Take up the White Man’s burden
Send forth the best ye breed
Go bind your sons to exile
To serve your captives’ need
(Rudyard Kipling)

We shall overcome some day
(traditional)

Wir leben in Zeiten, in denen es aussieht, als sollten sich alle Vorurteile gegenüber der islamischen Welt bestätigen. Das letzte Stichwort haben die Ereignisse zur Sylvesternacht 2015 in Köln geliefert und schon tönt es allüberall: „Aufklärung, Aufklärung!“ Willkommensgrüße, die an den Grenzen unseres Lands in Form von Flugblättern mit Verhaltensanweisungen verteilt werden, sollen die Ankommenden darauf aufmerksam machen, dass in unseren Breiten Frauen respektvoll zu begegnen sei, grad so, als würde dies nur in Teilen Europas und Nordamerikas geschehen und ansonsten sexuelle Übergriffe die übliche Verhaltensweise im Rest der (unzivilisierten) Welt sein.

Ebenso lässt sich von maßgeblicher politischer Seite wie auch von christkatholischen Würdenträgern erfahren, dass der Islam erst einmal seine Aufklärung durchmachen müsse, was das Christentum schon vollzogen hätte; grad so, als wäre die Aufklärung, die philosophische Ausrichtung der bürgerlichen Gesellschaft, eine Errungenschaft der unae sanctae catholicae ecclesiae und nicht geradewegs gegen sie gerichtet gewesen. Dieser Art von Geschichtsklitterung lässt uns der österreichische Kardinal teilhaftig werden, der nebenbei eine besonders gewiefte Variante des Kreationismus salonfähig machen möchte.

Dies alles auf dem Hintergrund terroristischer und krimineller Vorkommnisse, die Täter und Opfer aber auf eine ganz bestimmte, quasi subkutane Weise verbinden: Beide wissen darum, dass es sich um Angriffe auf den „Westen“ handelt; auf eine bestimmte Lebensweise, eine angeblich moralisch permissive, liberale Denkart, die zwar die Freiheit der individuellen Subjekte betont, diese Freiheit aber bloß benutzt, um damit andere Lebensweisen zu denunzieren und in ihrer Praxis zu beschneiden. Der Vorwurf lautet, dass die Betonung der Freiheit nicht mit einer Verfechtung von Gleichheit einhergeht, dass also nicht europäisch-amerikanische „Werte“ ungleich behandelt und als niedriger, unvollkommener, weniger entwickelt eingeschätzt werden.

Der Vorwurf lautet, dass die einzige Garantie von Bestand die des Privateigentums sei, andere Formen von Eigentum würden keine Geltung haben. Dass die Zerstörung von Eigentum, das nicht privat war, das kollektiv oder überhaupt kein Eigentum war, bei uns so gründlich vorgenommen wurde, dass keine Spur davon – nicht in der kollektiven Erinnerung und ökonomisch bloß in marginalen Randbereichen – übrig bleibt, steht auf einem andern Blatt. Der Vorwurf lautet, dass nur individualisierte, egoistische Handlungsformen als gesellschaftlich gültig und tugendhaft anerkannt werden, egal, was islamische Scharia oder konfuzianische Lehre dazu sagen. Die Auseinandersetzung damit ist Anathema – andere Tugenden als die bürgerlichen sind mittelalterlich, feudal, rückständig, reaktionär. Dass dies als Vorwand gilt, die ganze Welt mit unseren Vorstellungen zu überziehen, weil wir keine anderen haben, aber für die ganze Welt sprechen wollen, steht auf einem anderen Blatt.

In dieser Zeit intellektueller Schrumpfung und ideologischer Verkürzung schreibt ein Mann ein Buch. Der Mann heißt Pankaj Mishra und der Titel des Buchs lautet „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“. Erschienen ist es zuerst 2011 in Großbritannien, 2013 hat der S. Fischer Verlag die deutsche Ausgabe besorgt. 2015 habe ich diese Ausgabe gelesen. Heute empfehle ich sie als wichtige Lektüre, die durchaus zu Herzen geht, aber auch das Hirn und die darin abgespeicherten westlichen, europäisch-amerikanischen Vorstellungen anzurühren vermag.

