Dichtung und Wahrheit – wieder einmal

Man schlägt den Sack (Handke) und meint den Esel (das eigene schlechte Gewissen)

Also hat Peter Handke den Nobelpreis für Literatur bekommen. Die Reaktion in Österreich darauf war bemerkenswert: Es wurde in Feuilletons und Leitartikeln, in Comedy-Shows und Diskussionen landauf landab die Person des Ausgezeichneten ebenso in Frage gestellt wie die Zurechnungsfähigkeit der schwedischen Akademie. Festgemacht wurde die Empörung über die Zuerkennung an der, wie in der nahezu von selbst gleichgeschalteten Presse Österreichs zu lesen ist, „proserbischen Haltung“ des Literaten.

Nicht einmal als die Wahl der schwedischen Akademie der Wissenschaften auf Elfriede Jelinek gefallen war, hatte sich der Boulevard dermaßen entrüstet. Dies mag daran liegen, dass Jelinek – wie viele andere ihrer Generation – einerseits ihre Vehemenz, auch linksgerichtete Vehemenz abgelegt hatte, ohne ihre frühere Radikalität zu verleugnen, eine Radikalität, die wohl auch der Rückständigkeit ihrer österreichischen Heimat geschuldet sein mag. Mit einer neu erlangten Weltoffenheit Österreichs nämlich, vielleicht erzwungen durch den EU-Beitritt, vielleicht auch nur durch postmoderne Permissivität quasi osmotisch zu Stande gekommen, wurden andererseits die Rebellen der Avantgarde der Nachkriegszeit oder der 68er eingemeindet und dem klassischen Kanon auf Bühnen und in Schulbüchern hinzugefügt und mit eigenen Museen gewürdigt.

Peter Handke wurde dieses Glück nicht zuteil; wahrscheinlich auch deswegen, weil er von Anbeginn des Rebellischen, des Revolutionären, des Avantgardistischen im Literaturbetrieb entsagte. Eher war er, sehr österreichisch, der kleinteiligen Ästhetik zugewandt, ein Meister dieser minimalen Form, wobei minimal sich nicht unbedingt auf den Umfang beziehen muss. Eher meine ich den inhaltlichen Minimalismus, die Beschränkung der künstlerischen Anstrengung auf ein einziges Thema: die Verfasstheit, die Befindlichkeit des Schaffenden – keine Kritik gesellschaftlicher Zustände, dafür das Herausziselieren der psychischen Zustände des Individuums, dessen Leiden wohl in ihm selbst befangen und mittels Bildungsroman zu überwinden sei.

Handke wurde in Ruhe gelassen. Er ist ein moderner Adalbert Stifter (und der ist nicht das schlechteste Vorbild, gemessen an den anderen österreichischen Schreibern): schrullig, zurückgezogen auf sich selbst, mit den Eigenheiten und Eigentümlichkeiten des Landlebens und der Großstadt auf vertrautem Fuß und mit einer literarischen Produktion, die das kleine Glück, öfter aber Unglück zum Inhalt hat. Dem Publikum wurde er nur zweimal auffällig gemacht; einmal mit seiner „Publikumsbeschimpfung“, die als Kuriosum hingenommen wurde und ihm weiter nichts antat, das andere mal aber, als er „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ mit dem Untertitel „Gerechtigkeit für Serbien“ veröffentlich hatte. 1996 erst in zwei Wochenendausgaben der „Süddeutschen Zeitung“, dann als Buch im Suhrkampverlag erschienen, sorgte das Buch für Erregung, weil es die EU- und Nato- und BRD/Österreich-Politik, die zur Zerschlagung Jugoslawiens geführt hatte, in Frage gestellt hatte.

In Frage gestellt? Dass Handke seine Position, seinen Platz als schrulliger, liebenswerter, eigenbrödlerischer Künster aufgegeben und verlassen haben sollte? Und sich öffentlich zu Äußerungen hinreißen hätte lassen? Aber er hatte doch auf dem Leichenbegängnis des Milošević gesprochen! Und der Untertitel seinen Essays über den Ausflug nach Serbien sprach doch Bände (auch wenn der Band nur sehr dünn ist)! Als ich im Fernsehen Ausschnitte aus Handkes Grabrede hörte, wo er davon sprach, nichts zu wissen, da beschloss ich, anlässlich der Nobelpreisverleihung wieder einmal Handke zu lesen.

