Ausrutschen auf glattem Parkett – Riess zu Haslingers „Opernball“

Im Heft 5/95 von „konkret“ hat Erwin Riess eine Kritik an dem Roman „Opernball“ von Josef Haslinger vorgelegt. Im Vorspann zu seiner Ausführung erklärt Riess, es handle sich bei dem „vermeintlichen ,Skandalroman der neunziger Jahre‘ um „bloß eine missglückte Kolportage“. Er führt auch später - nach einer kurzen Einführung in den wesentlichen Inhalt des Romans - aus, was eins darunter zu verstehen hätte. Dazu holt er etwas aus, macht uns damit bekannt, dass „Kritiker darauf verweisen, dass mit Opernball ein bislang in der österreichischen Nachkriegsliteratur unbekanntes Genre Einzug gehalten habe, der ,Politthrilller‘, dessen Charakteristika - verknappte Sprache und das Aufspüren von Themen der Zeit - Haslinger glänzend beherrsche“, sowie damit, dass er - Riess - in dieser österreichschen Literaturgeschichte auch bewandert ist. Er behauptet eine reiche Tradition des politischen Unterhaltungsromans in Wien vor dem Krieg, als deren Zeugen er Hugo Bettauer und seine Romane namhaft macht. Damit hat Riess sein Thema gefunden, denn bevor er sich seinem Sujet zuwendet - der Kritik des Romans „Opernball“ -, erläutert er seine Methode und seine Erwartungen, mit denen er zu Werk gehen wird.

Riess’ Thema ist so zu verstehen: „Wie muss politische Unterhaltungsliteratur in der Nachfolge Bettauers geschrieben sein, und hat das Haslinger auch gut getroffen?“ Zu allererst: „Die Romane (Bettauers) folgten einem durchgängigen Schema - ein sympathischer Held behauptet sich gegen den Filz aus Politik und Geschäft, der im Wien der frühen 20er Jahre einen Skandal nach dem anderen produzierte. ... Bettauers Kampf gegen die zweite Gegenreformation, seine Verhöhnung des klerikalen Faschismus stießen bei den Lesern auf begeisterten Zuspruch. Stadt ohne Juden, ein miserabel geschriebenes Buch, in dem Bettauer gleichwohl mit erstaunlicher Prophetie die Vertreibung der Wiener Juden vorwegnahm, erreichte innerhalb weniger Monate eine Verkaufsauflage von einer Viertelmillion. ... Bettauers Einsatz für ein modernes Sexualstrafrecht, sein Kampf für die Abtreibungsfreiheit und gegen die Bestrafung von Homosexualität vereinte die Fronde seiner Verfolger zu pogromartigen Feldzügen in den Gazetten. Selbst jüdische Zeitungen distanzierten sich von ihm, da sie - wie sich zeigen sollte, zu Recht - befürchteten, dass dem verbalen Furor bald der offene Terror folgen würde. Auch der Sozialdemokratie ging Bettauer zu weit; der Gesundheitspolitiker Tandler forderte die Konfiszierung von Bettauers Zeitschrift, lediglich der Schulreformer Glöckel und der Finanzstadtrat Breitner ... stellten sich hinter den Publizisten.“

Nichts von alledem wäre bei Haslinger zu finden, so Riess, und er meint es als Vorwurf. Hören wir ihm zu: „Im Unterschied zu Bettauer, der sich in seinen Romanen mit der Beschreibung der Wiener Gesellschaft beschied, denkt Haslinger global. Kein Thema der letzten Jahrzehnte, das von ihm nicht kommentiert wird ... Opernball ist ein Parforceritt durch die Schlagzeilen der letzten Jahre. Seltsamerweise behandelt Haslinger, der danach trachtet, nichts weniger als die ganze Welt einzufangen, den österreichischen Mikrokosmos stiefmütterlich. Anders als Bettauer, der seinem Hass gegen die Herrschaft der Scheinheiligen freien Lauf ließ, kennt Haslinger keinen wirklichen Gegner, er legt sich mit niemandem an, sein Thriller erscheint merkwürdig zahnlos und unentschieden.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Die Kolportage kann nur von ihrem Anliegen her verstanden werden, hier gilt tatsächlich der Wille fürs Werk (aber hat nicht genau das Hermann Gremliza mit der Verleihung des Karl Kraus Preises an Günter Wallraff wiederlegt? Anm.: G.W.), und wenn, wie bei Bettauer, ein scharfer Blick auf politische Macht sich mit der Unerschrockenheit paart, die handelnden Charaktermasken kenntlich auftreten zu lassen, hat sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Opernball aber lässt vermissen, was eine gelungene Kolportage auszeichnet: die offene Attacke gegen die Mächtigen, den Auftritt des Ideals, das seine Kraft aus der Kluft von trotziger Kühnheit und realer Macht schöpft und dadurch den Leser als leidenschaftlichen Voyeur in seinen Bann schlägt. Die Weltfülle von Opernball ist aber nur die Kehrseite der zugrundeliegenden Ideenarmut.“