Pankaj Mishra schreibt über moslemische, indische und osmanische, sowie über konfuzianische chinesische Intellektuelle, die in einem Konflikt mit dem Westen und mit ihren eigenen Traditionen standen. Sehr oft wurde in diesen Konflikten mehr oder weniger kritisch oder affirmativ eine „westliche“ Position übernommen: in politischer Hinsicht eine Hinwendung zu Demokratie, Liberalismus und nationaler Selbstbestimmung. Dazu kam eine Annahme und Anwendung westlicher Bildung und Ausbildung, westlicher Philosophie und Wissenschaft. Dies geschah durchaus mit dem Wunsch, diese Errungenschaften der Entwicklung der eigenen zu Grunde gerichteten Gesellschaften – durch Freihandel und Kolonialismus oder beides, durch westlichen Imperialismus jedenfalls – dienstbar zu machen.

Pankaj Mishra schreibt auch über das Ambivalente dieser Wünsche, wenn er das Schwanken seiner Helden zwischen der Enttäuschung über die eigenen geschwächten Traditionen und der Enttäuschung über die gebrochenen oder nie gemachten Versprechen des Westens zum Thema macht. Das Buch rankt sich um die Biografien von Sayyid Jamal ad-Din al-Afghani, einem im wahrsten Sinne des Wortes internationalistisch wie auch islamisch ausgerichteten Lehrer, Philosophen, Berater, Aktivisten und was der Zuschreibungen da noch mehr, von Liang Qichiao, einem traditionell konfuzianisch ausgebildeten und erzogenen kaiserlichen Beamten, der zum von der Kaiserinwitwe verfolgten Reformer und zum Parteigänger und Unterstützer von Sun Zhonshang (Sun Yat-sen) wurde und sich enttäuscht wieder den Lehren von Kong Fuzi zuwandte. Der dritte, den Mishra vorstellt, ist Rabindranath Tagore, der auch die Ausbildung im Westen und die ökonomisch erfolgreiche Kollaboration seiner Familie mit den Briten kennt und der sich darauf einer Hinwendung zur hinduistischen und ländlichen Tradition Indiens verschreibt und zum schärfsten Kritiker westlicher Lebensweise wird.

Pankaj Mishra macht aber diese Biografien zu etwas Paradigmatischem und gleichzeitig Nebensächlichem. Paradigmatisch, weil die Beschreibung der Leben in typische Vorkommnisse und Diskurse des zwanzigsten Jahrhunderts eingebettet sind, nebensächlich, weil der Hauptheld des Buchs der Antiimperialismus sowie die Verletzung der Gesellschaften des Ostens durch den Imperialismus ist. Es ist dieser Held des Buchs, der es wirklich interessant und lesenswert macht, wenigstens für ein westliches Publikum. Mishra schlägt einen Perspektivenwechsel vor, nein, er drängt ihn auf, aber unter der Hand, allmählich. Man hat das Gefühl, man ist selbst darauf gekommen.

Worauf? Zum Beispiel darauf, dass es keinen Grund für die Eroberungen gegeben hat, die der Westen unter dem Banner des Freihandels durchführte. Zum Beispiel darauf, dass die Geschichte Asiens in der bürgerlichen Epoche Europas ab dem späten achtzehnten Jahrhundert eine Geschichte von Demütigungen ist, die bis heute nicht geheilt sind. China weist etwa das Angebot (recte: die Forderung) Großbritanniens ab, gegenseitigen Handel zu betreiben. Der Kaiserhof bleibt höflich, aber in der Sache eindeutig: Man habe alles und in besserer Qualität, als es England liefern könne. Der Opiumkrieg hat in dieser Ablehnung seinen Ursprung. Er veränderte die Handelsbilanz, die bislang zu Gunsten Chinas das europäische Silber in das Reich der Mitte durch die Ausfuhr von Seide, Porzellan und Tee gebracht hatte. Der militärisch abgesicherte Drogenhandel der East India Company zog das Silber wieder zurück.

