1848 oder: Was ist eine Revolution?

 

1848 gilt als das Revolutionsjahr schlechthin. Das hat es übrigens mit dem Jahr 1968 gemeinsam. Zwar ist es so, dass mit der Revolution von 1848 heutigentags nichts mehr verbunden wird, was eins persönlich berührt oder was sein Pathos auf uns Nachgeborene überträgt – und ich behaupte, dass wenigstens für die Generationen nach meiner auch hier die Ähnlichkeit mit 1968 zutrifft. Und wenn in unserer Zeitrechnung wieder eine Jahreszahl mit 8 endet, beginnt das Andenken an all die bedeutungsschwangeren und inhaltsvollen Daten; dann fällt ein: „Ja richtig, auch 1848 war was“, und dann bekomme ich meinen Anruf – in diesem Fall, weil zu 1848 kein Film gefunden wurde.

Also 1848 war was und unsere gemeinsame Aufgabe – meine als des Referenten und Ihre als des Publikums – besteht nun darin, eine Nutzanwendung daraus zu ziehen, denn dies ist ja der Gehalt allen historischen Vortrags: aus der Geschichte zu lernen. Gerade das ist aber bei einem Ereignis wie 1848 gar nicht so einfach, denn woraus sollte so eine Nutzanwendung zu ziehen sein? Was ist denn eigentlich geschehen, woraus wir lernen können? Gut, es gab diese Revolution, sie war offensichtlich großflächig genug, um den halben Kontinent zu erfassen, aber was war ihr Inhalt? Erstaunlich ist ja in diesem inhaltlichen Zusammenhang, dass damals – vielleicht von ein paar Querköpfen wie Marx oder Hecker einmal abgesehen – gar nicht von Revolution die Rede war, eher ging es um Konstitution und Verfassung.

Verständigen wir uns also einmal. Wir Heutigen verstehehn unter Revolution die gewaltsame aber legitime Machtergreifung – ja wessen eigentlich? – gegen einen jedenfalls illegitimen Machthaber, gegen einen Tyrannen, gegen eine nicht gerechtfertigte Herrschaft. Wir kennen die Bilder, die mit dieser Vorstellung von Revolution transportiert werden und die diese Vorstellung von Revolution illustrieren, gebleiten und wohl auch rechtfertigen. Da ist die Barrikade, da ist das unterdrückte Volk, das sich erhebt, da ist die heroische Frau, die dies Geschehen anführt. Delacroix hat dies das erste Mal als Gemälde und als Bild gefasst. Die Freiheit, barfuß und barbusig, rein und keusch, führt das Volk auf die Barrikaden. Ebenso rein und keusch – oder wenigstens mit diesem Bild von Reinheit und Keuschheit –  tritt uns in der Orangen Revolution Julia Timoschenko gegenüber; zwar nicht barbusig, aber die wallende blonde Mähne, die sie gelockt tragen kann wie Farrah Fawcett, ist in einen strengen Zopf gebändigt, den sie wie einen Kranz um den Kopf trägt.

Und so bleiben diese Bilder immer gleich, wenn auch die Verwendung des Begriffs Revolution selbst im Laufe der Zeit ein inflationäres Ausmaß angenommen hat. So müssen zur Unterscheidung der Revolutionen in ihrer Abfolge immer kuriosere Bezeichnungen herhalten, farbliche und stoffliche wie orange oder samtene Revolution, manche erhalten botanische: Nelken-, Tulpen- oder Zedernrevolution. Aber immer wird neben dem Pathos der Legitimität, dass nicht aus Jux und Tollerei zum Aufstand geschritten, die Macht ergriffen, die Herrschaft gestürzt wird, auch das Sentiment der Freundlichkeit, der Verbrüderung, der Verschwisterung, der Vereinigung gerührt. Nur zweimal wurde dieses Bild getrübt, und dies bei den Revolutionen, die wir als die größten empfinden. In Frankreich war es die Zeit des großen Terrors, der grande terreur, und in Russland war es der bewaffnete Aufstand der Bolschewiki. Beide zeichnen sie sie dadurch aus, dass die Verschwisterung gebrochen wurde. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass der Revolution fremde Schichten in das Geschehen eingreifen, Leute, die nicht für bürgerliche Verhältnisse garantieren: die Sansculotten in Frankreich, die Kommunisten in Russland, beide hochgebildete Proletarier oder wenigstens deren Vertreter und Wortführer; ernannt nicht von denen, die sie anführen, auch nicht in autoritärer Selbstherrlichkeit, sondern einer höheren Instanz verantwortlich, nämlich der historischen Mission der Menschheit, ausgedrückt in Robespierre und Lenin.

Und in diesem Fremden kommt aber für uns das Vertraute , wenn auch in negativer Form, zum Ausdruck. Die Revolution ist eine Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger selbst, Angelegenheit der Bourgeoisie und der Citoyens und Citoyennes. In der Form der Revolution kommt zum Ausdruck, dass das bürgerliche Verständnis von Welt, von Gesellschaft, von Geselligkeit, von Unternehmungen immer wieder hergestellt, neu konstituiert werden muss. Und so machen wir uns in unserer Verständigung über 1848, in unserer Spurensuche über unsere Vergangeheit und Herkunft, daran, dieses Konstituieren, dieses Ordnungmachen zu beschreiben und begreifen. Nicht der Umsturz von Verhältnissen ist die Aufgabe von Revolutionen, sondern die Garantie von Verhältnissen, die von vornherein als bedroht betrachtet werden. Es ist diese Bedrohnung apriori, dieses Prekäre, Fragile, Zerbrechliche, Bedrohte, das unser Verständnis von uns selbst ausmacht. Immer steht wer im Wege und will uns vernichten. Schon das erste Dokument bürgerlichgen Ordnungmachens, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, verwendet viel Raum darauf, die Verbrechen des englischen Königs auszubreiten, und erklärt, wie brave Bürger gezwungen seien, doch sich zu erheben. Ich zitiere: „Zwar gebietet Klugheit, daß von langer Zeit her eingeführte Regierungen nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert werden sollen; und demnach hat die Erfahrung von jeher gezeigt, daß Menschen, so lang das Uebel noch zu ertragen ist, lieber leiden und dulden wollen, als sich durch Umstoßung solcher Regierungsformen, zu denen sie gewöhnt sind, selbst Recht und Hülfe verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt, sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen.“

Wir finden hier schon das Paradigma dessen, was künftighin als Revolution bezeichnet werden wird: die Vernunft, die mit der Ordnung einhergeht und sie nicht umstoßen will um kurzfristiger Vorteile willen; die Vernunft, die erkennt, wann der Zeitpunkt gekommen ist, so eine Ordnung umzustoßen der Verbrechen der Gewaltherrscher wegen; die Lage, in der die bedrohten Bürger sich finden und die sie zwingt, sich zu erheben. Diesem Zwang zum Aufstand begegnen wir in der Geschichte der bürgerlichen Geselligkeit immer wieder, teils ideologisch und rechtfertigend, teils auch als Rechtsnorm im Recht auf Widerstand. Hier soll uns der ideologische und rechtfertigende Zugang mehr interessieren, weil er ja an die Vernunft, an die vernünftige Ordnung, die der Einsicht in die Natur folgt, anknüpft. Wollte man nur die vernünftigen, sich selbst beherrschenden Bürger (und wohl auch Bürgerinnen, auch wenn zuerst bloß einige weiße Männer die öffentliche Bühne der emanzipierten Bürgerlichkeit betreten haben und so alle, die es ihnen aus Gründen der Einsicht in Natur und Vernunft gleichtun wollten – Frauen, Neger, Sklaven, Proletariat –, zu einer weiteren Anstrengung von Emazipation verurteilten)  tun und walten lassen, so wäre die Welt wohl schnell das Paradies auf Erden.

Diesen Tonfall finden wir überall, wo sich die bürgerliche Welt über sich selbst äußert. Adam Smith beispielsweise behauptet in seiner Theorie vom Wohlstand der Nationen so eine Vernunft, in diesem Fall eine ökonomische, die den Freihandel nahezu naturgesetzlich hervorbringen will, woran sich dann alle beteiligten Nationen bereichern können. Ohne dies hier zu vertiefen und zu erklären sei doch auf das zentrale Argument hingewiesen. Alle stellen das her, was sie am besten und billigsten herstellen können, und handeln diese Produkte dann untereinander. Und die Pointe ist, dass dieser Handel ohne Einschränkung vor sich gehen soll, was ein Gleichgewicht zum Wohl aller voraussetzen ebenso wie herstellen wird.

Auch hier legt sich der Verdacht nahe, böse, nein, nicht der Vernunft lauschende Mächtige hintertrieben diese prästabilisierte Harmonie. Es ist also die nicht enden wollende Anstrengung, zu der sich emanzipierte, vernünftige Bürger, Mitglieder der Gesellschaft bereit finden müssen, die sie sich antun müssen, die Vernunft, die vernunftmäßige Ordnung immer zu wahren, zu garantieren, zu verteidigen. Wir finden also zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheitsepochen die Vorstellung, dass die gegenwärtigen Zustände höchst prekär sind, zerbrechlich, bedroht, gefährdet. Die bürgerliche Geselligkeit erzählt dabei von sich mit immer neuen Variationen die Geschichte, wie sie, von der Vernunft gut beraten, auf Gewalt verzichtet und den Waffen entsagt hat. Hobbes und nach ihm Rousseau sind die ersten Autoren dieser Erzählung, die uns davon berichtet, dass wir aus dem Naturzustand in einen gesellschaftlichen Zustand getreten sind. Dieser gesellschaftliche Zustand erlaubt es nicht mehr, Kriege zu führen, weil doch nun die Macht (also die bewaffnete Gewalt) an den Staat abgetreten sei und weil die Vernunft nun um allgemeinen Willen selbst die gesellschaftlichenh Fährnisse leitet. Gibt es also nun doch die Einbrüche der Gewalt und die damit verbundene Notwendigkeit, diese abzuwehren, so nur, weil sie von außen kommt, von solchen, die noch nicht diese zivilsatorischen Höhen erreicht haben. Unter der Hand bleibt dabei die Frage unbeantwortet, warum sich die Menschheit im Kampf aller gegen alle des Naturzustands nicht ausgerottet hat.

Aber derlei Spitzfindigkeiten helfen uns bei der Frage nach der Bedeutung von 1848 nicht weiter. Bleiben wir also vielmehr bei der Revolution, von der wir nun mutmaßen, sie sei eine der Norm entsprechende, durchaus angebrachte Bewegung bürgerlicher Öffentlichkeit, bürgerlicher Politik. Und so wurde sie dann auch empfunden, selbst vom König von Preußen, dem die Krone eines national geeinten, bürgerlich verfassten Deutschland mit einem Erbkaiser als Staatsoberhaupt angetragen wurde. Der nämlich wäre mit der Krone durchaus einverstanden gewesen, nicht aber damit, dass sie den „Ludergeruch der Revolution“ an sich trug. Dass aus Untertanen Staatsbürger werden wollten, ging dann doch etwas zu weit; genauer gesagt etwas zu schnell.

Egon Friedmann, der sich Friedell nannte, hat dies wohl erkannt. In seiner Kulturgeschichte der Neuzeit schreibt er, dass alle wichtigen Ereignisse in Europa in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erst im zweiten Anlauf gelangen. Er zählt dabei die Eingung Italiens und die Ereignisse rund um die Einigung Deutschlands auf, er erwähnt dazu die republikanische Regierungsform in Frankreich. Immer ist der erste Versuch mit dem Datum von 1848 verbunden, vielleicht ist noch ein Jahr dazu gtekommen – die Kaiserwürde wurde Friedrich Wilhelm IV. 1849 angetragen –, aber wir sehen dieses Atemholen, diesen Anlauf, der das Revolutionsjahr kennzeichnet; der es kennzeichnet nicht nur als Jahr der Revolution, sondern der gescheiterten Revolution. Dies ist dann wieder eine Gemeinsamkeit von 1848 und 1968: das geteilte und verdoppelte historische Bewusstsein davon, dass die Welt seit diesem Jahr von Grund auf umgestürzt und verändert worden war und dass gleichermaßen nichts erreicht wurde, dass alles, wozu die Revolutionäre angetreten sind, vergeblich oder ohnehin schon vorhanden war oder auch ohne ihr Zutun geschehen wäre. So stark ist dieses Ressentiment der vorgeblichen Erfolgslosigkeit, bezogen auf 1848, dass eine eigene historische Schule, die des deutschen Sonderwegs, auf diesem Scheitern der Revolution beruht und es zur Erklärung all dessen macht, was in der Deutschen Geschichte einen Kulminationspunkt bürgerlicher Barbarei findet.

Wenn wir aber so weit sind, dass wir das Langandauernde an diesem Datum sehen, und es ist wieder der hellsichtige Friedell, der darauf hinweist, dass der Ausgangspunkt schon 1830 zu suchen ist, wenn wir dabei sind, das Konstituierende zu beschreiben, dann zeigt uns Friedell ohnehin das, worum es geht: Die nationale Frage zieht sich durch seine Aufzählung der historischen Ereignisse mit Anlauf hindurch. Dies aber bedeutet zunächst einmal das Neue, aber auch das, was ohnehin schon längst bekannt ist und diskutiert wird, nun aber endlich anerkannt werden soll: dass nämlich die Nation über der Dynastie steht. Hier haben wir es nun wirklich mit dem Unerhörten zu tun, dass für uns aber schon selbstverständlich geworden ist. Für die Leute damals war die Vorstellung, dass Italien ein einziges Gebilde sein soll, das nun geografisch, mit so genannten natürlichen Grenzen definiert ist, ohne die Herrschaft Venedigs oder Roms oder Neapels, das Neue, für das zu kämpfen sich lohnte gegen die Dynastien, die diese Naturgegebenheit nicht akzeptieren wollten. Aber 1848 ist schon der zweite Versuch und das gilt nicht nur für Italien, sondern auch für Deutschland, das seine sogenannten natürlichen Grenzen sucht und eben von  Deutschland und nicht mehr von den deutschen Stämmen spricht.

Dieser Bezug auf das Naturgegebene (wohlgemerkt, auf ein neu definiertes Naturgegebenes, denn Dynastie ist ebenso natürlich oder unnatürlich wie Nation) bringt aber einen vollständigen Umbau des Gemeinwesens, des Politischen mit sich – wenn nicht das Politische erst mit diesem Umbau entsteht. Ist die Verbindung, die gesellschaftliche Verbindung der Leute untereinander nicht mehr der Fürst und sein Gebot, sondern die gemeinsame Nation, dann ist auch der Ort dieser Verbindung nicht mehr das dynastische Reich, sondern der Nationalstaat. Kommen wir hier der Revolution von 1848 auf die Spur? Gut, wir stellen in Rechnung, dass auch die Nation der Natürlichkeit recht eigentlich enträt; mit einer gemeinsamen Abstammung hat sie nichts zu tun; ganze Völkerscharen lösen sich in der neuen Nation auf. Dass eine Elsässerin und erine Bretonin nund beide Französinnen sind, muss erst hergestellt und durchgesetzt werden. Wer weiß heute noch, was ein Savoyarde ist? Frankreich, Italien, Deutschland kämpfen also um diese nationale staatliche Neuordnung, auch Tschechen und Ungarn. Dort gelingt sie noch weniger, aber in der Folge wird niemand auf die Idee kommen, eine historische Theorie des tschechischen Sonderwegs zu verfassen. In Dänemark und Schweden stand die nationalstaatliche Neuordnung ohne große revolutionäre Umschwünge auf der Tagesordnung, der Anstoß Napoleons und der französichen Revolution hatte genügt, in Schweden mit der Bernadotteschen Pointe.

Wenn also Europa um die Verfassung kämpft, so ist dieser Zug der Zeit ein allgemeiner, und es sieht so aus, als wären bloß Fürsten, die diesen Zug nicht erkennen, die Urheber der Revolutionen. Selbst das Manifest des Bundes der Kommunisten, 1848 verfasst und über ganz Europa schnell verbreitet (die schwedische Übersetzung besorgte Pär Götrek), spricht von dieser sonderbaren Situation, dass alles schon auf dem Wege sei. Zwar sich verteidigend gegen die Vorwürfe allzu konservativer Kreise, sie, die Kommunisten, würden bloß alles umstürzen wollen, Familien und Vaterländer zerstören, aber doch auch auf zwiespältige Art beruhigend, wird hier über weite Strecken erklärt, dass und wie dieses Zerstörungswerk ohne Zutun der Kommunisaten, bloß durch die Taten der Bourgeoisie, der Kapitalisten schon längst in die Wege geleitet wurde.

Ist es also nur ein nachholendes Moment, das die deutschen, tschechischen, ungarischen und italienischen Revolutionäre veranlasst hat, sich gegen die dynastische Herrschaft zu erheben und in die Wege zu leiten, was ohnehin schon Standard ist oder in absehbarer Zeit werden muss? Verfassung, Demokratie und ein konstitutionelles Staatsoberhaupt? Nationale Konstitution mit Ideologie und Bildung, Staatswesen und Wirtschaft? Dazu passt das folgende Ereignis: Am 3. Jänner 1848 wird Joseph Jenkins Roberts der erste Präsident von Liberia. 1816 war die American Colonization Sopciety gegründet worden mit dem Vorhaben, sowohl Sklavenhalter als auch Philanthropen und Missionare zufrieden zu stellen. Beide gingen davon aus, dass – vor allem freie – amerikanische Neger in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten nicht integriert werden konnten, es sei denn um den Preis großer gesellschaftlicher Unruhen, so zum Beispiel Henry Clay, Kongressabgeordneter aus Virginia und Abolitionist, der den poltischen Kompromiss mit dem Süden suchte, um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Gleichzeitig aber wuchs die Nachfrage nach agrarischen Rohstoffen aus Afrika. Amerikanische und britische Militäraktionen schufen einen Brückenkopf, der Liberia genannt wurde; das erste Schiff beförderte drei weiße Vertreter der ACS und 88 so genannte schwarze Heimkehrer.

Den Heimkehrern – wohl auf die Reise geschickt als billige Arbeitskräfte – war aber die Heimkehr keine Heimkehr. Land und Leute waren ihnen ebenso fremd wie den Weißen und so wie die Weißen verhielten auch sie sich – als kolonisierende Herren des Landes. Roberts, der die Reise mit seiner Familie gemacht hatte, wurde so vom Arbeiter auf einem Frachtkahn zum Handelsherrn in Elfenbein und Palmprodukten. Einer seiner Brüder ging zurück in die USA, studierte in Massachesetts Medizin und kehrte dann nach Monrovia, benannt nach demn amerikanischen Präsidenten Monroe, zurück, ein anderer wurde der erste methodistoische Bischof in Liberia. Joseph Jenkins war für die Verwaltung der Kolonie als High Sheriff verantwortlich. Er musste also Steuern eintreiben und Aufstände der unzivilisierten Bevölkerung in der Umgebung niederschlagen. Erfolgreich genug wurde er Vizegouverneur und dann Gouverneur, 1847 wurde er vom ersten liberianischen Kongress anlässlich der Unabhängigkeitserklärung zum Präsidenten gewählt. Wir sehen hier die Geschichte der nationalstaatlichen Konstitution in aller Reinheit. Vom Datum her passt was die Betrachtung der Revolution betrifft, scheint diese Episode davon zu erzählen, wie Bürgerlichkeit geht, wenn kein Fürst, kein Dynast im Wege steht, wie erfolgreich der emanzipierte, vernunftgeleitete Mann sein kann, und er braucht nicht einmal weiß zu sein.

Zurück nach Europa, nach Deutschland und Österreich. Was also ist es nun, das uns 1848 zum Revolutionsjahr macht? Noch dazu zum Jahr einer Revolution, die eigentlich niemand gern für sich in Anspruch nimmt. Die Märzgefallenen sind keine Märtyrer, der Feldherr Radetzky dagegen ist populär in einer Art und Weise, die vielleicht als österreichische Nationalidiotie bezeichnet werden müsste, Erzherzog Johann wird mit den Ereignissen in Frankfurt nicht in Verbindung gebracht. Wenigstens für Österreich mag die Erklärung gelten, dass ein österreichischer Nationalismus in gewisser Weise bis zum heutigen Tag etwas Undenkbares ist; abgesehen von Fußball und Schifahren, wobei die Fixierung auf die Beine einer genaueren Untersuchung noch harrt. Noch heute gilt, wer als national apostrophiert wird, als deutschnational und dieses Erbe ist dikreditiert durch die Politik Nationalsozialismus. Wenigstens für Österreich muss dies bedeuten, dass die moderne Nation im Zuge eines Prozesses von nation-building nach dem Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, unter der Anleitung der USA erst geschaffen (nachdem es die Volksfrontpolitik der Kommunmistern im – wiederum – ersten Anlauf nicht geschafft hatte) wurde, ein Erfordernis der Kriegsdiplomatie und des Wiederaufbaus nach dem Krieg im Anschluss an die Moskauer Deklaration.

Für 1848 aber mag gelten, dass politisch nachgeholt werden sollte, was gesellschaftlich schon im Schwange, in den Köpfen und Herzen schon vollzogen war. Für den Bund der Kommunisten bezog sich das auf das Zerstörungswerk, das die Bourgeoisie schon gegen die alte Welt der Dynastien und Fürsten begonnen hatte und das nun gegen sie selbst, aber ihren Versprechungen folgend, vollzogen werden sollte. Das Kommunistische Manifest sprach dabei etwas an, was über Nationalismus und Verfassung hinausging; es sprach Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft selbst an, die sich jenseits von Nation und Konstitution herausbilden sollten: planetarische Ausbreitung der neuen Verhältnisse und eine Ordnung, die auf Klassengewalt beruhen sollte, quer durch alle Nationen hindurch. Um diesen Prozess zu beschleunigen, der seinen Höhe-, End- und Anfangspunkt für neue Verhältnisse in der Durchsetzung einer geplanten, vernünftigen Ordnung finden sollte, die nach dem Sieg des Proletariats nun den ganzen Erdkreis als Reich der Freiheit erfassen würde, um diesen Prozess zu beschleunigen, unterstützten die Revolutionäre der Arbeiterbewegung und des wissenschaftlichen Sozialismus die Umsturzbewegungen von 1848.

Was uns daran dann nachdenklich stimmen sollte, ist die Frage, ob hier nicht wieder derselbe Ton angeschlagen wird, den wir schon am Anfang bürgerlicher Konstitution, bürgerlicher Verfasstheit, bürgerlicher Unternehmungen vernommen haben. Vernunft gebietet uns, so zu leben, wie wir es zum Nutzen aller tun. Wer uns so nicht leben lässt, handelt unvernünftig, versteht also nicht die Gesetze von Natur und Vernunft oder verstößt gegen sie aus irregeleiteten Motiven und illegtimen Interessen. Es ist dieser Verstoß, der die guten Bürger in ihr Handeln zwingt; in ein Handeln wohlgemerkt, das nur die vernünftige, zivilisierte Form der Tätigkeit, der Geselligkeit, der Verfasstheit wieder herstellt. Da wird als demokratische Tugend, als staatsbürgerliche Errungenschaft dargestellt – und wer kennte das nicht aus dem Unterricht der poltischen Bildung in Schule und Journalistik –, dass eine Opposition an die Regierung kommt und die bisherige Regierung zur Opposition wird und dies nach parlamentarischen Regeln gewaltlos und unblutig abläuft und daher vernünftig ist. Dieses Beharren auf dem Spiel von Opposition und Regierung ist dermaßen stark ausgeprägt und zentral verankert, dass Oppositionen, die zum ersten Mal an die Regierung unblutig in Wahlen kommen, für eine Kandidatur zum Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden können. Dass dabei eine Vernunft waltet und von den Nobelpreiskandidatinnen und -kandidaten zu beachten ist, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten verfolgt, die quasi natürlich, naturgesetzlich sind, dabei auf die Befindlichkeiten und Erwartungen nahe stehender Menschen keine Rücksicht nehmen darf, ohne sich dem Verdacht der Korruption auszusetzen, steht auf einem anderen Blatt.