Nachdem Riess den Kardinalfehler Haslingers festgestellt hat: er schreibt nicht wie Bettauer, kann er in s Detail gehen und seine Vorwürfe an den Autor an konkreten Stellen plausibel machen. Hier wirft er ihm vor, dass all dies, was er sich ausgedacht und aufgeschrieben hat, in keiner Weise Anspruch auf Realismus, schon gar nicht auf Wahrheit erheben kann: „Kein Neonazi käme auf die Idee, den Opernball anzugreifen.“ und später: „Haider als Opfer der Neonazis, eine weiterreichende Exkulpation, eine größere Missachtung und Verharmlosung seiner Rolle bei der Formierung der extremen Rechten ist schwer denkbar.“ und wieder später, klar ausgesprochen: „...doch der Aufklärungsschriftsteller (Haslinger ist gemeint, G. W.) weigert sich, die Realität wahrzunehmen“. Und daraus folgert Riess in seiner Kritik den dritten Fehler Haslingers, der aus den ersten zwei logischerweise sich ergeben muss; er vernebelt die Begriffe, er geht leichtfertig mit Tabus um, er hält es mit dem Feind. Das liest sich dann - ganz beleidigte Aufklärung und political correctness - so: „Haslinger borgt sich das tabuisierte Bild des Gastods, und er tut dies mit einer Selbstverständlichkeit, als handelte es sich um irgendein beliebiges Tableau, eine jener unzähligen Menschheitskatastrophen eben, deren unterschiedslose Aneinanderreihung nach revisionistischer Auffassung Geschichte ausmacht. Die Fiktion ist aber nicht befugt, sich leichtfertig über historische Tabus hinwegzusetzen, und der inflationäre Gebrauch des Worts ,vergasen‘ stellt einen solchen Tabubruch dar. Darüber hinaus finden sich in Opernball weitere Tendenzen zur Relativierung des Holocausts.“ Und weiter: „...in der Tat gibt es keine langweiligeren Menschen als jugendliche Faschisten, und ein umsichtiger Autor würde schon aus Gründen des geistigen Selbstschutzes vermeiden, sie in das Zentrum einer Erzählung zu rücken“.

Soweit also Riess und die wesentlichen Elemente seiner Kritik.

Aber wie es bei Nestroy so schön heißt: „S’ist alles net wahr!“ Vielmehr muss ich annehmen, dass der „Opernball“, den ich gelesen habe, und der, den Riess kritisiert, zwei verschiedene Bücher sind. Jedenfalls kommt in dem Buch, das ich kenne, klar zum Ausdruck, dass der Anschlag auf den Opernball zwar das Werk einer sehr sonderbaren Sekte ist, die mit bunt zusammengewürfelten ideologischen Versatzstücken ihr Innenleben aufmöbelt, aber nie ist die Rede von jugendlichen Faschisten oder Neonazis, im Gegenteil, der Ingenieur (also jenes Mitglied der „Entschlossenen“, das der Journalist Fraser findet und interviewt) wendet unverhältnismäßig viel Zeit auf, um darzustellen, welches Amalgam von religiösen, philosophischen und historischen Versatzstücken ihre Gruppe beherrschte, und wie sie sich mit diesem Gedankenschrott aber von Neonazis distanzierten (s. S. 29 ff und S. 89). Ebenso ziehen sich durch die Auslassungen des Ingenieurs Andeutungen, dass jemand anderer an den Vorbereitungen des Gasangriffs beteiligt war und davon im Wege eines Wahlsieges der Nationalen Partei und unter Mithilfe höchster Vertreter der Polizei profitierte (s. S. 429 ff). Aber auch eine Verwicklung des Fernsehsenders, der die Übertragungsrechte am Opernball besitzt, in das Massaker steht im Bereich des Möglichen (s. S. 328f). Mit Neonazis ist es also nichts. Was aber damit, dass dem Schwadronieren der „Entschlossenen“ (und nicht nur ihrem Gerede) so großer Raum geboten wird?

