Eröffnung der Vernissage Walter Gartlers, gehalten am 26. Mai 2009

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leute!

Wir sind heute hier versammelt, um der Eröffnung einer Vernissage beizuwohnen. Dies hingenommen, erübrigt sich jede Begrüßung, denn wenn wir an einer intimen Situation teilhaben, darin überrascht werden oder in sie hineinplatzen, grüßen wir ja auch nicht. Und intim ist die Situation in der Tat, wenn wir einen Künstler mit seinem Werk antreffen. Oft ja sehen wir einen Künstler, ohne ihm dieses sein Existieren wirklich zu glauben, und je mehr er beteuert, einer zu sein, desto skeptischer reagieren wir und zeihen ihn der Eitelkeit, gar der Wichtigtuerei und erwarten nichts von ihm als dilettantische oder gar keine Hervorbringungen. Öfter aber ist uns das Kunstwerk allein ohne seinen Schöpfer begegnet, ohne auf ihn zu verweisen, und wir erwarten auch vom Kunstwerk gar nicht, dass es uns mit seinem Künstler bekannt macht.

Und nun das: Wir stehen dem Künstler gegenüber und sehen ihn, wie er seinen letzten Akt mit seinen Kunstwerken vollzieht. Zwar tun wir so, als wäre diese Zudringlichkeit, die auszuüben wir eben im Begriffe sind, für uns nichts Neues, als würden wir, geladen, wie wir uns schließlich finden, mit dieser Herausforderung, mit diesem Angriff auf unser Schamgefühl souverän und weltmännisch umgehen. Und doch stehen wir etwas unbehaglich umher, wissen nicht recht, wohin mit unseren Händen, wohin mit unseren Zungen, wissen nicht, was tun und was sagen. Wir trösten uns wohl mit der Ausrede, wir wären nicht gekommen, hätten wir nicht die Einladung empfangen, grad so, als wäre diese Vernissage nicht Folge unseres Voyeurismus, sondern dem Exhibitionismus des Künstlers geschuldet. Und wenn wir diese Umkehrung der Verhältnisse auch nur allzu gerne und allzu bereitwillig den Markthallen, in denen so eigenartige Gesetze herrschen, dass sie die Eröffnung einer Vernissage zeitigen, in die Schuhe schieben, so bleibt doch die Erkenntnis unwidersprochen, dass wir für die Existenz der Markthallen, in die wir Leute wie Walter Gartler zwingen, und die Durchführung der in ihnen herrschenden Gesetze mit verantwortlich sind.

Und so gesellt sich zur Intimität der Zweisamkeit des Künstlers mit seinen Werken die Obszönität der öffentlichen Zurschaustellung. Bevor wir uns aber ihr hingeben, durchaus auch – womöglich noch in unserem eigenen Interesse – um das Intime zu bannen, dem wir ja doch nur peinlich berührt gegenüber stehen, wollen wir uns unsere Aufdringlichkeit noch einmal vergegenwärtigen. Natürlich könnte hier eingewandt werden, dass dieser Augenblick, zu dem wir uns Zutritt verschafft haben, durchaus nichts Ungewöhnliches ist. Es mag schon sein, so kann mir entgegen gehalten werden, dass die Lektüre eines Gedichts, die Betrachtung eines Bildes ohne die Anwesenheit derer auskommt, die diese Kunstwerke geschaffen haben. Wie aber sieht es dann zum Beispiel mit Musik aus? Brauchen wir da nicht unbedingt die Orchester, die Bands, die Sängerinnen, die Dirigenten, die Virtuosinnen? Das mag wohl so sein, aber die Anwesenheit der Komponisten ist nicht wirklich erforderlich und die Bemühungen der Schauspieler und Solistinnen, vom interpretierten, wiedergegebenen Kunstwerk Aufmerksamkeit abzuziehen und unter den bemerkenswertesten körperlichen, seelischen und geistigen, ja tatsächlich auch sozialen Verrenkungen und Verletzungen auf die eigene Person zu lenken, spricht eine beredte Sprache. Die erzählt wiederum davon, wie sekundär die Wiedergabe ist, gemessen am Akt der Schöpfung. Das beste Orchester, der großartigste Schauspieler, die eleganteste Sprecherin, die virtuoseste Solistin, sie alle wären sehr sonderbare Figuren, gäbe es nicht Haydn, Shakespeare, Neuwirth oder Streeruwitz. Und in den wenigen Fällen, wo darstellende Kunst die Einheit zwischen Kunstwerk und Künstler uns anbietet, sei es im Aktionismus, sei es im Musikantenstadel, befinden wir uns auch schon auf der Durchfahrt zwischen Scylla und Charybdis, schwanken unangenehm berührt vor den Zumutungen der Intimität, die uns auszuschließen nicht im Stande ist, und den Zumutungen der Obszönität, deren Schaustellung wir abzulehnen uns gezwungen sehen.

