Über die Lebenden und die Toten

Ich möchte hier ein Buch vorstellen, das ich nur zur Hälfte gelesen habe. Das liegt daran, dass es auf Deutsch und auf Tschechisch erschienen ist, und ich der tschechischen Sprache nicht mächtig bin. Begonnen hat aber alles auf einem Flohmarkt:  

Dort wurde eine Mappe erstanden, die die kompletten Noten des Orchesterstimmensatzes der Ouverture zur Zauberflöte enthielt. Die Mappe war arg zerrissen und bezog sich außerdem mit einem aufgeklebten Etikett gar nicht auf die Ouverture zur Zauberflöte, sondern zum Freischütz. Den gedruckten Noten – in Pultausfertigung, Breitkopf und Härtel – waren noch drei handschriftliche Blätter beigefügt, die die Noten für drei Posaunenstimmen enthielten, die zwar in den Breitkopf & Härtel-Noten vorlagen, aber offensichtlich handelte es sich um ein Arrangement. Die gedruckten Blätter jedoch trugen alle den Gummistempelabdruck „Vom k. k. n.-ö. Landes-Schulrathe concessionierte Privat-Musikschule Schallinger Wien, X., Landgutgasse Nr. 31“. Das ganze Konvolut erhielt ich von einer Freundin zu einem Geburtstag geschenkt.  

Da ich selbst weder Orchester noch Opernhaus leite, legte ich die Kuriosität – in allen Ehren – zunächst auf ein paar Jahre (wohl Jahrzehnte) zur Seite. Irgendwann kroch die Mappe aber wieder in meine Hände. Und nun wurde ich neugierig. Ich begann zu recherchieren, zunächst nur deswegen, weil die Adresse der Musikschule in der Nähe meiner Wohnung war. Sehr schnell konnte ich herausfinden, dass es die Schule nicht mehr gab, aber einige Querverbindungen konnte ich ausfindig machen und so stieß ich auf den Namen Ludwiga Reich, die mit dieser Schule zu tun haben musste. Da beim Namen auch eine Emailadresse stand, schrieb ich. Der Name tauchte dann auch auf der homepage des Verlagshauses Lojze Wieser auf, zusammen mit einem Buch „Das steinerne Archiv von Ivančice – Kamenný archiv v Ivančicích“ (Klagenfurt 2016).  

Ich erhielt nach ein paar Tagen Antwort von Frau Reich. An dieser Stelle muss ich dankbar anmerken, dass sie mir immer schnell, freundlich und kompetent geantwortet hat, wenn ich sie mit weiterem Nachfragen belästigt habe. Was ich schon vorher herausgefunden hatte, war, dass Friedrich Gulda sen., der Vater des Pianisten und Großvater der Pianisten, an dieser Schule Cello unterrichtet hatte. Ebenso wurden unter den Lehrkräften Richard Stöhr (emigriert 1938, Lehrer von Karajan, Bernstein und anderen) und Alois Hába (aktiv in der europäischen Avantgarde seit den 1920ern bis zu den Musikfesten in Donaueschingen, Lehrer von Gideon Klein und anderen) aufgeführt.  

Was Frau Reich mir schrieb, ergänzte meine Recherchen um ihren persönlichen Bezug – sie ist Nachlassverwalterin der Musikschule Schallinger; die Leiterin der Schule, nach dem frühen Tod Walter Schallingers, des Sohnes von Otto Ewald Schallinger, dem Schulgründer und zeitweiligem Brucknerschüler und -verehrer, als Reich wiederverheiratet, war die Mutter von Frau Ludwiga Reich. Und hier zog sie mich in den Bann ihres Buchs, dessen Lektüre ich nun dringend empfehle. Zwar schreibt sie eingangs, dass es eine Verkettung von Zufällen war, die sie nach Ivančice geführt hatte, aber dort traf sie nicht nur auf den ältesten jüdischen Friedhof Mährens, sondern auch auf Teile der Geschichte ihrer Familie und der Musikschule ihrer Familie. Sowohl die Familie Schallinger als auch die Familie Gulda stammen aus diesem Ort. Der Geschichte dieser Familien und des Orts, aus dem sie stammen, ist Ludwiga Reich nun nachgegangen, ausgehend vom jüdischen Friedhof und verbunden mit ihm.  

Was in dem Buch dann geschieht und es großartig zu lesen macht, ist das Folgende: Wir finden hier weder eine auf den Holocaust beschränkte Geschichte noch den apologetischen Unfug, der TschechInnen und ÖsterreicherInnen in eine gemeinsame Geschichte spannt – das hat sich spätestens aufgehört, als Přemysl Otakar II in Dürnkrut sein Leben ließ und die Wiener und österreichische Bevölkerung, nachdem sie schon dem böhmischen Nachbarn gehuldigt hatte, das Leben als Lakaien und Hoflieferanten der Habsburger vorzogen, nicht ohne die Kuenringer, loyale Ministerialen der Babenberger und Parteigänger des Otakar, ihrem nun propagierten schlechten Ruf als Raubritter zu überlassen (das mag vielleicht als eine sehr verspätete, dafür verkürzte, polemische Anmerkung des Schreibers dieser Zeilen durchgehen).  

