comme il faut

Während der Konflikt um die Karikaturen über den Propheten Mohammed noch immer vor sich hin köchelt, denkt das aufgeklärte westliche Publikum darüber nach, was aus der ganzen Angelegenheit für Schlüsse zu ziehen seien. Unter der Woche erscheinen noch die Meldungen in den Nachrichtenmedien, dass es bei Protesten wieder Tote gegeben habe, am Samstag wird dann in den Wochenendbeilagen durchgekaut, was wir nun lernen können.

Die Menschen, die bisher bei den Demonstrationen zu Tode kamen, sind natürlich beklagenwerte Opfer; so viel weiß das aufgeklärte Publikum. Aber andererseits ist da auch viel Unwissenheit und Armut im Spiel und letztlich hätten sich diese Leute auch nicht aufhetzen lassen müssen. Das bürgerliche Publikum lässt sich nicht aufhetzen. Es sitzt im Fauteuil, liest im Feuilleton und weiß, dass es um Meinungsfreiheit geht. Hier aber wollen wir uns der Mühe unterwinden, herauszufinden, was eigentlich mit dieser Meinungsfreiheit gemeint ist – sicher nicht die Freiheit der Demonstranten.

Die Meinungsfreiheit des bürgerlichen Publikums, des männlichen, weißen, erwachsenen, arbeitenden Subjekts also, ist an eine gewisse Verfasstheit gebunden. Davon müssen wir zuerst sprechen, bevor wir uns anderem zuwenden. Schließlich geht es bei dieser Verfasstheit, die die freie Meinungsäußerung garantiert, um ein Verhalten, das erst durch Generationen erworben wurde und die sich darin äußert, dass zwar vorgeschoben wird, mit der Freiheit der Meinungsäußerung sei auch pfleglicher Umgang der Menschen untereinander zufrieden stellend geregelt, andrerseits aber diese Regelung sich bloß auf ein Prinzip, ein abstraktes Prinzip stützt. Mit anderen Worten: Es setzt sich ein Reflex ins Recht, der beim Verhalten der Menschen zueinander von den konkreten Handlungen, Taten und Reden absieht.

Es geht also bei der Regelung des Verhaltens der Menschen untereinander gar nicht mehr darum, was sie einander antun oder übereinander sagen, sondern darum, dass sie dies ungestraft dürfen. Ihre Äußerungen haben also keine Konsequenzen, da sie ja von Menschen getätigt werden, die selbst jeder Bewaffnung, jeder arrogierten Gewalt entsagt haben. Eine Konsequenz ihrer Äußerungen ergibt sich daher auch erst auf einer Ebene, die durch Gesetze festgelegt ist und vor den zuständigen Gerichten eingeklagt werden kann. Bevor es dazu aber kommen kann, reagiert das aufgeklärte Publikum reflexartig. Dieser Reflex nun drückt sich so aus, dass nicht ein Inhalt einer Äußerung zur Verhandlung ansteht (das wäre eben erst Sache der zuständigen Gerichte), sondern dass die Äußerung straf- und konsequenzlos zunächst einmal getätigt werden kann. Dies wird als Errungenschaft der aufgeklärten bürgerlichen Geselligkeit betrachtet.

Rekapitulieren wir das eben Gesagte anhand der Karikaturen, die über den Propheten Mohammed veröffentlicht wurden. Was Thema des Diskurses ist, ist nicht die Möglichkeit der begangenen Respektlosigkeit, der vollzogenen Beleidigung, sondern der Umgang mit ihr. Es muss garantiert sein, dass die Äußerung gemacht werden kann, dann dass sie, weil sie eben gemacht werden kann, auch gemacht wurde. Erst unter diesem Generalthema kann dann die tatsächlich getane Äußerung gewürdigt werden. Zunächst muss aber garantiert bleiben, dass jede Äußerung möglich ist. Dabei ist gar nicht mehr persönlicher Takt, ausgebildete Sensibilität oder eine erworbene Eleganz der Umgangsformen ausschlaggebend, auch der Inhalt der Äußerung zählt nicht. Dafür sind Legislative und Exekutive zuständig, die entsprechend ihrer politischen Aufträge Grenzen und Sanktionen bei Überschreiten der Grenzen festlegen.

Es geht dem aufgeklärten Publikum also erst gar nicht um die Frage, ob sich nicht in den massiv vorgetragenen religiösen Argumenten von moslemischen Gemeinden eine gewisse Rückständigkeit ausdrücke, ob nicht diese Rückständigkeit einer vormodernen Religion geschuldet sei, die ihre Gläubigen in Aberglaube und Abhängigkeit halte, und ob dies nicht alles unter Schutz stehe, ob dem allem nicht etwa mit Respekt zu begegenen sei. Die Strafgesetzbücher kenen durch die Bank Paragraphen, die sowohl die Trennung von Kirche und Staat als auch den Schutz der Glaubensgemeinschaften regeln. Aber auch diese Paragraphen stellen bloß den Recht und Gesetz geworden Ausdruck des Reflexes dar, mit dem das bürgerliche Individuum, also das Subjekt (weiß, männlich, erwachsen, arbeitend) seinesgleichen gegenüber tritt.

