Se vuol ballare - Überlegungen zum aktuellen Musikstil

 

Die „Hörgänge“ sind nun zu Ende. Als ihr Höhepunkt wurden die Darbietungen des City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle angepriesen, ausgelobt und von der Kritik rezipiert. So weit, so gut.

Nehmen wir einmal an, dass über beschriebene Musik gelesen werden kann, ohne dass eins vorher die sinnliche Wahrnehmung des Hörens gemacht hätte. Nehmen wir weiters an, dass der wahre Höhepunkt der Veranstaltungsreihe wirklich die Lange Nacht der Neuen Klänge war. Dann können wir uns jetzt ein paar Fragen zu Gemüte führen, deren Antworten ich zwar zur Gänze wohl schuldig bleiben muss, deren Stellung aber schon in eine gewisse Richtung weist. Wenn ich also die Frage nach dem aktuellen Musikstil der Gegenwart stelle, deutet diese Frage schon auf eine Antwort hin, die da lauten könnte, dass er die Entwicklung der klassischen Moderne nicht zum Inhalt hat. Der aktuelle Musikstil wäre damit auch als Phänomen nicht an eine Gegenüberstellung von klassischer Moderne und Avantgarde gebunden. Vielmehr könnten wir unter dieser Annahme behaupten, dass, was in der Langen Nacht vorgestellt wurde, alle Merkmale eines Stils aufweist, also grammatikalische und semantische Verbindlichkeit nach innen und allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit nach außen. Es ist nun durchaus möglich, dass diese gesellschaftliche Verbindlichkeit sich nur negativ, in allgemeiner Ablehnung, äußert. Das betrifft aber noch nicht die Binnenstruktur eines Stils, der darnach strebt, gesellschaftliche Gültigkeit zu erreichen.
Die Binnenstruktur dessen, was als Stil bezeichnet werden muss, ist durch verbindliche Semantik und Grammatik gekennzeichnet; das bedeutet, ihre einzelnen tragenden Mauern sind gleichzeitig aufgeladen mit Bedeutung. Es ist etwas ganz Bestimmtes gemeint, wenn ein zentrales Element eines Musikstils das Thema ist. Ebenso ist ein ganz anderes Bestimmtes gemeint, wenn das zentrale Element, um das herum ein Musikstück komponiert wird, das sich einem Stil verpflichtet fühlt, der Klang ist. Hier wird schon einmal klar, dass ich Stil etwas weiter fasse, als dies allgemein üblich ist. Wird entlang der funktionalen Harmonik von einem Ausgangspunkt Thema her komponiert, so ist das Ergebnis zunächst einmal - unbesehen etwaiger künstlerischer Kompetenz - nur das Eintreten in eine Tradition, die der deutschen Klassik, die über ihre romantische Verlängerung bis weit in s zwanzigste Jahrhundert hinein noch auch ihre nationalen, emanzipatorischen und pädagogischen Ausformungen zeigen mag. Und auch wenn neben die alten tragenden Mauern im Zuge des Ausbaus neue architektonische Elemente treten, die Melodie als Ausgangspunkt musikalischen Geschehens neben das Thema, die Dodekaphonie als letzte Konsequenz der chromatischen Melodie die funktionelle Harmonik in Frage stellt, werden gleichzeitig der polyphone Satz und die Formenwelt dieses Stils bestätigt in ihr Recht gesetzt.


Wir sehen schon: ein Stil ist weiter gefasst als bloß eine Mode in ihm, er reicht über seine Höhepunkte hinaus, er kann verwandt werden, auch wenn seine große Zeit unwiederbringlich vorbei ist. Wer heute im klassischen oder romantischen Stil Symphonien schreibt oder jazz spielt - wie Wynton Marsalis -, evoziert eine Welt, die gerettet oder wenigstens erhalten werden muss. Jedenfalls bezieht, wer einen Stil wählt, damit Stellung; und das gilt gerade auch in Zeiten der Postmoderne, die unter dieser Betrachtungsweise eher als aktuelle Mode des romantisch-historischen Stils bezeichnet werden sollte. Um ein Beispiel aus vergangener Zeit zu nehmen: wir kennen den gotischen Stil. Innerhalb dieses Stils können wir deutsche, französische, flandrische, ritterliche, bürgerliche, frühe, strenge, späte, dekadente Strömungen ausmachen. Auch wenn sie in der wissenschaftlichen Literatur als Stile auftauchen wie der perpendicular style, so sind sie keine Stile, sondern aktuelle Ausformungen, Strömungen, Meisterschaften. Wer heute eine gotische Kirche baut, lädt damit seine Tätigkeit als Bauherr oder Architekt gesellschaftlich auf; entweder weist er auf eine tiefe traditionelle Religiosität hin, der er Raum schaffen möchte, oder er gestaltet einen öffentlichen Raum entlang nicht hinterfragter Traditionen und bestätigt sie mit indifferentem Augenzwinkern. Wer eine Kirche im modernen Stil baut, stellt andere Ansichten zur Schau: eine Religiosität, die ihren Platz, ihre Mystik, ihre Caritas in einem öffentlichen Raum sucht, der als öffentlich indifferent ist, und die ihn erst entsprechend ihrer, dieser Zeit füllen muss. Mag die Architektur auch einer Tankstelle gleichen, welcher Kraftstoff bezogen wird, stellt sich erst im Inneren heraus.