Offensichtlich geht es Haslinger mehr um Befindlichkeiten als um ein klassisches whodunit. Dargestellt wird die Befindlichkeit einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen ist. Dargestellt wird die Befindlichkeit von frei flottierenden Individuen, die in dieser Gesellschaft zum Handeln kommen. Dargestellt wird die Befindlichkeit einer Gesellschaft und ihrer Individuen, deren Handeln und Sein seltsam asozial, unverbindlich und konsequenzlos ist. Ein jedes tut und lässt, was es zu wollen glaubt und verirrt sich in selbst gestellten Aufgaben, die alle mit Rettung und Erlösung zu tun haben und nie zu ihrem Erfolg, nicht einmal richtigem Scheitern führen, und die die gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich unberührt lassen. So bleibt von all den großen Entwürfen und Engagements nichts übrig außer der sprachlichen, schriftlichen, medialen Aufzeichnung von Äußerungen Einzelner, die einander in ihrer sozialen Leere zum Verwechseln ähneln, seien es nun der Kameramann oder der Terrorist; eine inhaltslose, geschäftige, geschwätzige Begleitmusik zu einem bedeutungslosen, nichts bewirkenden Agieren.

Eine Ahnung von diesem Anliegen Haslingers, so die Welt, according to him, anhand eines grotesken Vorwands seinem Publikum darzustellen, macht sich sogar bei Riess bemerkbar, schreibt er doch: „... vor allem aber berichtet der Roman von der Sprachlosigkeit angesichts einer versinkenden Republik.“ Das könnte fast so akzeptiert werden; zwar ist Sprachlosigkeit eine unzureichende und nicht gerade treffsichere Vokabel, wo der Roman doch auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung von Information geschrieben ist (auch sehr doppeldeutig: Informationsvermittlung als medialer Zugang zur Wirklichkeit - erneute Doppeldeutigkeit - , aber auch Informationsvermittlung als das große „Achtung!“ Haslingers, als sein eigener Zugang zur Wirklichkeit), wo also eher eine vielschichtige, widersprüchliche Sprech- und Reflexionspraxis in s Spiel kommt, aber solange Riess auf die Folgenlosigkeit der sozialen Beziehungen und Kommunikationsversuche abzielt, die jenseits dieser medialen Praxis stehen, will ich ihm diese Beschreibung des Romans durchgehen lassen.

Leider versteigt sich Riess aber wieder sofort in sein Unverständnis des in Frage stehenden Textes, wenn er fortfährt: „Hätte der Autor diesen Weg weiter verfolgt, wäre vielleicht nicht der erste österreichische Politthriller, wohl aber eine spannende Kolportage entstanden (Riess findet sich und sein Thema wieder, G. W.). So aber rächt sich die konsequente Missachtung des eigentlichen Themas (das Heranreifen des Faschismus im Kokon der bürgerlichen Gesellschaft) in einer unbegriffenen (von wem? G. W.) Beschwörung von Gewalt“. Hier geht die Präpotenz schon ziemlich weit. Hat Riess das Thema gestellt, den Auftrag für das Buch gegeben? Wie kann er das eigentliche Thema behaupten? Im Gegenteil ist das Thema, das eigentliche, nicht das Heranwachsen aus dem schlecht gereimten noch fruchtbaren Schoß, sondern der Einbruch irrationaler, individualisierter, asozialer Gewalt ohne Rückkopplung in eine Gesellschaft, der alle Menschen schon so gleich sind, dass sie an dieser Gleichgültigkeit zerbrechen werden, sofern sie sich nicht zum Herrscher über ihre Umgebung aufzuschwingen mühen. Das ist das Thema von „Opernball“ und der darin beschriebenen Gewalt, ob diese nun der Rechtsstreit des Dichters mit seinem Mäzen, der Drogentrip mit folgendem Entzug des Sohnes Frasers oder das Attentat auf die gute Gesellschaft, der kalte Putsch gegen die schlechte Gesellschaft ist; was dann auch als dasselbe daherkommt: die gute und gleichzeitig schlechte Gesellschaft, in der sich eins bewegt.