Den Künstler mit seinem Kunstwerk anzutreffen, ist uns also nicht oft gegeben und für alle Beteiligten nicht ganz einfach. Darüber hinaus ist der flüchtige Moment der Intimität, der Zweisamkeit durch das Hinzutreten Dritter, also von uns, sofort aufgelöst, der Künstler und seine Werke lösen sich – errötend, überrascht – voneinander und wir tun so, als wären wir Zeugen dessen, dass der Künstler seine Werke in die Welt schickt, als wäre er Herr seiner Werke, die er nun loslässt, damit sie seinen Ruhm verbreiten, und wir wollen durch unsere Anwesenheit einen Anteil an dieser Glorie für uns einfordern.

Das ist nun der Punkt, wo wir anfangen, uns daneben zu benehmen. Vergessen wir die Ausgangsposition nicht: Wir sind in eine Zweisamkeit geplatzt, die wir sehr wohl noch erkennen, aber auch schon im Augenblick unseres Eintritts ruiniert haben. Jetzt nützt auch kein diskretes Zurückziehen. Keins von uns kann mehr so tun, als wäre nichts geschehen. Und da Schweigen nichts mehr hilft, halbherzig gemurmelte Entschuldigungen nicht fruchten, beginnen wir zu reden. Wir beginnen beispielsweise – verlegen, aber recht eigentlich gerne –, die Werke des Künstlers zu interpretieren und den Künstler zu verstehen. Das ist im Prinzip nicht unangebracht, aber dummerweise – und unschicklicherweise dazu – tun wir das in Gegenwart des Künstlers. Und weil er zugegen ist, spüren wir das Ungehörige der Situation und unseres Verhaltens, wollen es ungeschehen machen und greifen zum schlechtesten Mittel, das uns einfällt: Wir bitten den Künstler, uns bei der Interpretation seiner Werke Recht zu geben. Dieser faux pas ist nun wirklich nicht mehr gutzumachen und der Künstler tut, wozu wir ihn durch unsere Anwesenheit verpflichten. Er überlässt uns und seine Werke einander, sie sind nun für ihn so fremd, wie wir es für ihn sind, und wir können beginnen, sie uns einzuverleiben. Es bleibt dabei nur noch die Frage zu beantworten, warum wir das tun und warum wir das auf diese Weise tun.

Wir können bei der Beantwortung dieser Frage wieder auf die Ausgangsposition zurückkommen, auf das Gegensatzpaar Intimität – Obszönität. Wie wir uns dazu verhalten, entspricht dem Verhalten unserer gesellschaftlichen Verhältnisse ganz allgemein: dass wir uns und unsere Verhältnisse nämlich nur in diesen Gegensätzen wahrnehmen können. So ist es uns ganz vertraut, unsere Welt einzuteilen: Mann und Frau, Raucher und Nichtraucher, Öffentlichkeit und Privatheit, Arbeit und Freizeit, Staat und Gesellschaft, Natur und Kunst und was da mehr. Wir kennen dies alles nicht nur aus dem Alltag, wir kennen es auch aus den theoretischen, wissenschaftlichen wie philosophischen Beschreibungen unserer modernen, bürgerlichen, kapitalistischen Verhältnisse. Hegel hat sich sehr bald, nachdem sich unsere Verhältnisse gegenüber den früheren durchgesetzt haben (oder eigentlich schon während sie erst sich durchsetzten), drangemacht, für diese Gegensätze und für ihr Prozessieren die geeigneten gängigen Formeln zu finden. Da ich nicht an Zufälle glaube, ist es auch kein Zufall, dass gerade Walter Gartler sich mit Hegel ausgiebigst auseinandergesetzt hat, ausgiebig genug, um mich der Vereinfachung um der Pointe willen zu zeihen. Aber ich kann dies guten Gewissens erwähnen, denn nach meinen vorigen Ausführungen müsste klar sein, dass es sich verbietet, im Laufe des Abends den Künstler zu fragen, ob er sich nicht dazu äußern will, was er von all dem halte.

Sie werden also, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leute, Ihre Einwände selbst formulieren müssen, und der gängigste könnte wohl lauten, dass es Mann und Frau, ein Phänomen und sein Gegenteil, Gut und Böse, Links und Rechts wohl immer gegeben habe, dass die Leistung Hegels also auch nicht so neu und originell wäre, und dann wird in aller Regel auf Yin und Yang verwiesen. Das Neue gegenüber den vorigen, vormodernen Beschreibungen und Erklärungen der Welt aber ist, dass wir in unseren modernen aktuellen gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen diesen Gegensätzen, diesen gegensätzlich paarweise angeordneten Phänomenen Autonomie gegenüber ihren Partnern zuschreiben. Arbeit und Freizeit ergänzen einander also nicht und wären in einer symbolischen Darstellung wie in dem Yin-Yang-Symbol nicht erfassbar, das ja zwei recht eigentlich identische Dinge, also eigentlich nur ein Ding in verschiedener Betrachtung zeigt. Der Unterschied, der Gegensatz entsteht also aus einer räumlichen und zeitlichen Dimension, je nachdem ob die Sonne etwas bescheint oder einen Schatten wirft, ob die Tür geschlossen ist oder offen, ob es Sommer ist oder Winter.