Kommen wir nun zur Langen Nacht der Neuen Klänge. Die erste Schwierigkeit mag wohl darin bestehen, dass es wahrscheinlich nicht Allgemeingut ist, die Musik von Karlheinz Essl oder Olga Neuwirth zu kennen. Aber darüber muss ich mich rücksichtslos hinwegsetzen. Die erste Frage ist: woran ist gute Musik zu erkennen? Dann: ist, was wir gehört haben, tatsächlich ein Konzert mit Werken des aktuellen Musikstils gewesen, oder waren es die spielerischen Darbietungen einer Avantgardeströmung? Was zur nächsten Frage führt: woran kann ein Stil erkannt werden? Schlussendlich: wie erkennt eins noch im Neuen, Ungewohnten Meisterschaft? Womit ich den Kreis der Fragen geschlossen habe (wir werden bei guter Musik landen) und mit Vorschlägen für Beantwortungen beginnen will.


Musik ist als rein musikalisch undenkbar. Musik hat immer das Element von Sammlung in sich. Wo sich Leute treffen, wo sie sich sammeln, um zu musizieren, ist der gesellschaftliche Konnex immer gegeben und Voraussetzung für Musik. Wenn auch Musik immer wieder ohne das gesprochene respective gesungene Wort auskommt, so ist Musik doch unvorstellbar ohne die darin erzählte Geschichte. „We’re in it only for the Money“ nennt Frank Zappa sein zweites Album und verlangt gleichzeitig im Begleittext, dass, wer seine Musik höre, zuvor gefälligst Kafka zu lesen habe. Nun gibt es von Zappa zwar keine Kafkavertonungen, aber er erzählt in seiner Musik von der selben Gesellschaft, die ihn, seine Musik und eben auch Kafka hervorgebracht hat. Und wenn auch kein denkendes Wesen heutzutage eine Ode auf die Freude anstimmen würde, so erzählt die Neunte Beethovens immer wieder von den Versprechungen einer Gesellschaft, die durch Freude hervorgebracht, freudig errungen und befestigt würde, und die ihrerseits Freude hervorbringe. Es gibt in den Liederbüchern auch heute noch einen Chorsatz auf die Schillersche Ode, der nett klingt, sogar einen ähnlichen musikalischen Gedanken wie den Beethovens aufweist und aus der gleichen Zeit stammt. Er ist zu Recht vergessen, wenn er sich auch hervorragend für Männerchöre eignet.
Gute Musik macht also aus, dass eine Geschichte erlebbar erzählt wird. Das heißt nun aber nicht, das Problem auf die literarische Ebene zu verlagern, denn auch von einem Roman, einem Gedicht, einem Drama muss verlangt werden, dass eine gute Geschichte gut erzählt wird. Es geht darum, mit den Mitteln der Kunst sich auszudrücken, aus sich einen succus von Aussagen herauszubringen, der im Publikum Konsens hervorruft. Heiße dieser Konsens Katharsis, heiße er déja vu. Das Publikum muss sich angenommen, angegriffen, berührt fühlen: seine eigene Geschichte muss die des Kunstwerks sein. Gute Musik erzählt also. Sie macht das Sprachliche, Außermusikalische auf musikalische, außersprachliche Art dingfest. Die Geschichte muss als solche erkannt werden, auch wenn die Reaktion darauf ist: „Das will oder kann ich nicht mehr (oder noch nicht) hören“. Was aber als gut oder schlecht erzählt gilt, ist auch wieder von Publikum zu Publikum verschieden. Da oszilliert die Kunst zwischen E und U, mit pop in der Mitte. Ein kleines Hilfsmittel zur Orientierung mag da das Programmheft oder der Klappentext sein. Wenn die sprachliche Interpretation des musikalischen Kunstwerks notwendig ist, um überhaupt erst etwas über die Gedanken und Vorstellungen der Komponierenden zu erfahren, ist alles schon verloren. Bestätigt aber die sprachliche Interpretation die gehörte Geschichte, oder hast Du gar eine Geschichte gehört, auf die der Kritiker oder die Rezensentin noch gar nicht gekommen ist, ist alles gewonnen. Dies - die Krücke der sprachlichen Engführung - ist aber keine Hilfeleistung, die nur auf moderne Musik zutrifft: sie gilt auch für die Klassik. Es kann da eins Mozart hören und Vanhal; es kann dann über beide lesen, Populärwissenschaftliches oder Esoterisches - Mozart bleibt immer noch unvergessen, sein Zeitgenosse kaum. Wohl deshalb, weil Vanhal nichts anderes erzählt, als dass er irgendwann seiner Zeit das Handwerk des Komponierens gelernt hat.