Angesichts dieses „eigentlichen Themas“ also fordert Riess einen Realismus ein, der sich an der beschriebenen Wirklichkeit gründlich blamieren würde; heraus käme so etwas wie ein neuer Simmel (übrigens ein Vertreter des in der österreichischen Nachkriegsliteratur unbekannten Genres „Politthriller“), denn mittlerweile kommen Roman und Wirklichkeit auf negative Weise zur Deckung, eine Erkenntnis, zu deren Aufnahme es nicht mehr der Anschläge von Tokyo und Oklahoma bedurft hätte; und das bezieht sich jetzt nicht auf den gegebenen, vorliegenden Band und die bestätigende Zufälligkeit der Attentate, sondern auf allgemeine künstlerische Beschreibung der die Kunst umgebenden und hervorbringenden Wirklichkeit selbst. Ich habe weiter oben davon gesprochen, dass Haslinger sich als Thema stellt und beschreibt die Befindlichkeit einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen ist, die (allerdings auf negative Weise) zu sich kommt. Ich möchte darauf ein klein bisschen näher eingehen.Vor nicht allzu langer Zeit, vor etwa fünfzig bis hundert Jahren noch, war eine gegebene künstlerische Aussage von einem einheitlichen, inhaltlich und formal gleichermaßen eingehaltenen Prinzip bestimmt. Vor dem Hintergrund einer vorgeschobenen Situation - wie real oder irreal sie auch sein mochte - trafen dramatis personae aufeinander, die wie in einem Reagenzglas (oder einem Mysterienspiel) durch die Darstellung ihres Parts und die Abgleichung ihres Parts mit dem anderer exemplarisch das Schicksal der Menschheit auf sich nahmen und durch ihr abbildhaftes Handeln gesellschaftliche Beziehungen und Vorgänge (zumindest ideologisch) transparent machten. Die Schicksale dieser Kunstgestalten eröffneten dadurch ein weites Feld für mittelmäßige Schullehrer, die hinfort ihre Anbefohlenen mit Fragen wie: „Wie hättest Du an Stelle von Wilhelm Tell beim Apfelschuss gehandelt?“ quälen durften.

Die Standardantwort auf diese pädagogische wie kunsthistorische Zumutung ist immer noch: „Hier handelt es sich um eine konstruierte Situation, die uns die Kunst, nicht aber das Leben bietet; ich kann nicht sagen, was ich an Tells Stelle gemacht hätte, ich kann höchstens ein paar Reflexionen über Handeln und Sein anbringen, die genauso spekulativ wie die Figur sind, an der sie exemplifiziert wurden “ Dies gilt für die „Brüder Karamasow“ genauso wie für die „Stadt in der Wüste“, den „Untertan“ ebenso wie für den „Zauberberg“. Dies gilt aber nicht mehr für die heutige Gesellschaft. Hat früher ein Kunstwerk noch vorweggenommen, was im Allgemeinen undenkbar war und nur als Kunstwerk goutiert, aufgenommen und bedacht werden konnte, versehen mit der Anmerkung, hier solle uns etwas gesagt, hier sollen wir vorbereitet und vielleicht sogar gewarnt werden, so ist heute die Inkubationszeit zwischen künstlerischer Äußerung und realem Sachverhalt abgelaufen. Was einst als Kunstwerk provozierte und so mit höheren Weihen versehen noch durchgehen mochte, ist heute fade geworden: die Dialoge von Wladimir und Estragon erinnern nur noch an ein abgestandenes Ehedrama.

Dafür aber finden sich Romane, die nicht mehr als kunstvolles Ebenbild einer Gesellschaft sich gerieren, auch nicht als sensibler Ausblick aus der Gegenwart in welche Zukunft auch immer, sondern als Klischee im photographischen Sinne sich auf die Wirklichkeit legen und mit ihr verschmelzen; natürlich verstummen vor diesem Vorgang Kategorien wie Realismus oder Naturalismus, vielmehr verschafft sich ein Blick Geltung, der an Virtualität und medialer Vielfalt sich schulen musste. Die Aussage, die diese Form von künstlerischer Äußerung transportiert, lautet: „Die Kunst ist nicht mehr der Exerzierplatz von Wirklichkeit, wo geübt und vorgestellt wird, was einst sein könnte, die Kunst hat vielmehr diese Funktion verloren und ist bloß noch identifizierendes Abbild einer Welt, die wie ein schlechter Roman ist.“ Das gilt übrigens für “Schubumkehr“ genauso wie für „American Psycho“, für die Malerei von Lassnig ebenso wie für die Musik von Essl. Damit möchte ich noch nicht ein Qualitätsurteil über die Bücher und Personen abgegeben haben. Im Gegenteil, wo etwa Lassnig ihre große analytische und fachliche Kompetenz ins Treffen führt, tendiert Haslinger dazu, dies aufzugeben, von Menasse und seiner „Schubumkehr“ ganz zu schweigen.

