben erst in diesen heutigen Tagen ein – das Leben und die Entwicklung dieses Lebens, dieses gesellschaftlichen Lebens im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Der Charme dieser Beschreibung aber besteht darin, dass sie vom Autor nicht erst durch langes Studium errungen werden muss. Er muss sich nicht in vergangene Zeiten hineinversetzen, wissenschaftlich, hermeneutisch, aufklärend. Nein, er erzählt frei von der Leber weg, plaudert aus der Schule, illustriert, was er sieht und erlebt, macht sein berufliches Engagement und seine persönlichen gesellschaftlichen und politischen Einstellungen zum Hintergrund gelungener, auch literarisch gelungener Agentenromane und es ist nur eine nette abschließende Pointe, dass Anthony Price Historiker ist.

 


1 Ich behaupte, dass der Begriff der Postmoderne nichts definiert außer eine schwachbrüstige Chronologie (die Zeit nach der „Moderne“, wobei Moderne auch nur eine inhaltlose Chronologie definiert, die sich auf die Zeit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht), inhaltlich haben wir es mit einer ästhetisch-ideologischen Ausrichtung zu tun, die wir schon aus der Romantik kennen, und wenn wir genau hinsehen, können wir die vorgeblich reaktionären, gegenaufklärerischen Momente auch nicht wirklich wahrnehmen, jedenfalls sind sie nicht stärker präsent als in Fortschrittsparadigma und Aufklärung.

2 Ich verwende den Begriff „Moderne“ in Anlehnung von FN 1 schlicht als Epochenname für die bürgerliche Gesellschaft.

3 Eigentlich von 1940 weg, aber das ist das schon der Vollständigkeit der Serie geschuldet; wie so oft beginnt eine Romanserie mit einem bestimmten Ereignis, das im ersten Band eben 1968 stattfindet, die Entwicklung der Helden wird dann weiter fortgeschrieben, später kommen Ergänzungen, die Lücken schließen oder vorher stattgefunden Entwicklungen erklären sollen, hinzu. So werden hier auch noch Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg eingeführt sowie aus der Bohèmezeit des Helden nach dem Krieg, in der er rekrutiert wird.

4 Interessanterweise zitiert Anthony Price im Band „Kein Platz für Krieger“ (Soldiers no more) geradezu unverschämt das Verfassen von historischen Romanen.