Die Leute der Geschichte

 

Einleitung

Eines der am meisten bekannten Zitate von Karl Marx stammt aus dem Kommunistischen Manifest und lautet: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Und gleich darauf wird dieser Gedanke weiter ausgebreitet und gipfelt in der Behauptung: „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Dieses Zitat ist allgemein bekannt und gehört quasi zur Folklore der Linken; ich erspare mir daher die Angabe der Belegstelle.)

Dabei ist dieses „jedes Mal“, das eine revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft oder einen gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen in Aussicht stellt, ein Hinweis auf eine historische Unschärfe, auf die dann ganze Generationen von KlassenkämpferInnen das Treiben ihres Wesens stützten. Wenn auch ein Manifest eine literarische Form der Agitation ist, die der wissenschaftlichen Genauigkeit entbehren mag, so wurden diese Sätze doch als eine Grundlage gesehen, auf der das gesamte Weltbild eines Arbeiterbewegungsmarxismus fußte.

Wir wollen hier kurz das Instrumentarium einer Gesellschaftskritik uns vergegenwärtigen, die zu so getanen Aussagen findet. Zwei Begriffe sind es, die dabei ins Auge springen: Geschichte und Klasse, miteinander verschränkt. Beide Begriffe verdanken ihre Entstehung der Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaften und sind methodisch seit Buffon 1 und Linné 2 eingeführt. Buffon, wenn auch weit davon entfernt, evolutive Vorstellungen zu entwickeln, war doch der erste, der in der Naturwissenschaft eine historische, nach Epochen gegliederte Einteilung traf und so das Tor für die moderne Wissenschaft weit öffnete („Des Époques de la Nature“, erschienen 1778). Ab diesem Zeitpunkt (und Buffon hatte sich noch mit den Ermahnungen der theologischen Fakultät der Sorbonne zu plagen) könnte Geschichte quasi als Leitfossil der modernen Wissenschaften betrachtet werden 3. Und es ist auch eine quasi-geschichtliche Vorstellung, die Linné bei seiner Klassifizierung leitet.

Klassifizierung bedeutet schlechterdings eine Kategorisierung nach willkürlich gewählten äußeren Merkmalen. Das von Linné gewählte Merkmal war das der Verwandtschaft und führte ihn dazu, wenn er auch – gleich Buffon – gläubig blieb, die Idee der Schöpfung infrage zu stellen oder wenigstens unentschiedene, wenn nicht widersprüchliche Aussagen zu tätigen. Nur knappe hundert Jahre später waren Historizität und Klassifizierung in der Naturwissenschaft so verankert, dass sich die Wissenschaften selbst klassifizierten, ohne ihre Herkunft aus einer völlig neuen Denkform zu begreifen.

Selbst die Tatsache von Geschichtlichkeit wurde nicht mehr als Errungenschaft des Denkens der Aufklärung erkannt, sondern war bald schon selbst Gegenstand einer bis heute andauernden Debatte darum, welche gesetzmäßige Form die Geschichte der Welt anzunehmen habe: evolutiv oder katastrophisch 4. Und wenn Marx im oben erwähnten Zitat Umgestaltung oder Untergang in Aussicht stellt, dann hat er in seiner Zeit zu diesem Diskurs sein Teil beigetragen. Auch seine taxative Aufzählung von Klassen (das dumme Wortspiel „von Klassen von Klassen“ lässt sich gerade noch vermeiden), bezogen auf die äußeren Merkmale Unterdrückte und Unterdrücker, legt sofort eine Epochengliederung nahe, also ein historisches Vorgehen.

Diese Gliederung wieder wird nach äußeren Kriterien vorgenommen, diesmal nach Eigentumsverhältnissen und darin abgebildeten Klassen sowie nach wieder in den Klassen sich ausdrückenden Formen von Produktion und Reproduktion. Da die Klassen selbst nach den Kriterien der ausgeübten oder erlittenen Unterdrückung geordnet sind, stellen sich die jeweiligen Formen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion als Herrschaftsverhältnisse dar. So finden wir die bekannte und vertraute Epochengliederung vor, die uns – auch in der Betrachtung des Marxismus (akademisch wie arbeiterbewegt) – von der Steinzeit, als Urkommunismus bezeichnet, über die vorantiken Hochkulturen, von Wittfogel als hydraulisch beschrieben, über die Stadien der griechischen und römischen Antike (sklavenhaltende Gesellschaft) zu Mittelalter, Renaissance und Neuzeit (also Feudalismus und Absolutismus) in die gegenwärtige Moderne (die bürgerliche Gesellschaft) führt.

Nun hat diese Epochengliederung durchaus den Vorteil, dass sie sich auf reale Existenzen stützt, und keins von uns bezweifelt Aufstieg und Untergang des Römischen Reichs. Was dabei aber vernachlässigt wird, ist, dass diese Gliederung sich erst einem wissenschaftlichen Blick verdankt, der seinerseits wiederum Merkmal der gegenwärtigen Epoche ist. Ein Römischer Kaiser des deutschen Mittelalters hätte sich eher in einer Kontinuität stehend begriffen, die den Gedanken an einen Epochenbruch nicht hätte denken und wahrnehmen können.

Ziel dieses Aufsatzes ist es nun, zu überprüfen, ob das Instrumentarium, das im Zuge der Entwicklung von Wert-, Fetisch- und Abspaltungskritik in unserem Diskurs vorgelegt wurde, auch für eine historische Sicht taugt. Es werden dabei die Kriterien, nach denen eine solche Rückschau vorgenommen wird, benannt und dargestellt. Damit soll gezeigt werden, dass unsere Rückschau, die wiederum zu einer Epochengliederung führen wird, sich ja auch dem Blickpunkt einer Moderne verdankt, die historisches Sehen zu ihrer Existenzweise gemacht hat, wovon wir nicht frei sind. Wir können aber – und auch das ist ein Ziel dieses Aufsatzes – zu einer historischen Sicht uns bewegen, die auf teleologische Gerichtetheit verzichtet und damit auch zu einer Kritik unserer Gesellschaft beitragen, die sich als kausales und notwendiges Ergebnis einer stetigen Entwicklung, als Höhe- und Endpunkt dieser Entwicklung betrachtet.

