Innen und Außen

 

Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, Bd. 1 (Insel Taschenbuch 112), S. 292: „Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß, wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.“; S. 318: „Da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein kleines Männchen herein und sprach: ,guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint Sie so sehr?’“.

Zur Zeit ist es eine Art Volkssport geworden, über das sogenannte Binnen-I Geistvolles abzusondern. Im Allgemeinen wird dabei besonderes Augenmerk auf das Schriftbild, aber auch auf tradierte Verständnisformen wie den Volksmund oder das grammatikalische Geschlecht gelegt. Unter Berufung auf diese Instanzen nehmen dann die Ergüsse humoristische Form (komisch im Sinne von seltsam ebenso wie „bruhahah“) an, und ob Stadler oder Tramontana spricht, ist dann nur noch eine Frage des intellektuellen Niveaus, nicht mehr der Intelligenz. Es wäre aber trotzdem interessant, in dieser Debatte - so weit sie als solche überhaupt noch erkennbar ist, d. h. mit einem Minimum inhaltlicher Redlichkeit geführt wird - die Argumente zu suchen und nicht die Polemik.

Was die Argumente betrifft, können sie in zweierlei Bezugsrahmen verortet werden: einem sozialen und einem sprachwissenschaftlichen. Sprachwissenschaftlich ist die Sache ebenso klar wie unspektakulär. Das Schriftbild ist zwar von der gesprochenen, d. h. der gelesenen und ausgesprochenen Sprache nicht zu trennen, hat aber für sich immer noch eine gewisse Prägnanz in Anspruch genommen. Da wären etwa als Formen dieser Prägnanz zu erwähnen vollständige Sätze ebenso wie Abkürzungen. Der vollständige Satz, bestehend aus Subjekt, Prädikat, Objekt, etwaigen Adverbialkonstruktionen und ähnlichem, ist strikt an die geschriebene Sprache gebunden. Was schriftlich auf Grund falscher Konstruktion unverständlich erscheinen mag, ist im Zusammenhang einer freien Rede klar und über jeden Zweifel erhaben. Der verkürzte, unvollständige, grammatikalisch falsche Satz erscheint daher folgerichtig als Stilmittel, um im Text (Text ist Geschriebenes; „Ich kann meinen Text nicht“ bedeutet etwas anderes als „Ich kann meine Rolle nicht“) die Intimität der gesprochenen Sprache, der direkten körperlichen Begegnung, der Plauderei zu evozieren, oder um das sprachliche Unvermögen journalistischer Äußerung durch Anlehnung an die Alltagssprache zu kaschieren. Von Ausnahmen solcher Art aber abgesehen erheischt der geschriebene Text ein Höchstmaß an Eindeutigkeit und Korrektheit - Geschriebenes soll getrost nach Hause getragen werden können.

Ähnlich verhält es sich mit den Abkürzungen. Die sprachliche Prägnanz, die durch die Abbrevation erreicht werden kann, ist in der freien Rede unbrauchbar (wie der vollständige Satz in seiner Gänze oft unnötig). Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel, nämlich diesen Text. Zweimal kam „d. h.“ vor, und jedesmal wurde ohne langes Aufhalten „das heißt“ gelesen. Ebenso wurde die zitierte freie Rede („Ich kann meinen Text nicht“) hingenommen, ohne zu monieren, dass der Satz unvollständig sei. Schriftbild und sprachliche Gestalt sind also zwei verschiedene Phänomene, die einander nicht deckungsgleich sind, in der Übertragung vom einen zum anderen aber ihre semantische Übereinkunft durch die Kompetenz der Lesenden erhalten. Das Binnen-I wäre hier unter dem Prätext sprachlicher Präzision den Abkürzungen zuzurechnen; wer AutorInnen liest, macht sich mit Literatur und ähnlichem vertraut; wer „AutorInnen“ liest, liest laut vor: „Autoren und Autorinnen“.