Was wir statt dessen zu lesen bekommen, ist eine Geschichte (mit persönlichen Anmerkungen verbrämt) der Beziehung zwischen verschiedenen Stadtbevölkerungen – Großstadt, Kleinstadt, große Kleinstadt, böhmisch, mährisch, deutsch – und verschiedenen urbanen Identitäten, wohlgemerkt, nicht ethnischen oder rassischen. Das sollte erst viel später, viel kürzer, aber umso mörderischer, seine Rolle spielen. Ludwiga Reich jedoch bliebt in ihrem Bezugsrahmen einer jüdischen Stadtbevölkerung in einer mährischen Stadt, eigentlich von zwei Städten: Sie erzählt, wie Jüdinnen und Juden von der tschechisch sprechenden Nachbarschaft als Deutsche wahrgenommen wurden, sie erzählt eine Geschichte von kleinlichen (es gibt kein deutsches Wort für „petty“) Nationalismen. Und sie erzählt von religiöser, naja, nicht Toleranz, aber immerhin Indifferenz, wenn sie bei der Beschreibung des jüdischen Friedhofs von Ivančice von den religiösen Juden spricht (wir befinden uns im 19. Jahrhundert, das mit Religion sparsam umzugehen lernt), deren Rabbi aber mit Darwin korrespondiert, wenn sie vom christlichen Einfluss auf jüdische Begräbnissitten im späten 19. Jahrhundert erzählt – man könnte diese Veränderung von Begräbnissitten auch an anderen, christlichen, Friedhöfen nachzeichnen, wo neben christlichen religiösen Symbolen auch andere auftauchen – verlöschende Fackeln, trauernde Genien und Ähnliches. Sie erzählt noch viel mehr: von Solidarität und Zusammenhalt in der Zeit der nationalsozialistischen Katastrophe beispielsweise, aber ich will nicht das ganze Buch hier vorwegnehmen.  

Bleiben wir also bei Schallinger. Die Beziehung der Familie Schallinger zu Wien ist kein Einzelfall – weder die Beziehung zu einem anderen urbanen Kreis, noch die Familie selbst. Frau Reich beschreibt als ein ähnliches Beispiel ausführlich neben der Geschichte ihrer eigenen Angehörigen die Fährnisse der Familie Adler: vom wohltätigen Arzt, der Tag und Nacht, auf dem Pferd oder im Wagen, unentgeltlich für die Armen unterwegs ist (ein oft anzutreffender topos der Lokalgeschichte: Ich wurde noch in meiner Volksschulzeit unter dem rubrum Heimatkunde mit der Lebensgeschichte des Arztes Dr. Höpfler konfrontiert, der im 23. Wiener Bezirk, in Atzgersdorf, als Wohltäter bekannt war), bis zu seinem Sohn, dem von den Faschisten verfemten Begründer des Fachs Musikwissenschaft an der Wiener Universität (und Freunds Gustav Mahlers, über den er ein wunderbares Buch geschrieben hatte) Guido Adler.  

Daneben tauchen auch immer wieder die Abschweifungen zur Familie Gulda auf (vormals Kulda), die sowohl in Ivančice als auch in Wien auf die Familie Schallinger traf oder wenigstens mit ihr lebte – deutsch die eine, tschechisch die andere, jüdisch die eine, katholisch die andere.  

Es ist wohltuend, diese Sichtweise in dem Buch Ludwiga Reichs mitmachen zu können: Keine Versöhnung unter (noch immer) imperialen Ansprüchen österreichischer Geschichtsschreibung (wie es – ich komme nicht umhin, dies zu monieren – Erhard Busek bei einer Präsentation des Buchs von Frau Reich unternahm: unhöflich genug, mit paternalistischem Grinsen von „Ziaglbeem“ zu sprechen anstatt von Tschechen, und das vor einem Publikum, das wohl zur Hälfte tschechisch war; man sollte ihm den Švejk um die Ohren schlagen und dabei nicht an sein – Buseks – Alter denken), keine moralische Pflichtübung angesichts des Mordes an der jüdischen Bevölkerung Europas; statt dessen eine klare und stringente Darstellung der Geschichte einer mährischen Stadt und der Beziehung ihrer Bevölkerung zur habsburgischen Metropole auch an Hand der Darstellung der eigenen, sehr zurückgenommenen Familiengeschichte.  

Ich habe in diesem Buch keines der wohlfeilen clichés gefunden, die gerne in Zusammenhang mit österreichischer Geschichte apologetisch verwendet werden. Dass hier aus einem ganz anderen Blickwinkel berichtet und erzählt wird, betont auch die zweisprachige Gestaltung des Bands, der in Lojze Wiesers Verlag erschien. Hier haben wir es aber nicht mit dem üblichen Programm zu tun, das auch gerne einmal staatstragend wirken möchte. Das Tschechische des vorliegenden Bands ist alles andere als staatstragend und auf Grund seiner schieren Existenz wohl dazu angetan, österreichiche Geschichte und österreichische Ideologie einmal hintanzustellen. Dass dazu Ludwiga Reich einlädt, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden.