1848 – 1918 – 1998

 

1848

Europa ruft nach der Verfassung. Die Menschenrechte sind schon bekannt, in großspurige Deklarationen gegossen, jetzt sollen sie zum staatsbürgerlichen Vertragswerk werden. Wurde ehedem für die ganze Menschheit gesprochen, so sind es jetzt nur noch Nationen, die sich eine neue Ordnung geben wollen. Das ist zwar allen einsichtig und daher auch nicht weiter aufregend. Bloß ein paar Hitzköpfe meinen, die Sache beschleunigen zu müssen, und erheben neben dem Ruf nach Verfassung auch noch ihre Stimme, um die Republik einzufordern. So stellt sich die Sache in der Rückschau dar, entfernt von der persönlichen Dramatik der Revolutionäre. Die Verfassung war schon längst auf dem Weg, die Menschheit mit nationaler Sinnstiftung zu beglücken - was die Revolutionäre nicht zuwege brachten, holten die Fürsten nach, die Republik wurde vertagt auf kommende Generationen, während die lebenden Geschlechter nach der Entsorgung republikanischer Hitzköpfe sich in den Reichstagen in die bierernsten demokratischen Tugenden der Staatserhaltung einübten. Dazu gehört natürlich auch eine gereinigte Sicht auf die revolutionären Ereignisse, das heißt gar keine: wer sich in der Folge - und das gilt bis heute - auf 1848 beruft, verliert kein Wort über die Republik. Was beschworen wird, sind die Gemeinplätze bürgerlicher Gemeinheit: Redefreiheit, degeneriert zur unverbindlich affirmativen Aussage aus den Talkshows (im Süddeutschen heißt dalken blöde oder kindisch einherreden), Straßeninterviews und Stammtischpolitisierereien („das ist meine Meinung, bittschönsehr, wir leben nämlich in einer Demokratie, da kann jeder sagen, was er will“), Pressefreiheit, diese gedruckte Tautologie der Meinungsfreiheit („wir schreiben nämlich, was unser Publikum lesen will“) und Versammlungsfreiheit, also die staatsbürgerliche Gelegenheit und Verpflichtung, all jene Gemeinheiten der Meinung auch noch in organisierter Form und massenhaft und an jedem Ort („denn wir leben in einer Demokratie“) von sich zu geben, und was da an demokratischen Freiheiten noch alles sein Wesen treibt.

Und während sich unter dieser Beschwörung die misera plebs der demokratischen Politik von links bis rechts mit der Frage herum schlägt, wem nun die Märzgefallenen eigentlich gehören, fragt keines mehr nach der Republik.

Republik ist ein amorphes, gestaltloses Wesen, fast wie aus den Märchen, die etwa zur gleichen Zeit (Jacob Ludwig Karl Grimm: 1812 Herausgabe der Haus- und Kindermärchen, 1837 von König Ernst August von Hannover als Universitätslehrer entlassen, weil er ihn wegen der Aufhebung des Staatsgrundgesetzes im Jahr 1833 des Verfassungs(!)bruchs zieh, 1848 Abgeordneter in der Paulskirche) gesammelt werden; wer sich mit ihr einlässt, muss, scheint es, ein Geheimnis bewahren, darf nichts aus dieser zarten Liebe durch Neugier oder Eifersucht preisgeben; das Unfassbare muss als Liebesbeweis akzeptiert werden. Republik ist der sehnsuchtsvolle Wunsch geworden, die menschliche Ordnung erfüllt, vollendet zu sehen. So wie Undine als die Erfüllung jedweder Lieben erscheint um den Preis ihres Geheimnisses, und ihr Liebhaber nur im Konflikt mit der realen Welt denkbar ist, die ihre Gesetze den Liebenden aufherrscht, so betritt auch Republik nur verbunden mit den Torheiten eines Hecker die Welt, um mit seinem Fall wieder im Wasser zu verschwinden.

Verlange jetzt keins von Euch, ich solle Euch Republik definieren. Ich bin nicht hier, um ihren Zauber zu zerstören. Es genüge Euch, am Rand dieses Wassers zu stehen und zu fragen, ob Ihr Undinen glauben sollt, an Undine glauben könnt. Demokratie ist eine Sache des Wissens. Republik ist eine des Glaubens.