Was aber Mozart mit Vanhal verbindet, ist der gemeinsame Stil, der etwas über die gesellschaftlichen Verhältnisse erzählt, unter denen er gepflogen wurde. Diese Verbindung stellt sich her über das gleiche Verständnis der beiden Komponisten von den tragenden Elementen ihrer Musik. Doch Vanhal beschränkt sich auf die Anwendung und Formatierung dieser Elemente, während Mozart sich diese Elemente aneignet, um seine eigene Geschichte zu erzählen. Überspitzt ausgedrückt ist Vanhals Musik schlechte Musik, weil sie nur Musik ist ohne außermusikalischen Bezug.


Gehen wir nun davon aus, dass ich recht habe und die Darbietungen der Langen Nacht in der Tat eine Darbietung im aktuellen Musikstil war, dann muss ich wohl in der Folge darstellen, welche die zentralen und tragenden Elemente sind. Da steht an erster Stelle als das Ausgangsmaterial nicht mehr Thema oder Melodie sondern Klang. Er ist grosso modo der kompositorische Einfall, von dem aus die Komponierenden ihre Ansichten ausbreiten, ihr Material verarbeiten, ihre Geschichten erzählen. Wenn nun ein Stil etwas über die Geselligkeit aussagt, die ihn pflegt, was sagt der Klang dann? Das Thema des klassischen Stils wird von außen voraus gesetzt, an Hand des Themas entwickeln sich Verfahren, die durch die Musik hindurchgehen, ein Spiegelbild gesellschaftlicher Diskursivität ihrer Zeit werden. Das Thema wird durch die Musik hindurch geführt, abgewogen, Veränderungen und Variationen ausgesetzt, bearbeitet, ausgeführt und im Finale gegen seine Gegensätzlichkeiten und Einwände bestätigt. Das Thema steht für den Anspruch, rationale, erhellende, aufklärende und finale Diskurse zu führen. Und wenn dies als Binsenweisheit erscheint, die heute der Rede kaum wert ist, so stellt sich doch die Frage, ob ähnliche Ableitungen und Entsprechungen sich für Klang herstellen lassen.