Die Frage ist also: hat Riess Haslinger richtig kritisiert? Ich glaube, dass nicht, und will noch einmal die wesentlichen Differenzen zwischen mir und Riess herausstellen. Riess lässt sich auf den vorgefundenen Text erst gar nicht ein, sondern legt jeder Beschäftigung damit ein Raster für soziale und literarische Betrachtung vor, das nur seine eigene eingeschränkte Sichtweise eines enttäuschten guten Menschen beweist. Dazu kommt noch ein überaus penetrantes Sendungsbewusstsein, das mit dem Wissen darüber ausgestattet ist, wie ein guter Mensch schreiben und was ein guter Mensch lesen soll. Als Grundlage für diese Anmaßung dient ein manichäisches Konzept von Gut und Böse, das wieder nur bestimmten Charaktermasken ihren Auftritt erlaubt: wer Kolportage schreibt, muss wie Bettauer schreiben, muss aufrütteln, Sympathie erwecken, den Teufel an die Wand malen und gleichzeitig bannen; wer Überfälle begeht und sich in irrationale Welterlösungsphantasien versteigt, kann kein guter Mensch sein; wer kein guter Mensch sein kann, ist ein böser Neonazi; wer einen bösen Neonazi falsch darstellt, kann kein guter Schriftsteller sein - der Kreis schliesst sich. Es ist dieses hermetische Weltbild, das Riess zu seiner Kritik verführt, die am Schluss vollkommen versandet; seine Behauptung, Haslinger hätte einen Landserroman verfasst, macht letztendlich eine Auseinandersetzung mit Riess zum Schattenboxen.

Ich will also lieber versuchen, ein anderes Finale zu präsentieren, und das könnte so gehen: Wir leben heute in einer Welt, die mit ihrer künstlerischen Entäußerung zur Deckung kommt. Das Unwahrscheinliche geschieht nicht mehr in der Konstruktion, das Exemplarische geschieht nicht mehr in der Darstellung; das Unwahrscheinliche begegnet heute einem unaufdringlich auf Schritt und Tritt, das Exemplarische ist zum Alltäglichen geworden (die Gesellschaft als ideologisches Konstrukt, als künstlerische Aussage ist tatsächlich mit sich selbst als (sich be-)herrschendes Verhältnis eins geworden). War „Alles ist erlaubt (wenn Gott denn tot ist)“ noch vor nicht allzu langer Zeit ein Satz, der in Kunst und Philosophie des langen und breiten gewälzt wurde, so ist „anything goes“ zum nicht hinterfragten Allgemeingut geworden. Künstler wie Haslinger reagieren darauf, dass sie dieses „anything goes“ abrufen. Sie stellen dar, was rund um sie ist. Sie verschwenden keinen Gedanken an Analyse oder andre Formen von Einsicht, sie fragen nicht, was der Gesellschaft an negativer Entwicklung zuzutrauen wäre und ob eins davor warnen sollte. Sie zeichnen einfach ein unkompliziertes Bild dessen, was so geschieht. Darin liegt sowohl die Stärke als auch die Schwäche von Haslingers Buch. Die Stärke ist ein Realismus, der sich nicht an Charaktermasken orientiert, sondern an Wirkungslosigkeit; selbst wo bis zur Kenntlichkeit beschriebene Figuren den Roman bevölkern, beschreiben sie nicht eine soziale Schicht mit zuordbaren Machenschaften, sondern bloß soziale Möglichkeiten, die zu nützen schon eine ziemlich beliebige Angelegenheit geworden ist , weil sie allen offen stehen. Dieser Realismus ist photographisch (technisch reproduzierbar) treu. Das ist aber auch seine Schwäche. Er lässt sich von der Perspektivlosigkeit der beschriebenen Zustände vereinnahmen und affirmiert sie. Nicht, dass Haslinger mit dem Feind fraternisiert, wie Riess glauben machen möchte; nein, es gibt nichts Gutes zu verteidigen, geschweige denn Aussichten in eine Entwicklung zu beschwören (sei es zum Guten, sei es zum Bösen), und so lässt Haslinger sein republikanisches Pathos ersatzlos schweigen. Riess macht s ihm zum Vorwurf. Derweilen sind Welt und Roman schon in eins gefallen, und so geschah s.