Wir müssen uns dabei von den Merkmalen verabschieden, nach denen das „Kommunistische Manifest“ ordnet. Dies bedeutet nun nicht, dass ich damit die Behauptung aufstelle, Klassen gäbe es nicht oder hätte es nicht gegeben. Herrschaft und Eigentum sind diese Merkmale, die eine Ordnung von Epochen erlauben, je nach deren Entwicklung und Ausprägung, und diese Epochen sind offensichtlich und zeigen sich logisch angeordnet und inhaltlich (also nach einer Gesellschaftlichkeit, die nach Unterdrückten und Unterdrückern ordnet) beschrieben. Der springende Punkt ist, dass so eine historische Abfolge erst im modernen Diskurs möglich ist, der diese entdeckte Geschichtlichkeit auf sich selbst bezieht 5. So unterscheiden wir zwischen römischer Antike und germanischem Mittelalter, während diese Unterscheidung Päpsten, Königen und Kaisern ebenso wenig in den Sinn gekommen wäre wie Rittern oder Bauern, von Leibeigenen und Sklaven ganz zu schweigen. Für diese Leute zu dieser Zeit waren die Kriterien, nach denen sie ihre Zeit und Gesellschaft beschrieben und erläuterten, Gott und Reich, in inniger Verbindung, und nicht Entwicklung, sondern Fortdauer war Sinn, Zweck und Ziel ihrer gesellschaftlichen Bemühung.

Wenn ich nun als Ergebnis meiner Darstellungen, einer Sicht auf die Welt als Abfolge von Fetischverhältnissen, gleich wieder eine Epochengliederung ankündige, so will ich damit die Geschichte nicht neu schreiben. Vielmehr ist es mein Anliegen, nicht eine neue Apologie der bürgerlichen Existenz aus der Entwicklung der Menschheit abzuleiten, sondern den geschichtlichen Blick selbst als Ideologie zu entlarven, die Leistungen der Früheren nicht als primitive Vorläufer, sondern als Errungenschaften in der Erklärung und Ordnung der Welt als zutiefst menschliche zu zeigen und nicht zuletzt Mut zu machen für die Errungenschaften, die angesichts eines Zerfalls unserer modernen Geselligkeit vor uns liegen.

 

Fetisch und Abspaltung als Werkzeuge der Gesellschaftskritik

Fetisch

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, dass sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“

Weiter heißt es dann:

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.“ (Hier gilt dasselbe wie oben beim Kommunistischen Manifest; für die Sammler von Kuriositäten und die Liebhaberinnen bibliophiler Aufmerksamkeiten sei noch angeführt, dass meine Ausgabe aus dem Verlagshaus Otto Meißners, Hamburg 1922 stammt, die Rechtschreibreform von 1901 nicht berücksichtigt und auf dem Vorsatzblatt wie auf dem Titelblatt Abdrucke eines Gummistempels trägt, was den Band als aus der Bibliothek des Straßenbahnhofes Favoriten, eines Wiener Arbeiterbezirks, ausweist.)

Nun ist die Welt voller Rätsel und der Begriff des Fetischs bei Marx ist eines davon. Der akademische Marxismus schwindelt sich gerne über diese Stelle hinweg und erklärt den Fetisch als Metapher, als Analogie, die Marx verwendet hat; als reales Phänomen existiere er gar nicht. Wenn Marx schreibt, Waren seien sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge, bleibt in dieser Betrachtung bloß das Gesellschaftliche übrig (das Sinnliche ist eine Binsenweisheit und das Übersinnliche wird ausgeblendet); dies wird aber wiederum als Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen gesehen, das sich in einer scheinbaren Herrschaft von Dingen über Menschen ausdrückt. Dass Marx hier überhaupt von Produkten spricht, seien sie nun solche des Kopfes (also Götter etwa) oder der Hand (also Waren in unserem Zusammenhang), deutet aber auch daraufhin, dass mit den Produkten der Hand auch gleich eine gesellschaftliche Gültigkeit verbunden ist, die über das schiere Waresein hinausgeht, dass nicht nur die Ware als Ding, sondern auch die Gesellschaft, in der sich eine Ware bewegen kann, mitproduziert wird. Und wenn dies recht eigentlich eine Produktion des Kopfs ist, müssen wir beim Lesen dieser Stelle einen historischen Materialismus extrapolieren, der sich eben erst auf die Füße gestellt hat und diese Füße auf einen Boden.

An den „Prodkten der Hand“ jedenfalls klebt – „sobald sie als Waren produziert werden“ – eine Erklärung, die aus der materialistisch interpretierten Welt selbst nicht gewonnen werden kann, sondern nur aus der menschlichen Fähigkeit und Notwendigkeit, so eine Erklärung zu liefern, also den verbindlichen Bezug zwischen Welt und Mensch (als Gesellschaft, die dieser Bezug ausmacht). Dass Marx dabei diesen Bezug an die Produkte der Hand heftet, zeigt auch schon auf die nun gültige Gestalt einer Erklärung, die hinfort ohne Himmel und Götter auszukommen von sich behauptet (auch schon bevor so etwas wie historischer Materialismus Allgemeingut wurde) und so nur Analogien zu Nebelregionen ziehen kann, respektive einen Begriff wie Fetisch in das moderne, materialistische Denken einführen muss.

Nehmen wir aber die zitierten Stellen beim Wort, so bleiben wir natürlich an den Produkten des Kopfes hängen. Welches Produkt des Kopfes ist es nun, das den Tisch zur Ware macht und damit theologischer Mucken fähig? Nun, ich vertrete den Standpunkt, dass dieses spezifische Kopfprodukt der gesamte gesellschaftliche Rahmen, die gesamte Erklärung der Welt ist, welche die von Marx beschriebenen Phänomene erst zulässt. Ich behaupte, Marx schlägt hier nicht eine Analogie vor, wenn er vom Fetisch spricht 6, sondern beschreibt im Wesentlichen, dass nun für die Waren dasselbe gelte wie ehedem für die Götter. Sie bestimmen hinfort den gesellschaftlichen Betrieb, sind mit den Menschen in Verhältnis stehende selbstständige Gestalten. Und als diese verlangen sie auch, dass, damit mit ihnen überhaupt erst Kontakt hergestellt werden kann, die korrekten sakralen Handlungen vollzogen werden. Mit den Göttern treten die Menschen in Kontakt durch Gebete und Opfer, mit den Waren treten sie in Kontakt durch Kaufen und Verkaufen. Das Fetischistische ist nach unserer Erklärung dieser Stelle bei Marx also nicht der Tatsache geschuldet, dass Menschen Dinge hergestellt haben, denen sie sich dann unterwerfen; das klingt noch zu sehr nach dem aufgedeckten Pfaffenbetrug, mit der aufgeklärten Einschränkung, dass nicht mehr der Klerus, sondern die Bourgeoisie des Betrugs überführt wird.

Das Fetischistische nach unserer Erklärung dieser Stelle bei Marx ist der Tatsache geschuldet, dass die Dinge, die Waren, eine Handlung erzwingen, ohne deren korrekte Durchführung dieser Dinge, dieser Waren keins erst je habhaft wird. Es ist also notwendig, das Zitat ernst zu nehmen und es fertig zu denken. Das bedeutet, und darauf insistiere ich, dass Fetisch sich dadurch auszeichnet, dass er zwar menschliches Produkt ist, dieses Produkt aber nicht zur Verschleierung 7 von Herrschaftsverhältnissen dient, also ein polit-ökonomischer Pfaffenbetrug ist, sondern indem es eine gesellschaftliche Ordnung selbst als Ganzes herstellt, also organisiert. Bleiben wir auf der Ebene der Klassenbeschreibung: Nicht nur das Proletariat ist zur Arbeit verdammt, will es nicht entweder die Gesellschaft verlassen oder deren Ordnung durch eine andere ersetzen, das gleiche gilt auch für die Bourgeoisie. Auch ihr gesellschaftliches Dasein ist von den Zwängen des Werts unhintergehbar bestimmt. Und Kennzeichen dieses Fetischverhältnisses ist es, dass der Fetisch von keinem geschaffen wurde, es sei denn von allen, die seinem herrschaftlichen Wirken unterworfen sind, wie es auch sein Kennzeichen ist, dass er die Gesamtbewegung der Gesellschaft reguliert (was nicht notwendigerweise heißen muss, dass aus dieser Bewegung kein Entkommen ist; aber das steht auf einem anderen Blatt).

Diese Kennzeichnen des Fetischs schließen mit ein, dass er nicht nur ein von Menschen Geschaffenes ist, nicht nur, dass er den Menschen gegenüber ein Eigenleben hat vom sofortigen Beginn seiner Existenz an, sie schließen auch mit ein, dass dieses Eigenleben auf die Menschen zurückwirkt, etwas ist, mit dem sie hinfort rechnen müssen, und zwar nicht wie sie mit der Möglichkeit einer Katastrophe, eines Lottogewinns oder eines Zufalls rechnen, sondern das nach erkennbaren Regeln ihr Leben anordnet. Und sie sind sich ihrer Schöpfung nicht bewusst. Darum geht es, wenn Marx meint, in die Nebelregionen der religiösen Welt flüchten zu müssen.

 

Abspaltung

Roswitha Scholz (2000) hat die Frage gestellt und beantwortet, was denn nun mit jenen Bereichen geschehe, die im Fetisch nicht aufgehen. Diese Frage wird gestellt im Hinblick auf den Fetisch Wert. Der Wert gibt die erkennbaren Regeln vor, nach denen das Leben der Gesellschaft sich zu vollziehen habe und nach denen er immer wieder reproduziert wird; Reproduktion des Werts umfasst dabei zwei Bereiche: einerseits die – ökonomische – Reproduktion des Werts selbst, der nicht an Wert verlieren darf, im Gegenteil auf immer höherer Stufenleiter sich wieder herstellen muss, andererseits die Reproduktion als immer wieder abgegebene Zustimmung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen von Produktion und Reproduktion, die durch ihn reguliert und bestimmt werden.

So gesehen muss die Abspaltung zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss Produktion und Reproduktion dort gewährleisten, wo sie nicht vom Wert erfasst sind, also – ökonomisch gesprochen – keine Resultate von Wertschöpfung, Resultate im Wertsinne produktiver Arbeit. Sie darf andrerseits ihrem Fetisch, dem Wert, nicht den Rang streitig machen in eben dieser Gewährleistung von Produktion und Reproduktion, sondern muss einen Ort, einen Platz in der Gesellschaft einnehmen, von dem aus sie die Totalität der Wertvergesellschaftung herstellt und garantiert, wenn auch brüchig, und sich selbst als Abspaltung dementierend. Das heißt, der Abspaltung ist es zugewiesen, sich selbst noch dem Wert dienstbar zu machen, ohne dieses Verhältnis als solches bezeichnen zu dürfen. Die Wertabspaltung bestätigt so den Wert, kann nur mit ihm gemeinsam auftreten und nur mit ihm gemeinsam untergehen.

Die Wertabspaltung 8ist aber kein beliebiges gesellschaftliches Phänomen. Sie konkretisiert sich im Geschlechterverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft und verweist auf die Konstituierung des Subjekts – also der als gesellschaftlich handelnd Vorgestellten – als männlich. Dies – die Subjektkonstitution – gilt nun aber nicht nur für einzelne Individuen, sondern in gleicher Weise für alles, was sich als Subjekt konstituiert – Vereine, Parteien, Klassen etc. So müssen wir dann auch Wertverwertung, Subjektkonstitution (als männlich, als weiß, als „westlich“) und Abspaltung als der Moderne verhaftet lesen; folgerichtig spricht Roswitha Scholz auch vom „warenproduzierenden Patriarchat“, sie macht also klar, dass die Abspaltung zwar dort angreift, wo sie auf Vorgegebenes stößt, in diesem Fall also auf einen durch verschiedene Epochen hindurch ausgeprägten sozialen Geschlechts- oder Genderdimorphismus. Doch Roswitha Scholz beharrt zu Recht darauf, dass die soziale Stellung der Frauen etwa im Mittelalter eine gesellschaftlich andere war, eben weil sie nicht durch die Wertabspaltung geprägt wurde.

Und hier, bei dieser Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Bruch, setzt nun unser Abriss vormoderner Gesellschaftlichkeiten ein. Wir stellen uns der Frage, was es mit deren Verfasstheiten auf sich hat: Waren sie ebenso wie unsere durch Fetischverhältnisse geordnet und bewegt? Wenn ja, treten diese Fetische ebenso ineins mit ihrer zugehörigen Abspaltung auf? Wenn wiederum ja, können wir rechtens aber unsere Begriffe von Fetisch und Abspaltung auf vergangene Zeiten anwenden oder sind diese Begriffe nicht dadurch definiert, dass sie aus unseren gesellschaftlichen Verhältnissen heraus entstanden sind und nur für diese gelten? Es wird ein historischer Eiertanz werden, ein argumentatives Hin und Her, soviel sei jetzt schon verraten, aber mit dieser Einleitung soll die Neugierde auf ein Durchschlängeln durch die Geschichte geweckt werden.

 

Moderne und Vormoderne

Zweierlei Vormoderne

Die Moderne betrachtet die Vormoderne in der Regel unter dem Blickwinkel, dass die religiösen Vorstellungen nicht mehr zur Erklärung der Welt taugen, dass die religiösen Mittel abgelöst werden von Mitteln der vernunftmäßigen, wissenschaftlichen Durchdringung der Welt. Dabei wird das Religiöse – vermittelt über die Vorstellungen von Gottheiten, Geistern, Dämonen, Feen, Engeln und was da mehr – in dieser modernen Sicht aus der materialen Welt gesetzt und an einen anderen Ort (beispielsweise in den Himmel) gebracht, der gleichzeitig als Erfindung – der Religion(!) – gekennzeichnet wird ebenso so wie jene Wesen, die ihn bevölkern. Dies mag sich darauf stützen, dass unzählige, einander inhaltlich bis zur Identität ähnliche Schöpfungserzählungen als Bestandteil der religiösen Weltsicht es nahe legen, Gott als Urheber der materialen Welt als außerhalb dieser zu verorten, was die Welt bewegt und zusammenhält also an eine außerweltliche Dimension abzugeben. Allein – trotz der Schöpfung der Welt durch Gottheiten – die religiös verfasste Gesellschaftlichkeit sah dies anders. Die gesamte Welt, inklusive der Gottheiten, war hermetisch abgeschlossen und insofern räumlich bestimmbar. Wo Eingänge zur Unterwelt sich befanden, war bekannt, und die Mythologien der Antike bis zu rezenten Sagen christlicher Zeit benennen die Stellen. Wo die Götter wohnten, war ebenso wenig Geheimnis, auch das Paradies war noch in den Weltkarten des dreizehnten Jahrhunderts verzeichnet.

Wir sehen also, wie die so genannten jenseitigen Vorstellungen durchaus diesseitig waren und die Erschaffung der Welt durch göttliches Wirken in keiner Weise unrealistischer ist als ein Schwarzes Loch mit einem Big Bang auf der Rückseite. In jedem Fall sind beide Vorstellungen praktikabel, das heißt, sie sind im Stand, einem gesellschaftlichen Getriebe Vorschub zu leisten und es im Gang zu halten. So gesehen spielt es auch keine Rolle, ob irgendeine Wahrheit erfasst wurde, solange die Wirklichkeit nicht tangiert war. Erst das Infragestellen der Wirklichkeit, also des Wirkens einer (religiösen) Erklärung, macht die Suche nach einer neuen Wahrheit, besser gesagt deren Entdeckung, erforderlich, worauf Gott seinen neuen Platz bekommt, nun aber wirklich im Himmel. Die religiöse Wahrheit ist nun nicht mehr wirklich, wovon die Religionsfreiheit beredtes Zeugnis ablegt; Religion ist nun ausgeschlossen von der Erklärung und Organisierung der Welt und zur sinnstiftenden Privatangelegenheit verkommen.

Selbst dort, wo sie ihren Anspruch noch aufrechterhält, kollidiert sie unweigerlich mit den modernen Gegebenheiten und bleibt unverständlich. So sind Fundamentalismen religiösen Inhalts inkompatibel mit der Moderne einerseits und andrerseits gerade ihr Produkt; und dies nicht, weil sie mit Fug und Recht etwa eine Leerstelle der materialistischen Sichtweise auf die Welt mit einem Inhalt füllen würden, den die moderne Weltsicht den Leuten versagte, nein, vielmehr deswegen, weil sie nun, abgeschnitten von der Wirklichkeit, sich in einem Leben einrichten, dessen Gottgefälligkeit nun keine Rolle mehr spielt, in dem der Kampf zwischen Gut und Böse nur noch Sache des vereinzelten Subjekts ist, das auch für Rechtfertigung selbst verantwortlich ist, und die Berufung auf Gott ruft dabei keinerlei Verständnis hervor.

Wir wollen aber an dieser Stelle nicht eine Kontinuität behaupten dergestalt, dass wir es mit einer stetigen Zunahme von Wahrheit zu tun hätten, die Gott zum Verschwinden brächte nach Maßgabe des Anwachsens von Wissen. Dies würde ja bedeuten, dass die Welt einer religiös verfassten Gesellschaftlichkeit auf Grund mangelnden Wissens oder falscher Erklärung nicht hätte existieren können, mit ihrer falschen Erklärung die Menschen hinters Licht geführt oder in existenzielle Abgründe gerissen, das Überleben der Menschheit aufs Spiel gesetzt hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Soweit wir über die Existenz von Religionen informiert sind – also über einen Zeitraum von einigen tausend Jahren –, gediehen die mit ihnen verbundenen Reiche auf das prächtigste. Unsere Frage lautet daher, was diese Welt von unserer unterscheidet, wie sie sich selbst sah, was sich uns auftut, wenn wir deren Berichte für bare Münze nehmen.

Die zweite Frage, die sich uns in diesem Zusammenhang stellt – wenn ich schon eine weiter noch nicht ausgeführte Parallelstellung von Religion und Reich angedeutet habe –, ist die nach gesellschaftlichen Verfasstheiten vor den religiösen. Die Schöpfungsmythen erzählen nur von Welten, die für Sesshafte 9 gemacht waren. Wir wollen uns aber auch damit befassen, was Leute befähigte, geordnet in einer Welt zu leben, die noch durchwandert wurde, die nur wenig durch feste Orte 10 gekennzeichnet war, und wie die Leute sich diese Welt so erklärten, dass wieder gesellschaftliche Praktikabilität gegeben war. Haben wir es dann auch mit einer Ablösung von Erklärungen, Wahrheiten und Wirklichkeiten zu tun, die auf gesellschaftliche Brüche hinweisen und ungültig machen, was vorher allgemeine Zustimmung und Anwendung gefunden hatte, dann können wir kein vormodernes Kontinuum einer Geister-, Dämonen- und Götterwelt annehmen.

 

Begriffliche Schwierigkeiten

Aber auch, wie diese allgemeine, also lückenlose, unhintergehbare Zustimmung und Anwendung zu Stande kommt, wird uns interessieren. Eine Einschränkung muss ich aber noch anbringen, bevor wir uns diesem historischen Durchgang widmen. Zunächst einmal muss klar sein, dass die Darstellung sich geografisch beschränkt. Ich werde im Allgemeinen auf bekanntem Terrain verbleiben, also zwischen Euphrat und Tigris im Osten und der Atlantikküste im Westen, wenigstens, was die Religionen betrifft. Für vorreligiöse, also magische Zustände werde ich mich eher spekulativ verhalten und es dem Publikum überlassen, historische Zuordnungen zu beispielhafter Zeit und archäologisch betreutem Raum vorzunehmen. Zum anderen muss ich darauf bestehen, dass bestimmte gewohnte Begriffe nicht mehr verwendet werden können, um inhaltliche Klarheit zu ermöglichen und um ontologischen Fallstricken zu entgehen. Dies wird zwar nicht immer durchzuhalten sein, aber wir wollen anfangs eine Verständigung darüber versuchen, wovon wir sprechen.

Die Menschen zeichnen sich - als Gattung – dadurch aus, dass sie als Wesen auftreten, die sozial und selbstreflexiv sind. Um philosophische und biologische Binsenweisheiten zu vermeiden, soll hier kurz dargestellt werden, was wir unter „Mensch“, „sozial“ und „selbstreflexiv“ zu verstehen haben. Alle drei Termini sind miteinander untrennbar verbunden. Was das Menschliche an der Gattung ausmacht, ist ein Verhalten, das als geordnete Beziehung zwischen den Menschen untereinander und zwischen ihnen und der Welt, die sie umgibt, zu Tage tritt. Diese Ordnung ist aber einer Reflexion geschuldet, die einerseits – möglicherweise genetisch – in den Menschen verankert ist, andrerseits aber sofort dazu führt, dass diese Ordnung gestaltbar ist 11. Jedenfalls schließt das reflexive Verhalten, das keine Möglichkeit, sondern Bedingung des Menschlichen ist, eine notwendige Erklärung nicht nur von sich selbst, sondern auch eine Erklärung dafür ein, wie und warum die Menschen in dieser Welt sind.

Diese Erklärung der Welt ist nun – von uns – nicht nur als eine plausible Darstellung gedacht, die den Ansprüchen der jeweiligen Vorfahren entsprechend ihrer Entwicklung genügen möge, wie es ein bruchlos historisches Weltbild nahe legen könnte, sondern geradewegs als Erklärung im Sinne einer Deklaration. Die Menschen erklären diese Welt, indem sie der Welt erklären, wie sie ist. Diese Verzahnung von Menschen und Umwelt macht das Selbstreflexive aus. Gleichzeitig aber wird diese Erklärung an die Welt abgegeben – abgegeben wieder im doppelten Sinne des Wortes. Sie wird abgegeben, also verkündet, sie wird aber auch abgegeben – die Menschen entledigen sich dieser Erklärung und übertragen ihre Autorität, die mit dem Akt der Erklärung gewonnen wurde, auf die Welt selbst als auf das vorgefundene Ältere. Die gemachte, erdachte Erklärung der Welt, die sie zu einer wahrhaft menschlichen Welt macht, zu einer Welt, die nun für die Menschen da ist, von ihnen selbst für sich selbst gemacht, ist ihnen im Moment der Entstehung auch schon wieder entglitten, vom Älteren, immer schon Dagewesenen verschluckt und von diesem Älteren nun wieder an die Menschen zurückgegeben; jetzt aber nicht als menschliche Leistung der Schöpfung – denn die Menschen haben die Welt nicht geschaffen – sondern als Erkenntnis. Diese Erkenntnis aber ist nun unhintergehbar. Sie herrscht den Menschen ihre eigene Schöpfung auf, zwingt sie, sich nach ihren eigenen Deklarationen zu verhalten und erlaubt ihnen nicht, dagegen zu verstoßen.

So kommt die Selbstreflexion zu sich und die Menschen betreten als gesellschaftliche Wesen die Welt, wobei die Welt schon Bestandteil von ihnen ist. An dieser Stelle können wir auch auf den gattungsmäßigen Begriff „Mensch“ verzichten und reden in der Folge von den Leuten, die sich, je nach dem Inhalt ihrer Erklärungen, zueinander verhalten und dies in recht unterschiedlicher Art, je nach dem, wie die Welt ist, in der sie leben. Auch das Wort „Welt“, wie ich es hier verwende, bedarf der Erklärung. Gemeint ist hier das Umfeld, die Umgebung, das Vorgefundene, das Natürliche, etc. Allerdings will ich mit dem Wort Welt die innige Beziehung der Leute zu ihrer geschaffenen und vorgefundenen Umwelt zum Ausdruck bringen; insofern steht hier Welt auch für Ära oder Epoche, jedenfalls für etwas Gesellschaftliches. Zeitalter kann in diesem Zusammenhang sogar noch besser verwendet werden 12. Welt ist also beides; die Welt, die die Leute vorfinden, die ihnen ihren Stempel aufdrückt, die ihnen äußerlich ist, und die Welt, die sie schaffen, die sie erklären, die ihnen innerlich ist.

Und den Begriff „Natur“ muss ich auch einer Erläuterung (oder Läuterung) unterziehen. Ich spare mir diesen Begriff auf und werde bei der Darstellung der verschiedenen Epochen auf ihn zurückkommen. Jetzt sei nur soviel gesagt, dass für mich und im Zusammenhang dieses Aufsatzes Natur etwas genuin Menschliches, von Menschen Erdachtes und Geschaffenes ist, das so auch nur in historischem Gewand auftritt und dieses Gewand der Moderne verdankt. Die belebte Natur der magischen Welt war etwas anderes (und wir kennen den Ausdruck, den die Leute damals verwendeten, nicht) als die tote Natur der Moderne, die sich in Stillleben („nature morte“) und Naturgesetzen äußert. Und die Natur, die Essenz oder Substanz (Augustinus) ist, von der behauptet wird, dass sie von Gott gewollt und geschaffen und dass Geschaffenes nur Gottgewolltes sei, ist wieder etwas anderes. Vollends verwirrend wird dann Erste und Zweite Natur, mit welcher Spaltung die Moderne die Tatsache in den Griff bekommen will, dass die Menschen (hier wirklich aufklärerisch-ontologisch gemeint, also nicht die je konkreten Leute) sich selbst vorfinden und sich selbst als aus der Natur getretene erklären müssen.

So ist die „erste Natur“ das Vorgefundene der Umwelt und ihrer Bedingungen, wozu dann gehört, dass die ontologischen Gattungswesen Mensch an sich ein biologisches Substrat entdecken, „zweite Natur“ aber wäre das gesellschaftlich-reflexive Heraustreten aus dieser ersten, das aber in ihr verankert bleibt. Die Schaffung künstlicher Umwelten, die Reduplikation der Welt durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst, wäre dann eine zweite Natur, die aber – nach Sicht und Erklärung von uns Heutigen – genauso natürlich angelegt ist, das Kreatürliche (inklusive der Kreation dieser begrifflichen Aufspaltung, bei Erben [1988, 323 ff] in biologische und Psycho-Evolution geteilt beschrieben) dementiert und sich ontologisch verortet. Dass dieser Naturbegriff sich der Moderne verdankt, ist evident. Vormoderne würden dies wohl als unverständlich betrachten und von Wildnis dort sprechen, wo wir Nationalparks anlegen. Was aber sind Wildnis und Nationalparks: erste oder zweite Natur? An dieser Stelle wollen wir es der Präludien genug sein lassen.

 

Die Epochen

Magie

Halten wir also fest, dass es die conditio humana sei, die Welt zu erklären, diese Erklärung an die Welt abzutreten und sie von der Welt wieder zu empfangen, als nunmehr unhintergehbare Ordnung, dann müssen wir in den ältesten Überlieferungen und Traditionen 13, die uns bekannt sind, Spuren und Zeugnisse davon finden, wie sich die Leute in ihrer Welt bewegt haben, wie sie und mit welchen Mitteln (und damit meine ich nicht Werkzeuge materieller Art) sie lebten und ihrem Leben Dauer und Stetigkeit gaben. Wir müssen dabei auf die letzten gesellschaftlichen lebenden Fossilien zurückgreifen, wenn dieser in diesem Zusammenhang ziemlich abgeschmackt klingende Ausdruck erlaubt sein sollte. Wir müssen neben den ausgegrabenen und wieder entdeckten Lagerstätten, bemalten Höhlen, Müllkippen und Begräbnisstätten auch die Zeugnisse der Anthropologie und die Überlieferungen der letzten existierenden Kulturen heranziehen. Wir werden dabei auf magische gesellschaftliche Verhältnisse stoßen und uns mit deren Inhalten, mit deren Art und Weise, das Leben zu sichern, und mit deren Praktikabilität vertraut machen.

Wir können mit folgendem Versuch beginnen, um auf die Spuren einer magischen Weltordnung zu stoßen. Die Leute, mit denen wir es am Anfang unserer Geschichte zu tun haben, stehen also vor der Notwendigkeit, die Welt zu erklären – so viel haben wir schon herausgefunden – und ihren Platz in ihr zu bestimmen. Sich selbst bestimmen die Leute durch zweierlei: zum einen dadurch, dass sie sich als von der Welt Distinkte betrachten, zum anderen dadurch, dass sie sich als Bewirkende, als Tuende sehen. Durch ihr Bewirken beleben sie die Welt, stellen sich aber gleichzeitig aus dieser Welt heraus, die sie doch beleben und auf die sie einwirken 14. Die gedankliche Leistung, die die Leute nun vollbringen 15 müssen, ist das Herstellen von Natur und das Bewahren von Einheit. „Natur“ ist hier nur retrospektiv als Begriff eingeführt. (Wir haben keine Ahnung davon, welche Worte die Leute verwendeten und bemühen diesen Begriff nur, um unserem modernen Verständnis zu entsprechen und um ihn später von anderen Naturverständnissen abgrenzen zu können.) Anzunehmen ist aber durchaus auch, dass es sich um eine Vielzahl von Naturen oder Welten handelt, die alle belebt sind, wie die der Leute, und in denen ebensolche Bewirkende zu Gange sind.