 

1918

Plötzlich ist der Zauber wieder da. Mit den Dynastien verschwinden ihre demokratischen Verfassungen: und hat auch die entente cordiale gelogen, ihr Krieg gegen die Mittelmächte wäre der der aufgeklärten Demokratien gegen die finsteren Absolutisten und Selbstherrscher, so wird auch sie angerührt von einem Auftauchen des Unfassbaren, das noch eine Generation von Revolutionären, Chiliasten und Schwärmern befeuern wird. Wo Du hinschaust, entsteht Republik. Fast scheint es, als wäre die Erlösung entgültig, hätte Undine sich durchgesetzt. Du glaubst mir nicht; aber Du kennst eine, die kennt einen Roten Großvater. Und dann besuch ihn mit ihr und lass ihn reden und warte, ob er Räterepublik oder Rätedemokratie sagt. Du wirst ein Schmecken für geheimes Erkennen bekommen.

Europa ruft wieder einmal nach der Verfassung. Die Menschenrechte sind schon bekannt, in großspurige Deklarationen gegossen, jetzt sollen sie zum staatsbürgerlichen Vertragswerk werden. Wurde ehedem für die ganze Menschheit gesprochen, so sind es jetzt nur noch Nationen, die sich eine neue Ordnung geben wollen. Zwar wird noch eine Konstituante in Russland auseindergejagt, aber den Räten droht bald das gleiche Schicksal. Die revolutionären Torheiten werden unter konstitutionelle Aufsicht gestellt. Undine verliert an Boden. Ihr bleibt noch das Wasser.

Wir wollen in der Rückschau allerdings noch einmal das Großspurige sehen und finden es kaum. Es wäre so leicht gewesen, der Gefahr neuer Verfassungen zu entgehen. Hätte doch nur eins daran gedacht, noch einmal für die ganze Menschheit zu sprechen, auf s Neue die Menschenrechte zu deklarieren! Aber was wir vorgefunden haben, war die erbärmliche Travestie der bürgerlichen Freiheiten, vorgetragen von der Partei einer Klasse, die von sich behauptete, die neue Gesellschaft zu bauen, die neue Zeit zu formen, und sich doch das bürgerliche Verständnis von Arbeit und Geld, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bewahrte. Es war vor allem die Betonung der Freiheit, die alles weitere Scheitern mit sich brachte. Frei von Armut, von Unterdrückung, von Ausbeutung, frei, ihre Vertretung zu bestimmen, so, erklärten die Parteiführer, würden die Menschen in der neuen Zeit werden. Die Republik, die - wahrlich wie ein Geist - durch die Herzen und Vorstellungen der Revolutionäre spukte, fragte aber nicht nach Freiheiten, die nur wegen der Abgrenzung von anderem ihren Sinn hatten. Unerklärt bleibt das Zusammenfinden derer, die die Republik suchen, finden, zu halten und zu verteidigen suchen, sei es die Deutsche (noch einmal), die Spanische oder die der Räte. Das Einverständnis ist nur negativ bestimmt; für Demokratie mag der Bourgeois oder meinetwegen der Führer der Klasse kämpfen. Noch keine Menschenrechte sind neu und in Abstoßung von der bürgerlichen Geselligkeit deklariert, vielleicht war es doch nicht so leicht wie oben angenommen, vielleicht war auch die Travestie keine, sondern die durchaus dramatisch ernst gemeinte Reprise des bürgerlichen Hauptthemas, die es nach der Durchführung durch die Tonarten noch einmal mahnend und triumphierend bestätigt, diesen Dreiklang aus der Harmonie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Das unbestimmbare melos, diesen merkwürdigen Rhytmus der Republik, die alle als das uneingelöste, aber auch als das uneinlösbare Versprechen der bürgerlichen Geselligkeit an s Ohr oder in s Herz dringen, wahrzunehmen und nicht zu vergessen, sich mit diesem Wissen, dieser Erfahrung auf der Schattseite der Gesellschaft anzusiedeln, macht das Wesen der bürgerlichen Revolution aus, und es gehört zu den letzten Leistungen der Revolutionäre, diesen Ort der Verheißung zu denunzieren, nicht mehr der Demokratie die Republik gegenüber zu stellen, Undine nicht mehr zum Maß für die Liebe zu nehmen und beide zusammen den Märchen zurück zu geben.

 

1998

In Hinkunft sollen alle Erhebungen, Schätzungen, Stellungnahmen daran gemessen werden, ob sie sich im Rahmen bürgerlicher Revolution und Geselligkeit bewegen. Beginnen wir gleich. Wer wurde von welchem Teufel geritten, als dieser Artikel in Auftrag gegeben wurde? Welche Zahlenmystik wird da in s Spiel gebracht, wenn auch verkleidet als unschuldiges Gedenken? Kann denn nicht einmal abgesehen werden von dem legitimistischen historischen Blick? Wer feiert da seine Kontinuitäten ab? Wer mutet uns da seinen Wiederholungszwang zu: hundertfünfzig Jahre Revolution und kein Ende abzusehen? Können denn nicht die Toten ihre Toten begraben?