Die Frage nach der Zulässigkeit solcher Abkürzungen ist einfach zu beantworten: es spricht nichts dagegen, sie zu verwenden. Historische und rezente praktische Beispiele gibt es genug. Ein altfranzösisches cheval hatte als Mehrzahl chevals. Das -ls- wurde abgekürzt als -x- geschrieben - chevax. Späterer Lesart aber war die Aussprache schewoo, bezogen auf die Schreibung chevax, unverständlich; so trat in der Schrift zwischen a und x das u, um die von der Aussprache her unverständliche Schrift zu korrigieren; chevax hätte ja - ohne Verständnis der Sprech- und Schreibentwicklung - schewaa ausgesprochen werden müssen. Die schriftliche Abkürzung ist also daran gebunden, dass die Lesenden eine bestimmte, korrekte Aussprache der Abkürzung  kennen und verinnerlicht haben. Ähnliches könnte vom Binnen-I und vom Umgang der Lesenden damit erwartet werden. Ein anderes Beispiel wäre die Entwicklung der Großschreibung in der deutschen Sprache. Zunächst wurden nur heilige Begriffe mit Majuskeln gekennzeichnet. Als diese Schreibart überhand nahm und vom Heiligen über das Kaiserliche bis hin zum Materiell-Substantiellen sich ausdehnte, konnten in barocken Texten zwei Majuskeln zur wieder notwendig gewordenen Hervorhebung des Göttlichen gegenüber dem Profanen gefunden werden: nun hieß es im Text „GOtt“, ohne dass dies die Aussprache oder das Verständnis des Textes beeinflusst hätte. Bloß ein gesellschaftlich anerkanntes und gültiges Zeichen wurde gesetzt, ein Zeichen, in dem der soziale Respekt und Kontakt zur Gottheit seinen Niederschlag gefunden hatte.

Ganz klar wird anhand dieser Beispiele, dass das Verhältnis zwischen Schriftbild und gelesener, vorgetragener, gesprochener Sprache fließend ist und nicht durch formalistisches Beharrungsvermögen definiert werden kann. Vielmehr zeigt sich, dass Geschriebenes nicht eins zu eins in Gesprochenes umsetzbar ist, es gelten denn anerkannte codes, die diese Umsetzuzng regeln. Problematisch wird es dann dort, wo es um die Akzeptanz schriftlicher Neuerungen geht. Dies ist nämlich keine Frage der Sprachwissenschaft, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Annahme der sozialen Veränderungen, die in sprachlichen Veränderungen sich ausdrücken werden. Wo allerdings an Alltägliches gerührt wird, wo Gewohntes aufgegeben werden soll, wo Denk- und Handlungsmuster plötzlich nicht mehr gültig sein sollen, wird die soziale Zumutung auf dem Feld der Sprache bekämpft. Eine quasi übergeordnete Instanz wird angerufen, um kraft ihrer unterstellten Unwandelbarkeit Zeugnis abzulegen. Die Unwandelbarkeit der Sprache, in diesem Fall des Schriftbilds, wird mit Argumenten behauptet, etwa ästhetischen, die zu den sozialen Wandlungen in keiner inhaltlichen Beziehung stehen. So werden die Forderungen, ein Überdenken der Beziehungen zwischen den sozialen Geschlechtern anhand der eigenen, persönlichen schriftlichen Äußerung zu dokumentieren, mit Verweisen auf sprachliche, grammatikalische, ästhetische Traditionen abgeschmettert, ja noch wird behauptet, ein Eingehen auf diese Forderungen führe zu erhöhter Unverständlichkeit. Mangelnder sozialer Gestaltungswille wird von der eigenen Person abgetrennt, statt dessen durch einen sprachlichen Sachzwang rechtfertigt. So wird paradoxerweise ein Medium, das zeit seiner Existenz die gesellschaftliche Veränderung befördert hat, in die Pflicht genommen, genau diese Veränderung hintan zu halten.