Ich hatte in jungen Jahren „Die Hornissen“ gelesen und mich durch das Buch gekämpft, nicht weil es mir gefallen oder mich angesprochen hatte, sondern um mit der vollzogenen Lektüre bei Gleichaltrigen angeben zu können. Vielleicht hat dies meinen Bezug zu Handke vorgeprägt. Dazu kann ich mich noch an ein zwei Beiträge von ihm in einem aufmüpfigen Jugendjournal aus evangelischer Herkunft erinnern und wenn diese Erinnerung nicht trübt, war ich von der Schönheit der Sprache angetan. Und das sollte auch – bis heute – mein Kritikpunkt und meine Differenz sein und bleiben – ich kann mit der Virtuosität der Schönheit wenig anfangen. Das betrifft aber nicht nur Handke. Das gilt auch für Leo Perutz oder Gustav Klimt oder Richard Strauss. Das aufmüpfige Jugendmagazin (ich glaube, es hieß „Opal“) hatte auch kein langes Leben, aber das hat mit Handke nichts mehr zu tun.

Ich hatte aber schon früher vorgehabt, mich mit Handke wieder auseinanderzusetzen, und zwar anlässlich eines 2012 erschienen Essays „Versuch über den Stillen Ort“. Ich kaufte mir also das Buch – und ließ es liegen, bis jetzt. Dann bekam der Dichter den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, mit den erwähnten Nebengeräuschen, und ich machte mich daran, vor dem Stillen Ort die Winterliche Reise zu lesen, nur um zu dem feuilletonistischen Rumoren auch den Grund dafür an die Hand zu bekommen.

Vorausgeschickt sei, dass der Text möglicherweise in Österreich nie hätte erscheinen können; in keinem Verlag und in keinem Journal. Vielleicht hätte das „Profil“ sich zugetraut, Handkes Text zu veröffentlichen. Aber dieses Magazin hatte sich 1992 ja schon mit Rudolf Burgers Philippika und Hubertus Czernins Leitartikel (beide Österreichs Außenpolitik gegenüber Jugoslawien in Frage stellend und Österreichs Außenpolitik geißelnd) in die Nesseln gesetzt. Doch worum ging es in dem Text aus dem Jahr 1996? Als Handke ihn schrieb, waren die kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien großteils schon beendet, die Massaker und Kriegsverbrechen begangen, Grenzen neu gezogen, Jugoslawien bis auf einen traurigten Rest ganz und gar zerschlagen (ein Jugoslawien, das übrigens kein Vielvölkerstaat, entgegen der EU-, NATO- und BRD/Österreichpropaganda, war. Wenn es denn einer gewesen wäre, dann wären auch BRD und Österreich mit ihren Bayern, Sachsen und Preußen [ebenso zerschlagen nach dem Zeiten Weltkrieg durch Siegerjustiz] oder mit ihren Kärntnern [älter als Österreich], Tirolern und Österreichern solche gewesen oder wären es noch immer).

Wovon aber handelt nun dieser Text, den bis heute wohl nur wenige derer gelesen haben, die nun gegen Handke vom Leder ziehen? Handke bleibt sich treu: Er schreibt vom kleinen Glück, in diesem Fall Unglück. Er erlaubt sich keine politische Parteinahme. Er leidet nur und mit ihm seine Freunde, alle aus Serbien, aber dépaysés und déracinés (entwurzelt; aber was ist entlandet?). Mehr oder weniger widerstrebend machen sie sich mit ihm auf die Reise und bevor diese angegetreten wird, führt uns Handke in all die Widersprüchlichkeiten dieser Reise ein: nach Serbien; mit Freunden, dem Land als Arbeits- oder Kultur- oder Gelegenheitsmigranten schon längst entfremdet und in der neuen Heimat Deutschland in sonderbaren Stellungen; ohne wirklich zu wissen, was die Reisenden suchen oder anzutreffen wünschen.