Eine magische Gesellschaft ist also dadurch gekennzeichnet, dass sie an jedem Ort der Welt – und dies verweist darauf, dass die Vorstellung eines festen Orts, einer Sesshaftigkeit, einer planmäßigen Veränderung der Welt unbekannt und undenkbar war – diese Einheit herzustellen und zu bewahren hat. Damit ist sowohl der Bestand der Welt als auch das Überleben der Leute in ihr unter Achtung des Überlebens aller anderen Bewirkenden in ihr gewährleistet. Wir können – wieder in moderner Analogie – von einer ökologischen Technologie auf niederem technischem Niveau sprechen. Ungeachtet dessen aber kann dies über Jahrhunderttausende sich hinziehen, da das Interesse, der Antrieb, die Denkleistung nur auf die Bewahrung gerichtet ist. So ist die magische Handlung, die nicht als gesonderte kultische in einem eigenen Platz zu verstehen ist, auf dauernden Ausgleich ausgerichtet. Wir können in unserer Welt noch tradierte Reste davon finden.

Das Brauchtum heutiger Jagdvereine lässt uns noch einen Zipfel dessen erahnen, was früher mit der Jagd als Eingriff in belebte Natur verbunden war. So wird auch heute dem erlegten Wild noch der letzte Bissen verabreicht, als Dank und Ehrung, was den magischen Ausgleich noch erkennen lässt: ein gegenseitiges Verbundensein und Ernähren. Auch andere Überlieferungen deuten diese ewigen Ausgleichshandlungen an. Wenn unsere Märchen mit den Worten beginnen: „Zu Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat …“, dann weist dies in eine Gesellschaftlichkeit, die sich mit andauerndem sprechenden Widerholen der Einheit mit der „Natur“ vergewissern und die „Natur“ bewahren musste, damit weiterhin garantiert war, dass „per se dabat omnia tellus“. Eine ähnliche magische Formel ist im Sprichwort enthalten: „Überlege gut, was Du Dir wünschest, es könnte erfüllt werden!“

Wie tief dieses sprechende Herstellen und Bewahren von Einheit in der mündlichen Überlieferung verankert sein muss, zeigt eine semantische Archäologie. „Wünschen“ bedeutet das aktive Zustandebringen eines Zustands durch die Leute selbst: Wenn euch eins Glück wünscht oder euch verwünscht, ist das etwas anderes, als wenn ihr gesegnet oder verdammt werdet. Hier wird unmittelbar, ohne Dazwischenkunft des Göttlichen – und Magie kennt keine Gottheiten – Verantwortung (auch so ein Wort) ausgeübt. „Wen besprechen“, „ein Unglück herbeireden“, „spell“ oder „enchanter“ weisen in dieselbe Richtung. Diese Worte haben ihren magischen Urgrund bis heute verdeckt bewahrt.

Rezente Hinweise finden wir auch in der berührenden Szene, die uns Arsenjew (vgl. 24) 16 schildert: „Ich wunderte mich, dass Dersu die Wildschweine als ‚Kerle‘ oder ‚alte Leute‘ bezeichnete, und fragte ihn. ‚Sind doch ganz gleich, nur anderes Gewand. Sonst ganz gleich, können betrügen, werden zornig, verstehen alles! Genau wie Leute.‘“ Auch James Hall 17 erzählt in „Sangoma“ von einer solchen Welt. Die Anthropologie, soweit sie nicht interpretiert und sich auf das Sammeln der Berichte und Überlieferungen beschränkt, trägt auch einiges an Material bei. Zwar ist das Problem der Übersetzungen evident – Begriffe aus der magischen Überlieferung in eine moderne Sprache zu übersetzen ist genauso unmöglich, wie einen Familiennamen zu übersetzen – und Götter und Geister tauchen daher gut gemischt in der Literatur auf, aber die website über Australien http://www.oepfu.ch/default.htm, die aus dem Buch von Robert Lawlor „Voices of the First Day“ (1991; deutsch: „Am Anfang war der Traum“) zitiert, hält – bei allem Vorbehalt – die hübsche Unterweisung aus der Traumzeit bereit, dass die Menschen auf die Welt kamen, um darauf zu achten, dass die Tiere keinen Unfrieden untereinander hätten.

Dies sind nur ein paar Beispiele dafür, was mir als wesentlich in magischen Verhältnissen erscheint. Ich gehe dabei nicht auf eine historische Abfolge von steinzeitlichen Kulturen ein noch auf die letzten Reste heutiger Wildbeuterpopulationen. Mir geht es nicht darum, anhand fossiler Funde die allmählichen zivilisatorischen Veränderungen und Feinschliffe zu bestimmen oder die Überlagerungen, die zu Stande kommen, wenn die Moderne auf diese Leute trifft. Hier geschieht in aller Regel nichts anderes als das Abarbeiten gegenseitiger Missverständnisse 18. Mir geht es um die strukturellen Leistungen, die die Leute vollbringen müssen, um ihr Überleben in der Welt zu garantieren, die sie sich zu ihrer, spezifisch menschlichen, erklärt haben. Sie verbringen ihr Leben hauptsächlich mit zwei Tätigkeiten, dem Suchen und Finden und dem Zusammenhalten der Welt. Wir machen uns keine Vorstellungen davon, welche Anstrengungen dafür aufgewendet werden mussten – die Vorstellungen reichen vom urkommunistischen Paradies bis zur Hölle des nackten Raubtiers –, und wenn wir vieles davon guten Gewissens auch verwerfen mögen, bleibt nicht viel übrig, was wir behaupten können; jedenfalls aber, dass das Zusammenhalten der Welt und das Suchen und Finden, das Beleben der Welt und das Wandern, das Treffen mit Nahrungsquellen, Wurzeln, Wasser und anderen Verwandten, gleichfalls Belebten, gleichfalls Bewirkenden, gleichfalls Naturen von einem andauernd angewandten und praktizierten Wissen um die Einheit und Gestalt der Welt getragen sein musste.