Was dabei als erstes in s Auge fällt, ist das Fehlen gerichteter, pädagogischer, hierarchischer Kommunikation. Nicht ein Thema stellt sich zur Disposition (wie bei einem Aufsatz), sondern ein Klang erscheint, verkörpert ein Allgemeines, kein Spezielles, erlaubt nicht eine zuordbare Aussage, sondern lässt nur ein indifferentes Murmeln hören. So ist auch schon die Aufgabe des Publikums festgeschrieben: nicht der rationalen Abfolge des Diskurses ist zu folgen, vielmehr soll sich ein jedes heraushören, was es will. Also muss ich sagen, dass der Klang etwas von einer Geselligkeit emanzipierter und vereinzelter Individuen erzählt, die in einem Ensemble zusammengefasst sind, das Ensemble aber nur vermittelt beeinflussen. Die Individuen arbeiten an ihren Instrumenten nach Maßgabe der Komponierenden, hören die Geschichten ihrer einzelnen Anstrengungen und bringen sie in einen Klang ein, der bloß als die ungewollte oder unbewusste Summe der Mühen aller Einzelnen sich darstellt. Jedenfalls ist dieses Ensemble kein vorgegebenes Orchester mehr, in das sich eins setzt und weiß, wo nun sein Rang und Platz ist, kein Orchester, das durch das hierarchische Zusammenspiel seiner Sektionen mit Klangfarben ein Thema und dessen Durchführung untermalt. So ist denn auch die Vorstellung eines Klavierauszugs oder einer Harmoniemusik (also der hierarchisierten Darstellung von Musik durch immer weniger Instrumente) für ein Stück von Essl oder Neuwirth abwegig; eher lässt sich an das Speichern im Computer, im Synclavier, im Syntheziser denken. Das Ensemble lässt also Klang gewissermaßen hinterrücks entstehen, aus dem Zusammenspiel vereinzelter Ensemblemitglieder, die ihrerseits ihr eigenes Spiel, die Möglichkeiten ihrer eigenen Instrumente ausloten und so erst Klang hervorbringen.
Hier ist es angebracht, eine Parenthese zu öffnen. Wer je gehört hat, mit welcher Mühe und Virtuosität die Musizierenden sich an ihren Instrumenten augenscheinlich abplagen, welche Behandlung der Instrumente die Komponierenden verlangen, fragt sich möglicherweise, warum noch für Orchester oder Instrumentalensemble komponiert wird und nicht nur noch allein für elektronisches equipment oder für Computer, was den gewünschten Klang mit weniger Aufwand hervor bringen könnte. Aber da erzählte dann ein Stil, der auf individualisierbare Instrumente verzichtet, eine ganz andere Geschichte. Er würde nicht mehr von der Auseinandersetzung der Individuen mit ihrem Ergebnis sprechen, einem Ergebnis, das sich hinter ihrem Rücken zeitigt und von dem nur die Komponierenden wissen. Würden diese aber ihre Werke nicht über das Ensemble transportieren - und damit über alle dem Publikum gegenüber frontal ausgerichtete Medien vom Konzertsaal bis zum Tonträger -, verlören sie ihren Besitz an ihnen. Ihre Werke gingen über Netze und interaktive Wiedergabegeräte für die Schaffenden verloren und könnten vom Publikum beliebig verändert werden. Und mit ihren Schöpfungen verschwänden auch die Schöpfenden. Wir befinden uns aber noch immer in einer Welt, die das Einzelne und die Vielen gegen einander stellt; das betrifft das Werk und die Ausführenden genauso wie die Künstlerin und ihr Publikum. Sie bleibt so lange noch der große Schaffende, wie die Produkte der vielen Einzelnen ein ungewolltes Ergebnis des Ganzen hervor bringen und so die Gesellschaft bloße Geselligkeit ist. Klammer zu.


Auf der sozialen Oberfläche erstehen also plakative Zuordnungen: Thema - Aufklärung, Klang - verausgabte, vollendete Demokratie. Damit sind auch die Verbindlichkeiten, die einen Stil ausmachen (als die Sicht der Gesellschaft auf sich selbst durch künstlerische Abstraktion und Verdopplung hindurch), gegeben. So ist die Frage nach Avantgarde auch schon erledigt. Wir haben es nicht mit Vorreitern zu tun, die die Grenzen des Zumutbaren oder Denkbaren ausloten und Überschreitungen vorbereiten, sondern mit der normalen, normgerechten musikalischen Äußerung. Wer nun der Meinung ist, diese Äußerung würde die Grenzen des Zumutbaren, des Versteh-, Erfassbaren übersteigen, ein Konzertpublikum überfordern, möge die Gegenprobe anstellen. Im aktuellen Musikstil kann eins heute Werbung und Filmmusik hören, ohne sich inkommodiert zu fühlen; es sei denn durch die Werbung, oder der Film ist schlecht. Klarerweise erzählen Werbung und Film andere Geschichten als Konzerte. Hier geht es dann darum, ob die Musik gut oder schlecht ist, und damit sind wir wieder bei den individuellen Geschichten, die uns die Komponierenden vortragen lassen. Der Musikstil als solcher ist wohl anerkannt, nicht immer - und nicht immer zu Unrecht - die einzelnen Komponisten und Komponistinnen oder Vortragenden. In der Langen Nacht konnte ich Epigonales ebenso wie Meisterliches hören, pädagogische Larmoyanz (wohl auch bedingt durch das Motto „Musik und Haltung“, was die Gemeinschaft der Guten und political correctness auf den Plan rief) neben souveränem Gestaltungswillen. Ich will hier keine Namen nennen, mein Anliegen war anderes. Die Kritik hat sich der Werke angenommen, ich über den Stil geschrieben.