Und bevor sie aufbrechen, erzählt Handke von all den falschen Darstellungen, Verdrehungen und Hintergehungen, deren er in der veröffentlichten Meinung der deutschen, österreichischen und französischen Presse ansichtig wurde. Nach Maßstäben der Logik wie des Hausverstands meint er, gäbe es da vieles, das nicht stimmig, nicht wahr, nicht glaubhaft wäre, und hier ist dann auch der Grund für seinen Aufbruch nach Serbien im Winter zu sehen. Aber wohlgemerkt: Handke fährt nicht, um dieses zu falsifizieren und jenes zurechtzurücken. Er fährt, als wäre nichts geschehen, mit Freunden andere Freunde besuchen, deren frühere (oder noch immer währende) Lebensgefährtinnen, deren Familien, und man bespricht die Verhältnisse, die politischen, als wären sie das Wetter. Mit der „Gerechtigkeit für Serbien“ aus dem Untertitel ist es nicht weit her – es sei denn, wir wollten akzeptieren, dass sich die Gerechtigkeit für Serbien darauf beschränkt, dass das Land mit der gleichen literarischen Ästhetik beschrieben wird wie jedes andere Land, jedes andere Sujet auch.

Dabei muss angemerkt werde, dass Handke, wenn er auch keine eindeutige politische Stellungnahme in diesem Text vorträgt, so doch das Publikum in einem emotionalen Zauber gefangen nimmt, der durch die Schönheit der Sprache, aber auch durch die persönliche Parteilosigkeit etwas mit den Lesenden anstellt. Unversehens werden sie mit den Menschen konfrontiert, die mit den Kriegen, die sich eben vor oder in ihrer Haustür ereignet haben, nichts anfangen können, verzweifelt sprachlos darauf reagieren und eine imaginierte Realität, einen kontrollierten Wahsinn dem entgegenstellen, das ihre bisherige Lebensführung in Frage gestellt hat. Dabei lässt Handke auch serbischen Alltagsverstand zu Wort kommen, der die Führung, die da oben, no na, verantwortlich macht. Können wir da von Gerechtigkeit sprechen in dem Sinn, den übelwollende KommentatorInnen und IdeologieproduzentInnen dem Dichter als Parteinahme für Kriegsverursacher und – schlimmer noch – Kriegsverbrecher unterstellen? Eher schreibt Handke von Hilflosigkeit und dem Verlust von Orientierung und sein Ruf nach Gerechtigkeit fordert bloß, dass auch „SerbInnen“, die ihr Jugoslawien verloren haben, dieselbe Opferposition wie anderen BewohnerInnen zugestanden werde.

Damit begnügt sich Handke und im Grund genommen ist sein Text nichts als ein himmelschreiendes Dokument der Hilflosigkeit, der irgendwie beizukommen sein soll, und sei es nur, indem man der Presse nicht glaubt und die Kontakte mit anderen Menschen nicht aufgibt (was in Zeiten wie diesen auch nicht gerade wenig und doch mutig ist).

Dann war es auch keine große Überraschung, im „Versuch über den Stillen Ort“ dieselbe und die gleiche literarische wie auch menschliche Herangehensweise anzutreffen. Wieder wird die aufmerksame, vielleicht noch wenig geneigte LeserIn in ein Universum hineingezogen, das sich zunächst der sogar liebevollen Betrachtung ebenso, entsprechend dem bürgerlichen commeilfaut, entzieht wie Serbien. Doch der Wortmagier, der Textzauberer Handke erlaubt es, selbst das Scheißhaus zu literarischen Ehren zu führen, ohne dabei irgendeiner Peinlichkeit sich schuldig zu machen – eine Leistung, die doch gewisse Bewunderung zu erwarten hat.

Was also unter dem Strich bleibt: Handke erzählt, seit er schreibt und Geschriebenes veröffentlicht, bloß von sich. Das ist noch nicht so schlimm, wie es klingt. Goethe hat nichts anderes gemacht und Lukacs hat nichts daran kritisiert. Und dass jedes Thema auf die eigene Betroffenheit und die eigene Entwicklung zurückgeführt werden kann, ist nichts Besonderes. Dass dies Thema der Betroffenheit, die man sich zu eigen macht, der eigenen Verwicklung, in höchster Virtuosität verhandelt wird, ist auch nichts Neues. Richard Strauss, der Meister des „Rosenkavalier“ und der „Salome“, machte sich bekanntlich anheischig, selbst das Telefonbuch vertonen zu können. Und war s auch ein Scherz, so doch einer cum grano salis. In der Oper „Intermezzo“, in der sich Strauss selbst portraitierte und seine Ehe ebenso zum Sujet machte wie in der symphonischen Dichtung „Ein Heldenleben“, war aus dem Scherz Ernst geworden. War es auch kein Telefonbuch, so doch ein häusliches Streiten und Versöhnen. Und Handke hat nichts anderes getan, als sich dieser Ästhetik der Virtuosität zu befleißigen, was natürlich nicht heißen kann, dass er zu denken aufhört.