So drängt sich denn auch der Verdacht auf, dass eben dieses Subjekt sich nichts sehnlicher wünscht, als dass es anderen gegenüber stehe, die ihm mit gleicher Münze heimzahlen: eben von einer persönlichen Anrede absehen können, es als gegeben hinnehmen, dass nicht eine Meinung mit ihrem Inhalt und ihren Intentionen wirklich zählt, sondern bloß das abstrakte Prinzip, eine Meinung haben und veröffentlichen zu können (respective zu müssen; der höchst sonderbare Drang eben dieser bürgerlichen aufgeklärten individuellehn Subjekte, sich vor jedem vor die Nase gehaltenen Mikrophon sofort einer meinung entledigen zu müssen, spricht Bände für das reflexartige Verhältnis zu den Garantien bürgerlicher Geselligkeit). Da passt dann sehr gut dazu, dass der Karikaturist Gerhard Haderer in einem Radiointerview – er hat seinerzeit ein Comic „Das Leben des Jesus“ verfasst und sah sich mit wütenden Protesten konfrontiert, der Kardinal von Wien sah sich bemüßigt, die Stimme zu erheben und in Griechenland wurde Haderer in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe verurteilt; er galt also der Journalistin als ausgewiesene Kapazität – dass Haderer also auf die Frage der Journalistin, was er nun vom Ideenwettbewerb mit Karikaturen über den Mord an der jüdischen bevölkerung Europas halte, antwortete, das könne eine durchaus spannende Sache sein; argumentiert natürlich damit, dass so das gedankengut von Aufklärung und Freiheit sich bewähren und verbreiten könne.

Es geht also auch gar nicht um die Frage, welche lauteren oder unlauteren Motive den Herausgeber des dänischen Blattes (und je nach Interpretationslage handelt es sich um ein rechtsliberales Massenblatt oder um ein populistisches Stück Boulevard) umgetrieben haben mag, als er zur Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten aufrief. Es geht hier auch nicht darum, ob jemand rassistischen Verhaltens, grober Fahrlässigkeit oder schlichter Geschäftemacherei um jeden Preis geziehen werden kann. Es geht nur darum, dass diese Veröffentlichung gemacht werden darf, und für das aufgeklärte Publikum als den Skandal dar nicht, mit welcher Schadenfreude, welchem Rassismus oder meinetwegen auch mit welcher gerechtfertigten Empörung über rückständige Zustände an die Veröffentlichung geschritten wurde, der Skandal, der wahrgenommen wird, ist nicht, dass sich hier Leute – wieder aus welchen Motiven auch immer –erniedrigt oder beleidigt oder einfach auch nur nicht verstanden fühlen, der Skandal, der wahrgenommen und thematisiert wird, ist, dass diese Beleidigten uns nun Vorschriften machen und Bitten um Entschuldigung hören wollen (noch dazu von den Repräsentanten der Europäischen Union und nicht von den entsprechenden Zeichnern und Journalisten), also gutes Benehmen einfordern anstatt sich an die Gerichte zu wenden, wie es der Herausgeber des Magazins „Falter“ und selbst ernannter Experte für Recht und Aufklärung fordert und gleichzeitig aus Solidarität mit dem Prinzip der Presse- und Meinungsfreiheit eine Karikatur in sein Blatt hebt.

Erst in zweiter Linie kommt hinter dem reflexhaften Hochhalten einer garantierten (mithin straf- aber auch folgenlosen) Meinungsäußerung eine ideologische Auseinandersetzung zum Tragen, die dann schon skurille Formen annehmen kann. Sonia Mikich, TV-Journalistin beim Westdeutschen Rundfunk, fühlt sich ihrerseits beleidigt, weil die arabischen Regime so rückständig sind und fern aller Menschenrechte (womit sie zweifellos Recht hat), und Alfred Noll fordert Respekt ein für die, die nicht einer Religion anhängen (womit auch er Recht hat). Aber diese Äußerungen können sich nur auf dem Reflex bürgerlicher Garantiertheit entfalten, sie sind selbst schon Meinung geworden und haben damit einer Verbindlichkeit entsagt. Und so wirft es ein grelles Licht auf die Verfasstheit dieser unserer Gesellschaft, wenn sie ihre inhaltliche Bestimmung darin setzt, dass ein jedes tun und lassen und äußern könne, was ihm beliebt. Solange dabei die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen ins Kalkül gezogen und beachtet werden, die nicht oder nur wenig verletzt werden sollen (wofür dann ein jedes wieder zur Rechenschaft gezogen werden kann und die Verantwortung dafür zu tragen hat), solange geht das alles keins wirklich etwas an.

Es wirft ein grelles Licht auf eine Gesellschaft, deren Inhalt bloß in der Formulierung abstrakter Prinzipien sich erschöpft, ansonsten aber ihren Mitgliedern nichts aufträgt. Es wirft ein grelles Licht auf die Mitglieder einer so getanen Gesellschaft, wenn sie sich dreinfinden, diese abstrakten Prinzipien reflexartig zu verteidigen und dabei von jedem Inhalt, und beschränke er sich auch nur auf gutes Benehmen und minimalen Anstand, abzusehen. Es wirft ein grelles Licht auf unsere Gesellschaft, die uns aufgibt: „Tu und sag, was Du willst ohne Vorbehalt; der Bezug zu den anderen, die ebenso tun und sagen, wird sich schon irgendwie und automatisch einstellen!“, die dann Kritik an dieser inhaltslosen Maxime entrüstet und reflexhaft zurückweist und noch die dümmste und erbärmlichste inhaltliche Füllung als Menschenrecht preist. Und es ist bezeichnend, wenn sich Leute, die die Zumutung einer inhaltslosen Gesellschaft nicht auf sich nehmen wollen, die ihnen noch dazu materielle Rekompensation versagt, als rückständig, nicht aufgeklärt und fanatisert bezeichnet finden.

Die Reaktionen, die wir in moslemischen Ländern erlebt haben, werfen ihrerseits ein Licht auf diese Zustände, die wir mit herbeigeführt haben und für die wir verantwortlich sind. Diese Reaktionen sind als krisenhafte Erscheinung des Zusammenbruchs auch unserer Verfasstheit auf dieser homepage in aller Deutlichkeit schon dargestellt worden. Das Licht, das aber auf uns fällt, lässt uns nicht wirklich besser dastehen.