Ein garstig Lied

J. W. v. Goethe, Faust. In Auerbachs Keller

Ted Gioia ist ein Musiker im doppelten oder dreifachen Sinn des Worts. Er ist Jazzpianist, er ist ein höchst profunder Autor auf dem Gebiet der Musikgeschichte, auch der politischen Geschichte der Musik; so hat er etwa unter dem Titel „The Red-rumor Blues“ (Los Angeles Times vom 23. April 2006) die Verfolgungen des Mitarbeiters der Library of Congress und bekannten Sammlers von folk und blues Alan Lomax durch das FBI bekannt gemacht. Und drittens kennt er den Kapitalismus und damit auch dessen Musikgeschäft nicht zuletzt aus einer Tätigkeit im Silicon Valley, wo er für eine Risikokapitalgesellschaft gearbeitet hat.

Ted Gioia hat 2019 bei Basic Books, New York, ein Buch herausgebracht: Music. A Subversive History. Nun ist es ein gut gepflegter Allgemeinplatz, so genannte Geschichte von unten zu allen möglichen Aspekten und Themen zu verfassen; das verkauft sich oft ganz gut. Ted Gioia tanzt da aus der Reihe und auch das ist subversiv. Was aber ist das Subversive an seiner Musikgeschichte? Es ist jedenfalls kein Katalog von Protestliedern oder Auseinandersetzungen mit den Mächtigen, auch wenn dies natürlich vorkommt und sogar einen breiten Platz im Buch einnimmt, es ist nicht um die Frage herum verfasst, ob Kunst die Welt verändern oder verbessern könne. Es geht vielmehr darum, dass das Buch auf einigen Thesen aufbaut, die gegen die herkömmliche Rezeptions- und Musikgeschichte gerichtet sind.

Gioia geht davon aus, dass die Musik, wie auch die Sprache, mit den Menschen entstanden, in ihnen angelegt ist. Musik und Sprache sind also keine Erfindung der Menschen, sondern in ihnen, das heißt in ihrem Leben und ihrer Umwelt, verankert. Das zeigt sich in der historischen Darstellung Gioias beispielsweise darin, dass er Dichterinnen wie Sappho oder Gelehrte wie Abaelardus als MusikerInnen betrachtet und beschreibt. Wenn er dabei aus dem Briefwechsel zwischen Abaelardus und Heloisa zitiert, wo sie ihm schreibt, dass seine Liebeslieder in Paris vom Volk gesungen werden, dann brüstet sich Gioia nicht mit einer neuen Entdeckung. Der Briefwechsel war ja längst bekannt und herausgegeben. Gioia macht nur darauf aufmerksam, was alles nicht in die Geschichte der Musik eingegangen ist, und macht sich daran, für dieses Verschweigen, dieses zensierte und bearbeitete Narrativ der Musikgeschichte Gründe zu finden und sie dem Publikum nahezubringen.

Gioia legt dabei seiner Arbeit eine These zu Grunde, die da lautet, dass alle Neuerung der Musik aus den Unterschichten und von den gesellschaftlichen Außenseitern gekommen ist, die Kodifizierung der Musik aber durch die gesellschaftlichen Eliten und die jeweiligen Insider und Machthaber vollzogen und verordnet wurde. Gioia verfolgt diese These durch einen Zeitraum von einigen tausend Jahren, von der griechischen Antike über das südfranzösische Mittelalter, die deutsche Klassik und Romantik bis zur zeitgenössischen Unterhaltungsmusik der US-amerikanischen Musikindustrie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Dazu macht er einige interessante Anmerkungen zu möglichen prähistorischen Musikformen, die an Jagd oder Hirtenwirtschaft gebunden sind; ebenso macht er auf die Verbindung von Musik und Fruchtbarkeit im Feldbau und auf die Verbindung von Musik und Krieg aufmerksam wie auch auf die Verbindung von Musik und schöpferischen Tätigkeiten, die prima vista nichts mit Musik zu tun haben. Das Buch ist auch als eine Zusammenfassung des opus magnum Gioias anzusehen, als Ausfluss der drei großen Studien „Work Songs“ und „Healing Songs“ (beide 2006 erschienen) und „Love Songs. The Hidden History“ (aus 2015).

So weit also eine kurze zusammenfassende Einleitung zum Buch und nun einige Beispiele, die dies erweitern und Lust auf die Lektüre dieser wirklich ausgezeichneten Arbeit machen sollen. Beginnen wir mit der Antike. Hier stellt Gioia vor allem Pythagoras und Platon vor; den einen mit einer Mathematisierung (und damit der Möglichkeit nun eindeutiger Notierung und Aufzeichnung) von Musik, den anderen mit einer Anweisung, welche Lieder in der Polis und bei der politischen Erziehung von wem (von alten, weisen, erfahrenen Männern natürlich) gesungen und weitergegeben werden sollen. Das bekannte Wirken der beiden Philosophen kontrastiert er mit Hinweisen auf barbarische Ursprünge von Musik beziehungsweise deren Zähmung oder Ausschluss, etwa damit, dass die gefährlichsten, am meisten aufregenden modi nach barbarischen Völkern benannt sind: phrygisch und lydisch.