Wenn ich nun zum Schluss kommen will, dann aber doch mit einer freundlicheren Aussicht als der, dass Revolutionen bloß die Garantien unserer Verhältnisse darstellen, nicht aber deren Umsturz. Vielleicht gibt es in diesem Auditorium noch den einen oder die andere, die sich an 1968 erinnern. Ich habe eingangs gewisse Ähnlichkeiten angesprochen, unter anderem, dass mit dem Datum Zweierlei und zweierlei Widersprüchliches verbunden wird. Zum einen finden wir bloß den Vollzug dessen, was ohnhin geschieht, und zwar deswegen geschieht, weil der Boden dafür schon längst bereitet ist. Der Einfluss Frankreichs von der ersten Republik bis zu Napoleon, das wunderbare Beispiel der Konstituierung der Vereinigten Staaten von Amerika, dies überflutete Europa und legte den Grundstein für alles weitere. Aber Napoleon wurde geschlagen nicht nur unter dem Prätext der vereinigten fürstlichen Reaktion, sondern auch schon unter den Vorzeichen bürgerlicher Konkurrenz. Der Code Civil war noch nach seiner Niederlage gültig, wohl auch, weil er neben dem ALR und dem ABGB nichts wesentlich dem Naturrecht Fremdes und den anderen Gesetzwerken gegenüber nichts wesentlich Neues zum Ausdruck brachte. Napoleon hatte den Gedanken der freien Natiuon in ganz Europa verbreitet, in Deutschland wandte sich eben dieser Gedanke gegen den französischen Konkurrenten ebenso wie gegen die Duodezfürsten. In Dänemark und Schweden kam es zu konstitutionellen Monarchien ohne Aufstände. Und wenn wir an die Bemerkung Friedells denken, die den kontinuierlichen Prozess mehr betont, dann mag auch für Deutschland und Österreich eine allmähliche Durchsetzung des Verfassungsgedankens, der Garantien von bürgerlichen Freiheiten beobachtet werden können.

Ähnliches lässt sich wohl auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen. Wirtschaftswunder und nation-building, also politischer und ökonomischer Wiederaufbau gegenüber den Kriegsgegnern und -verlierern (wir finden auch hier wieder das Bild der zu den Waffen gezwungenen Vernunft) und Unterricht in Bürgerlichkeit – all das kulminiert in den großen Reformbewegungen, die wieder die ganze Welt zu erfassen scheinen. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob dies nun tatsächlich weltumspannend war, weil die Ereignisse einander beeinflussten – gewiss taten sie das, aber in welchem Ausmaß und mit welcher Kausalität und Konsequenz –, oder ob es eher zufälliges Zusammentreffen war, das zwar in der Luft lag, aber jeweils eigene Geschichten aufzuweisen hatte. Worauf ich hinaus will, ist, dass – wieder für Österreich gesprochen – der große Kreisky’sche Reformschub, Broda, Firnberg und Dohnal nicht zu vergessen, auch ohne das Zutun lanhaariger révolté(e)s vonstatten gegangen wäre. Und doch behaupte ich in der Rückschau, dass damals auch ein Angriff auf die Grundlagen der Gesellschaft zu bemerken war, dessen sich die Leute vielleicht gar nicht gewahr waren. Es war ein Angriff, der zunächst keine theoretische Fundierung hatte außer der Ablehnung all dessen, was für uns getan wurde, außer der Ablehnung all des Überflusses, mit dem wir konfrontiert wurden, außer dem Gefühl, dies alles wäre nicht unsere Welt und wir hätten mit ihr nichts zu tun.