Die antiimperialistischen Intellektuellen erlebten und thematisierten diese und ähnliche Vorkommnisse als Zwang zu einem Kontakt, den sie nicht wollten, der ihnen nichts brachte und den sie bislang nur aus Höflichkeit, Kuriosität und streng reglementiert und beschränkt zugelassen hatten. Ähnliches wie für China galt für Japan und Indien. Ein besonders gelungenes starkes Stück leisteten sich die imperialistischen Mächte gegenüber dem osmanischen Reich. Hatten sie doch eben sich dazu durchgerungen, Religion zur Privatsache zu erklären, die Kirche vom Staat zu trennen, und Religionsfreiheit als Menschenrecht verkündet, so machten sie sich nun daran, unter dem Deckmantel der Schutzmächte der Christen in der Türkei in die Politik der Hohen Pforte direkt einzugreifen. Es bedarf keiner Worte, dass dies mit den alten Religionen nichts zu tun hatte, sondern mit der neuen des Freihandels.

All dies wurde in antiimperialistischen Zirkeln thematisiert und diskutiert mit der Absicht, die alte Größe wieder herzustellen, die Barbaren auf den ihnen gebührenden Platz zu verweisen. Wir machen uns wohl auch in unseren heutigen aufgeklärten Zeiten keinen Begriff davon, was es bedeutet, dass eben noch die üblichen diplomatischen Umgangsformen und Gepflogenheiten gegolten hatten mit dem gegenseitigen Austausch von Geschenken und Botschaftern, im Übrigen der Kontakt mit dem Westen auf Enklaven an der Küste beschränkt blieb, die ihnen zugestanden wurden. So hatten sich Mongolenkhane, Moguln und Maha Radjas, Kaiser aus dem Reich der Mitte und Shogune aus dem Reich der aufgehenden Sonne gegenüber den Langnasen und Rundaugen und wie wir sonst genannt wurden, wohlwollend und höflich verhalten. Und quasi von einem Tag auf den anderen waren diese alten Zivilisationen als Barbaren abgestempelt, denen der höfliche Umgang nicht mehr zugestanden werden wollte – von eben jenen, die Jahrhunderte lang nur als Bittsteller an den Höfen auftauchten, als Abgesandte und Reisende weit entfernter, unbedeutender kleiner Länder, die es ohne Karten und Kompass trotzdem hierher geschafft hatten.

Pankaj Mishra beschreibt in seinem Buch die Anfänge des antiimperialistischen  Diskurses und seine Entwicklung bis in die heutigen Zeiten. In diesen Zusammenhang stellt er die Gründung der Muslimbrüderschaft und die Entstehung des Salafismus ebenso wie die Kommunistische Partei Chinas. Für westliche Gemüter mag das schon aufrührerisch klingen und nur bestätigen, dass Extremisten immer vor allem eines gemeinsam haben: Gewalt und Verachtung der Menschenrechte. Aber das westliche Gemüt sieht dabei nicht, dass es nur eine Minderheitenposition einnimmt und die Rechnung für gewaltsamen Minderheitenschutz präsentiert bekommt.

Wichtiger und interessanter ist meiner Meinung nach aber, dass dieses Zusammendenken von KPCh und etwa al-Qaida nur Entwicklung und Geschichte des Antiimperialismus ausmacht. Und es ist kein Zufall, dass der Westen den Ideologien von Marxismus-Leninismus und Mao Zedong Ideen (Mao Zedong Sixiang) oder Islamismus nicht auf der Ebene historischer Gewordenheit begegnet, sondern bloß auf der Ebene der Denunziation von Gewalt, nicht zuletzt um die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen und hinter der eigenen Ideologie und Rechtfertigung zu versammeln1. Mishra macht es sich dabei nicht zur Aufgabe, zur Gewalt Stellung zu beziehen, die eine zu befürworten oder zu rechtfertigen, die andere zu verdammen. Er beschreibt nur, was geschehen ist, und das eben mit dem oben angesprochenen Vorschlag eines Perspektivenwechsels.