Ich möchte also beinahe mit „Eine spätherbstliche Reise zu besonderen Büchern – Gerechtigkeit für Handke“ schließen und es ist die wohl unverdächtige – in unseren linken Kreisen doch noch unverdächtige – Elfriede Jelinek, die Handke die etwas verquere Ehrenrettung anbietet:

„Man müßte sonst einem antisemitischen Ungeheuer wie Céline jeden literarischen Rang absprechen, und er ist doch zweifellos einer der Bedeutendsten“, so Jelinek und nennt als weitere Beispiele Knut Hamsun und Ezra Pound. „Wenn alle in eine Richtung rennen, müssen die Künstler als einzige in die andre, das ist nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht, auch wenn ihnen dabei noch so viele entgegenkommen, die keineswegs entgegenkommend zu ihnen sind. Das muß man dann halt aushalten.“ (https://k.at/news/laut-jelinek-hat-handke-nobelpreis-zehnmal-verdient/400665017)

Nun ja; sie trifft das Wesentliche. Bürgerliche Ästhetik gegen bürgerliche Sektiererei und Ideologieproduktion zu verteidigen, ist nicht jedermanns Sache, vor allem dann, wenn die Virtuosenästhetik zum bekannten, seit anderthalb Jahrhunderten bekannten l’art pour l’art wird.
Dennoch: Jelinek hätte auch sagen können: „Handke hat Recht gehabt.“ Sie sagt es nicht und es ist ein wenig verstörend, Handke mit Faschisten (oder deren Sympathisanten) wie den zitierten ineins gestellt zu sehen.

Ihr habt meine Einwände gegen die Winterliche Reise  gesehen. Das Buch hat mir gefallen. Es ist in einer wunderbaren Sprache geschrieben (in der gleichen wie auch der Stille Ort), die ein Vergnügen bietet, gelesen zu werden; es beschreibt Schicksale, die nicht unberührt lassen und das eine oder andere Weinen hervorrufen mögen (wie im Stillen Ort, der mich auch und wiederum an Abort- und Selchkammergerüche gemahnte [die Selchkammer war neben dem Abort und eine gute Senkgrube stinkt nicht]). Vielleicht ist es diese persönliche Ansprache, die die IdeologieproduzentInnen und die WahrheitsmacherInnen und ApologetInnen der Genscher-Mock-Politik der Zerschlagung Jugoslawiens so erregt, weil sie genau von deren Wahrheitsproduktion ablenkt und zum Persönlichen hinführt.

Nichts und niemand hat die EU gehindert, Jugoslawien eine Beitrittsperspektive anzubieten: „Aber nur als Gesamtstaat.“ UÇK, Tuðman, Milošević, Slowenien, Kroatien und Kosovo hätte es nie gegeben und Handke hätte die Winterliche Reise nicht schreiben müssen. Statt dessen hat die EU die Sezessionen und deren Kriege auf dem Balkan mit verantwortet und angetrieben. Erinnern wir uns: Für einige Jahre war die D-Mark Währung auf dem Balkan. Erinnern wir uns: Plötzlich musste eine Schengen-Außengrenze zwischen „Slowenien“ und „Kroatien“ auch physisch installiert werden, die nach einigen Jahren wieder abgebaut werden wird, wenn dann „Kroatien“ ein Schengen-Land geworden ist. Es sind Absurditäten dieser Art, die Handke in seinem Essay anspricht, nicht einmal grob oder polemisch, eher nachdenklich und sehr persönlich. Und es stößt mir sonderbar auf, virtuose bürgerliche Ästhetik gegen Angriffe bürgerlicher Ideologie verteidigen und mich nicht um Kommunismus kümmern zu sollen.