Ein ähnliches Beispiel bietet uns Gioia an, wenn er von den qiyan erzählt, weiblichen unfreien Unterhaltungskünstlerinnen der arabischen Kultur, die über das maurische Spanien die Grundlagen für die Musik der trobadors und der weiblichen trobairitz in Okzitanien lieferten. Auch hier verfolgt Gioia konsequent seine zu Grunde gelegte These; dass nämlich Musik – neue Musik – von den gesellschaftlich Randständigen stammt, ihre Annahme, Zähmung, Kodifizierung und Legitimierung aber von den Eliten gemacht wird. Die versklavten, zur Unterhaltung geschulten und ausgebildeten qiyan hatten den Ton sexuell konnotierter Texte und Musik zum Gefallen ihrer Herren an arabischen Höfen entwickelt; an den okzitanischen und aquitanischen Höfen wurde diese Art von Musik und Dichtung von den Herren und Herrinnen selbst gepflogen, nachdem das Anstößige der maurischen Vorlagen zum fin’amor, zur cour d’amour gemendelt wurde. Als Ahnherr gilt dann natürlich Wilhelm (1071-1126), der neunte Herzog von Aquitanien und siebente Graf von Poitiers.

Gioia erzählt also von zweierlei: von der unterdrückten Musik unterdrückter, randständiger Leute und von der kodifizierten akademischen Musikgeschichte der westlichen Kultur und ihrer Gesellschaften. Auf seinem historischen Parforceritt macht er an verschiedenen Stationen halte, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben außer der konstruierten, unterlegten geschichtlichen Kontinuität; Kontinuität im Sinne einer immerwährenden Gültigkeit der zentralen These Gioia, Kontinuität auch im Sinne eines mehrheitsfähigen Historismus, der einen geschichtlichen Fluss menschlicher ungebrochener Entwicklung von der Antike bis zum Silicon Valley sieht.

Wo er sich dann länger aufhält, sind die Kristallisationspunkte seiner subversiven Geschichte. So verweilt er bei der deutschen Musik der Klassik und Romantik, nicht um sich mit dem Geniekult der nachfolgenden Generationen gegenüber Gluck, Mozart, Haydn, Beethoven aufzuhalten, sondern mit deren sozialer Stellung als Lakaien am Hof, mit ihrem Ringen um Freiheit, das nicht ohne Zufall mit der französischen Revolution zusammenfiel. Und er denunziert an der Romantik und deren Nachfolgern vor allem das plötzlich Nationale an der Musik, nicht ohne über den Nationalismus – nicht nur in der Musik, sondern in der westlichen Ideen- und Philosophiegeschichte selbst – ein paar wohl angebrachte bissige Äußerungen zu verlieren.

Die musikalische Avantgarde der symphonischen Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts übergeht er: kein Charles Yves, kein Edgard Varèse in den USA, keine Zweite Wiener Schule, keine Darmstädter Ferienkurse in Europa. Man müsste seine Thesen weiterdenken und diese Avantgarde als weiteres Beispiel für Kodifizierung und Legitimierung durch die Akademien des herrschenden Kulturbetriebs sehen, deren Eliten das breite Publikum von der Teilhabe ausschließen. Platon lässt grüßen.

Dafür widmet er sich der Musik in den USA, wo er wieder die grundlegenden Erneuerungen bei den Unterschichten findet, in der überwiegenden Hauptsache bei der schwarzen Bevölkerung (er spricht von Afrikanisierung der Musik), teilweise auch bei europäischen Immigranten (erstaunlich hoch ist da der jüdische Anteil) und verarmten Landarbeitern und Hillbillies, also den Kuhhirten und Hinterwäldlern hinter den Hügeln. Wieder beschreibt er die Musik der Außenseiter, wieder zeigt er, wie sie von den Insidern verarbeitet und reglementiert wird. Diesmal sind es erst die Herren der großen Plattenfirmen, dann der IT-Konzerne, für die Musik kein Geschäft ist, sondern eine Zugabe zu ihrem eigentlichen Geschäftsbereich. Sie behaupten: „We don’t sell music.“ Sie produzieren und verkaufen Hardware, Software, Daten und Plattformen. Mit dieser für die Musik pessimistischen Ökonomie- und Gesellschaftskritik schließt er, rechnet aber wieder mit einem musikalischen Aufstand, wie er solche durch viertausend Jahre verfolgt und wie er ihn auch in einem Publikumsverhalten gefunden hat, das sich gegen algorithmisch produzierte Musik auflehnt.

A Subversive History: Es ist eine Geschichte der Subversion, es ist aber auch eine Subversion der Geschichtsschreibung. Viel Vertrautes fehlt oder wird erschüttert. So macht Gioia beispielsweise keinen Unterschied zwischen E-, U- und Popmusik, lässt sich nicht auf akademische Differenzierungen ein, lässt dafür aber Musik (muzak), die heutzutage überall zu hören ist (auch gegen den guten Geschmack), zu ihrem Recht als Gegenstand der Untersuchung kommen. Auch wegen dieser hellsichtigen Unvoreingenommenheit sei das Buch empfohlen und den Verlagen eine deutsche Übersetzung angeraten.