Also zusammenfassend: wo immer die bürgerliche Gesellschaft verspricht, endlich alles einzulösen, wozu sie angetreten ist, taucht ein Schemen auf, der diese Versprechen einmahnt, ein Gespenst, das plötzlich umgeht, und auf die immaterielle Seite der bürgerlichen Geselligkeit verweist. Der Eroberer Robinson Crusoe, der Insel und Freitag kolonialisiert, wird konterkariert vom Grafen Dracula sowie von Dr. Frankensteins Geschöpf. Beide brechen in den bürgerlichen Kosmos ein mit ihren unerfüllbaren Forderungen. Dracula will das Blut einer Gesellschaft, die ihm recht eigentlich entraten hat und als lebensspendenden Saft schon längst das Geld an seine Stelle gesetzt hat. Erst die physische Bedrohung der Körper lässt einen kurzen Moment der Besinnung zu. Das gleiche Moment der Besinnung finden wir, wenn das Geschöpf von Dr. Frankenstein fordert, ihm ein zweites, eine Gefährtin zur Seite zu stellen, was Dr. Frankenstein ablehnt. Die Frage also, wer der bürgerlichen Entwicklung teilhaftig wird, wird von jeher gegen die Fragenden entschieden: die Frage, was die Welt koste, enthält schon die Antwort: „Zuviel, wenn du fragen musst“, und den Ausschluss von der Kommunikation.

So wird folgerichtig der Moment des Innehaltens gleichzeitig zum Moment der Sammlung und Anspannung der Kräfte, der Einschwörung auf die Normalität bürgerlicher Entwicklung, um die einbrechenden Gewalten zu bannen und zu vernichten. Handlungsreisende und Wissenschaftler sprechen das Verdikt über die Kreatur aus, die von den Segnungen der Zivilisation wohl hervorgebracht wurde, aber zu ihnen nicht zugelassen werden. Dr. Frankensteins Geschöpf hat keinen Namen, geschweige denn eine Gefährtin (auf einem anderen Blatt steht die Reihenfolge dieses Schöpfungsmythos; hat das Geschöpf auch keinen Namen, so als Erstgeschaffenes doch ein männliches Geschlecht, Heterosexualität vorausgesetzt: es wünscht sich eine Gefährtin), dem Grafen wird der unbeachtete Überschuss (das Blut) verwehrt, als er die bürgerliche Gesellschaft beim Wort nimmt und sich zu Menschen wie zu Rohstoffen verhält; auch dies gilt nur einem, das die Regeln kennt. Am besten getroffen hat es noch Freitag, denn er bleibt wenigstens am Leben, wenn auch um den Preis der Zivilisation.

Wie Freitag, das Geschöpf und Graf Dracula mit einer geordneten Welt sich herumschlagen müssen, diese Ordnung nirgendwo legitimiert sehen und sie in Frage stellen (oder, im Falle des Geschöpfs, sie voraussetzen und akzeptieren, aber die daraus rührenden Ansprüche unerfüllbar und verwehrt vorfinden), so finden sich immer wieder revolutionäre, leichtgläubige Schwärmer als Tribune (gar nicht des Volks, vielleicht bloß der Wünsche und Möglichkeiten) den Berufsrevolutionären gegenüber (sonderbares Wort; für Kopernigk aus Torun bedeutete revolutio nur die wiederkehrende elliptische Bewegung von Sternen, also Planeten, um eine Sonne, also einen Stern. Das Immerwiederkehrende des Kopernigk aus Torun verwandelte sich bei Kant in die bekannte einmalige kopernikanische Wende, mit der sich Kant selbst legitimierte und in aller Bescheidenheit die bekannte nächsthöhere Instanz zum Zeugen nahm. Nun war Revolution das Einmalige und ging so - immerwiederkehrend - in die calenden der bürgerlichen Geschichten ein. Berufsrevolutuonäre wurden zum Hüter dieses Einmaligen, dem sie ihre privaten Leben opferten, bis die „permanente Revolution“ Lev Trockijs zu den Anfängen zurückkehrte um den Preis der Hingabe an die Republik, vielleicht auch um den Preis der Metaphysik, zwar logisch, aber schwer vorstellbar, wenn eins Trockij, den Berufsrevolutionär kennt).

Können wir Revolution als bürgerliches Paradigma erkennen? Wir können. Lassen wir es dabei bewenden. Künftige Veränderungen werden wir nicht vorausbestimmen, bloß vorbereiten.