Die Naivität, das unmittelbar Unreflektierte beider, der Angegriffenen wie der Augreifenden, zeigt sich in einem verblüffenden Beispiel: Wofür wir getadelt wurden, war auch, dass keins mehr wissen konnte, ob Männlein oder Weiblein es war, das – von hinten betrachtet – in Jeans, indischem Hemd, mit langen Haaren seines Wegs zog. Dass unsere Gesellschaft ein ganz spezifisches Geschlechterverhältnis, eine ganz spezifische Geschlechterassymmetrie aufweist, war uns nicht klar; damals nicht, auf theoretischer Ebene nicht, auch nicht, dass oder wie wir es angegriffen hatten (für uns junge Männer damals war sogar noch eher ein gewisser machismo durchaus üblich). Da ging es uns nicht anders als den anderen, dem Establishment, wie wir diese anderen nannten, unterschiedslos nannten, die auch nur mit Ressentiment darauf reagierten, ohne es benennen zu können, warum es so schlimm war, wenn Männer und Frauen nicht mehr auf gewohnte Art unterscheidbar waren. Wir hatten eine eigene Welt und kein Bedürfnis, sie zu beschreiben. Wer Bewusstsein hatte, wie wir es damals nannten, war dabei. Diese Naivität zeigt sich auch in der Verachtung des Konsums und im Kampf gegen den Konsumterror, ohne dass wir eine Ahnung hatten, was da noch an Konsum auf uns zukommen würde. Eine theoretische Vorschau oder auch Vorsicht war unsere Sache nicht. Ich halte es für einen nicht zufälligen Zufall, dass dieser Angriff – oder dieses Betreten einer anderen Welt – sich zu einer Zeit ereignete, da die großen sozialdemokratischen Reformen von Brandt bis Dubcek die Welt erfassten. Sie wäre ohne unser Zutun auch gekommen und wenn heute eins erklärt, was wir damals erkämpft hätten an Errungenschaften für heute, dann weiß ich, dass die, die so reden, damals nicht bei mir in der Nähe waren.

So geht einem wie mir die Diskussion darüber, was ’68 geschah und erreicht wurde, am Hintern vorbei: Gut vorstellbar, dass für einige Dichter und Kämpferinnen aus dem Jahr 1848 Ähnliches gilt. Wenn wir uns auf die Suche nach deren Spuren machen, finden wir manchmal ein rätselhaftes Wort: Republik. Es hat etwas von Epoche an sich, von Zeitalter, es bezeichnet nicht unbedingt das Öffentliche, das Poltische, das Zivile, die Verhandlungen auf Regierungs- und auf Vereins- und Interessensebene; dies alles ist mit Demokratie genau beschrieben und in Formen gegossen. Dem Demokratischen haftet das Schwere, Bedeutsame aber auch Kleinbürgerliche an, das Republikanische ist leichter, unfassbarer, dem Zugriff entzogen. Vielleicht müssen wir hier ansetzen, wenn wir den Geist suchen, der Leute zur Revolution treibt – zu einer Revolution allerdings, die diesen Namen nicht mehr verdient, denn sie beschränkt sich nicht auf das weinerlich Defensive der staatsbürgerlichen Vernunft, sondern stürzt alles um und gründet eine neue Epoche. Dies wird dann andere Ergebnisse zeitigen als etwa das Manifest des Bundes der Kommunisten sie sich erhofft und propagiert hat; dies macht auch klar, warum sich zu dieser Art von Revolution niemand bekennen will, ebenso wie die Ereignisse von 1848 niemand noch erregen. Sie sind so selbstverständlich wie das Unsagbare uninteressant.