Dem gegenüber aber erscheint die Autonomie, die diesen Sphären in unserer modernen Sicht der Welt zugedacht ist, zugeschrieben ist, nicht als Kehrseite oder als Ergänzung, sondern als für sich Seiendes, das erst im Prozessieren mit einem anderen zu einem Ergebnis kommt. Es kann kein Zufall sein, dass so eine Aussage, die doch noch theoretisch gemeint ist, sofort als Illustration das Bild des Gerichtsverfahrens herauf beschwört, als könnte so besonders einleuchtend klar gemacht werden, was ich meine. Und was unsere Gesellschaft von sich selbst behauptet, dass sie so nämlich eingerichtet sei, dass das Glück und das Fortkommen aller durch das Glück und das Fortkommen des Einzelnen zu befördern sei, zeigt ja auch sehr schön, wie der Gegensatz Individuum – Gesellschaft in unseren Verhältnissen verhandelt wird: so als wäre der Egoismus des Einzelnen die zentrale soziale Tugend. So reißen unsere Gegensatzpaare auseinander, was untrennbar verbunden war, strafen Yin und Yang Lügen, zeigen dem Manichäismus, wo Gott wohnt, nämlich in unseren gottlosen Verhältnissen, trennen das Individuum von der Gesellschaft, die Produktion von der Reproduktion, indem sie die eine, die Produktion, zur öffentlichen Wohlfahrtsangelegenheit erklären, die in dem perversen Verständnis von Beförderung des Glücks Angelegenheit der Einzelnen sein muss, deren eigene subjektive Unternehmung, während die andere, die Reproduktion, zur alleinigen Privatsache der Individuen, zu ihrer Privatangelegenheit wird, in die sich niemand einmischen dürfe, die niemand etwas angehe, nach dem perversen Verständnis von Beförderung des Glücks aber Ausdruck einer allgemeinen Wohlfahrt sein soll.

Angesichts dieser Autonomie gesellschaftlicher Sphären, wie wohl auch die Kunst eine ist, und dem Prozessieren dieser Autonomien um gesellschaftliche Anerkennung, um Emanzipation ganz allgemein gesagt, angesichts dieser Autonomien, die sofort auf ähnliche und in dieser Ähnlichkeit widersetzliche stoßen und sich nun mit ihnen vertragen müssen, also Verträge abschließen, angesichts dieses Ordnungmachens durch Verträge, kann es auch nicht Wunder nehmen, dass Karl Marx sein Werk „Das Kapital“ damit beginnen lässt, dass er gleich an den Anfang, nachdem er das Skandalöse unserer Verhältnisse benannt hat, nämlich, dass der Reichtum als eine ungeheure Ansammlung von Waren erscheint, auch in den Waren selbst schon so eine autonome Aufspaltung in zwei Gegensätze beschreibt: in Tauschwert und Gebrauchswert. In der Folge wird in den drei Bänden ausgeführt, welches Prozessieren zwischen Tauschwert und Gebrauchswert eine Gesellschaft und ihre Reichtumsproduktion erst antreibt, nachdem sie sich bereit gefunden hat, das Zerteilen von Menschen und Reichtümern zu akzeptieren. Die Menschen werden zerteilt in öffentliche weiße erwachsene Männer, die sich gegen die Fürsten emanzipiert haben, und in alle anderen. Diese anderen, Frauen, Sklaven, Kinder, Leute aus anderen Ländern, nicht zu vergessen Arbeiter müssen sich erst emanzipieren, um Verträge abschließen zu können. Der Reichtum wiederum wird zerteilt in Waren, die nicht unmittelbar verzehrt werden können, wenn Not oder Lust herrscht; erst müssen sie durch die Markthallen hindurch, wo die Intimität von Verkäufer und Ware herrscht oder vorgetäuscht wird, wo ebenso die Obszönität der Schaustellung betrieben wird und wo der Verzehr durch Verkauf und Kauf gesellschaftlich verdoppelt wird, die Garantie des Gebrauchs also mit der Zustimmung zu unseren kapitalistischen Verhältnissen erkauft wird.

Es ist aber dieses Zustimmen, gewollt oder erzwungen, das uns mitverantwortlich macht für das Aufrechterhalten eben jener Zustände; Zustände, die dann in künstlerischen Hervorbringungen, in Kunstwerken beschrieben, zur Kenntlichkeit gebracht und kritisiert werden, wie wir sie gleich betrachten, bestaunen, interpretieren und verstehen. Es ist dieses Zustimmen, gewollt oder erzwungen, das uns heute anlässlich der Eröffnung einer Vernissage in die Zwickmühle von Intimität und Obszönität und zur Frage nach angemessenem Handeln führt. Die Antwort mag wohl sein, morgen in aller Ruhe und Diskretion noch einmal hierher zu kommen und ein Bild zu erwerben. Dass uns fair trade und verantwortungsvolles Einkaufen als letzte moralische Handlung bleibt, kann aber nur gelten, solange wir uns mit diesen Verhältnissen abzufinden bereit sind.