Ein weiteres, sehr interessantes Beispiel dafür diskutiert er am Ende des Ersten Weltkriegs und zur Zeit der Russischen Revolution und der Pariser Friedenskonferenzen. Bei seiner Darstellung steht dabei die Enttäuschung der antiimperialistischen Vertreter und Diplomaten Asiens im Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist aber gerade für westliche Linke ein Detail interessant: dass nämlich für die antiimperialistische asiatische Intelligenz Wilson und Lenin auf gleicher Ebene wahrgenommen wurden. Beide versprachen sie den unterdrückten Völkern nationale Selbstbestimmung, beide wurden daran gemessen, wie sie dieses Versprechen einlösten oder damit an der allgemeinen politischen Entwicklung scheiterten. Beide wurden als „Westler“ gesehen. Für alte westliche Linke (auch Rechte?) ist es wohl überraschend, die Vertreter der „Klassenfeinde“ durchaus logisch in einem Boot zu sehen. Auch ein sehr sprechendes Detail in diesem Buch ist, dass die Gründung des Staats Israel als westliches Projekt wahrgenommen wird, nicht als jüdisches – was immer auch jüdisch sein mag; aber Mishra verwendet diese Zuschreibung ohnehin nicht. Bei ihm klingt das so:

„Ein weiterer verheerender Schlag für das Ansehen des Westens war die 1948 auf palästinensischem Territorium erfolgte Gründung des Staates Israel: Sie bestätigte die Doppelzüngigkeit, die der Westen 1916 mit dem (von Lenin nach der bolschewistischen Revolution enthüllten) Geheimabkommen zwischen Sykes und Picot bewiesen hatte, durch das Briten und Franzosen die arabischsprachigen Länder nach dem Ersten Weltkrieg unter sich aufzuteilen gedachten. Und die auf der Pariser Friedenskonferenz an den Tag gelegte Arroganz schien durch die Schaffung einer aus europäischen Siedlern bestehenden Nation im Nahen Osten institutionalisiert zu werden.“

Europäische Siedler? Zionismus also ein vom Westen ausgelagertes, externalisiertes Problem mit seinem Antisemitismus? Auch hier nüchterner, aber überraschender Perspektivenwechsel, der im europäischen Diskurs, im westlichen, im linken Diskurs nicht vorkommt. Oder wenn diese andere Perspektive hin und wieder vorgekommen war, dann war sie unterdrückt, nicht beachtet, verächtlich gemacht worden. So geschah es auch der großen Rosa Luxemburg, der einzigen, die in ihrer Imperialismustheorie das Leid, die Verbrechen, die Demütigungen, die die imperialistische Politik über die unterworfenen Völker brachte, denunzierte und zum Ausgangspunkt ihrer Rechtfertigung von Revolutionen machte. Und natürlich wurde ihr dieser Standpunkt als weiblich zum Vorwurf gemacht.

So weit so gut. Das Buch sei empfohlen, die aufmerksame Lektüre an s Herz gelegt. Ein kommentiertes Literaturverzeichnis, weitab von der üblichen Eitelkeit wissenschaftlicher Apparate am Ende von Büchern, lädt zum weiteren Studium ein und erlaubt Einblicke in die intellektuelle und politische Entwicklung des Autors (und Asiens). Seinem Werk ist ein Nachwort beigefügt, dessen Lektüre nicht lohnt. Zwar schreibt Detlev Claussen durchaus wohlwollend und etwas paternalistisch über das Buch von Pankaj Mishra, aber akademische Dünkel verführen ihn dazu, Korrekturen und Anmerkungen anzubringen, die womöglich gar nicht stimmen, auf jeden Fall aber den Schluss zulassen, dass er sich auf Mishras Logik nicht einlässt oder – wahrscheinlicher – sie nicht verstanden hat.


1„Je suis Charlie“ war ein besonders fragwürdiges Beispiel von Solidarität; die Redaktion des überfallenen Satiremagazins hat sich dann auch selbst desavouiert, indem sie auf die Kölner Ereignisse mit einer Karikatur reagierte, die die Frage stellte, was wohl aus Aylan, dem ertrunkenen Flüchtlingsbub, geworden wäre, hätte er überlebt, und die Antwort gab: „Ein Grapscher in Deutschland“. Im Übrigen verweise ich auf eines meiner Lieblingscomics, auf „Hägar, der Schreckliche“. Der wird auf einer Wikingfahrt von einem Mönch gestellt, der ihm entgegenschleudert: „Bedenke: Gewalt führt nur zu Gegengewalt“, worauf Hägar etwas nachdenklich, aber freundlich antwortet: „Klingt fair.“