In diesem Zusammenhang konnte es keinen Tod geben und keine Auferstehung, höchstens den Übergang von einer Welt in die andere, und der konnte auch schon zu Lebzeiten und des Öfteren vollzogen werden. In dieser Welt gab es keine Schuld und keine Erlösung, und wie Verstöße geahndet wurden, wissen wir nicht; vielleicht durch Nichtbeachtung der Missetäter, die diesen sanften Ausschluss aus Allem nicht lange überlebten, vielleicht durch Heilung, sicher entwickelten sich viele Möglichkeiten des Handelns auf der Grundlage der magischen Erklärung. Und sicher hielt sich diese Welt so lange, weil sie keinerlei Antrieb und Grund hatte, sich zu verändern.

 

Religion

Dieser Aufsatz geht von zwei Prämissen aus. Er soll kein historischer Durchgang sein, in dem sich eine Epoche zur nächsten hin entwickelt, vielmehr soll die distinkte Grenze zwischen zwei Epochen, der Zusammenbruch der einen und das völlig Neue der anderen, das ohne Vorlauf in die Welt tritt, im Vordergrund stehen. Daraus ergibt sich zum zweiten, dass innerhalb der jeweiligen Epoche auch nicht die allmähliche Ausformung, Veränderung und Verfeinerung, die Ablösung von Mustern, Moden und DarstellerInnen, die Entwicklung und Verbreiterung von Stilen, Kulturen und Herrschaften im Mittelpunkt stehen wird, sondern, was diese Epoche vom Beginn bis zum Ende kennzeichnen wird, was ihr Beginn Neues hervorbringt und wie dies ungültig wird und mit ihrem Ende verfällt, um in einer kontingenten Situation neuen Hervorbringungen den Platz zu räumen.

Der erste so getane Bruch, den wir feststellen können, ist die Sesshaftigkeit 19 20. Der Unterschied zwischen den sesshaften Leuten und den vorigen, magisch verfassten, könnte nicht größer sein. Während vordem Leute die Welt belebten, besiedelten sie nun die Welt. Dabei schufen sie diese Welt, in dem Maße, wie sie sie besiedelten. Der feste Ort war nun nicht einer, zu dem sie immer wieder zurückkehrten, sondern einer, an dem sie blieben. Der feste Ort war nun nicht mehr Teil einer Natur, der den Regeln des Ausgleichs und des Banns unterworfen war, kein Ort mehr, der je nach Tätigkeit – selbst an derselben Stelle – ein anderer sein konnte und an allen Orten der Welt derselbe war, wie es für Leute, die die Welt, sie belebend, durchziehen selbstverständlich war. Denn nun wanderten die Orte 21 selbst.

Wenigstens musste es den Leuten so erscheinen. Der Platz der Sesshaftigkeit war damit verbunden, dass an einem Ort eine Neue Welt geschaffen wurde. Die neuen aufgetürmten Häuser waren nun anders als die Hütten vorher, vor allem waren sie umzäunt. Sie waren nicht mehr dazu da, zu Zwecken benutzt zu werden und dann nicht, sie standen nicht, war die Verwendung nicht gegeben, leer für andere. Und die Umzäunung umschloss nicht nur diese Häuser. Sie begriff, zumindest ihrer Absicht nach, auch die umliegenden Gärten, Felder, Rodungen, Gewässer, Brunnen mit ein, wenigstens als gedachte Grenze, sie umfing die Tiere, die darin sich aufhielten, und schuf auch diese für die Leute neu: Sie wurden nicht mehr gejagt zu Verzehr und als Rohstofflieferant, sie wurden gepflegt und gezüchtet und was sie lieferten, war nun dauerhafter und wurde stetiger abgegeben wie Eier, Milch, Wolle und Jungtiere. Die Pflanzen waren dieser selben Umformung ausgesetzt und die Unterscheidung zwischen wild und kultiviert, zwischen Kultur und Wildnis war in die Welt getreten, eingeschlossen nun Leute, die selbst als Wilde bezeichnet wurden.

Nun gab nicht mehr die Erde von sich aus alles, sondern die Leute schufen sich diese Welt, die sie der – nun feindlichen und wilden Erde – abrangen. Diese Feindseligkeit äußerte sich in Überschwemmungen, Dürren, Missernten. Eine Überschwemmung ist für Leute, die nicht künstlich bewässern, genauso wenig wie eine Dürre eine Katastrophe; sie müssen bloß woanders hinziehen, was auch gerade keine gravierende Umstellung der Lebensweise bedeutet. Dies soll nicht heißen, die Wanderung wäre frei von Unfällen, aber auch dies geschieht, gelegentlich und immer. Sie äußerte sich ebenso in Krankheiten, die vorher unbekannt waren, kurz gesagt: in Plagen 22.

Und was nun den Leuten – von sich selbst – abverlangt wurde, unterschied sich ebenso dramatisch von den Anforderungen, die an die Leute vordem gestellt waren. Suchen, Finden und Bannen genügte nun nicht mehr, um die Ernährung sicher zu stellen, da die Ernährung nicht mehr an das Umherziehen gebunden und von ihm ermöglicht war. Die Ernährung musste in der Nähe der Orte gewährleistet sein und so weit der Ort reichte, konnte er seine Leute ernähren. Der Haushalt war in die Welt gekommen und je nach Anzahl der zu versorgenden Mitglieder verlangte er nach der entsprechenden Alimentierung, wozu herangezogen werden konnte, was selbst hergestellt wurde, wie auch, was in seinem Einflussbereich hergestellt wurde. Die Anzahl und die Berechtigung der zu alimentierenden Haushalte und deren Mitglieder musste festgehalten werden. Verwandtschaft23 und Bevorratung sowie beider Planung führen zu schriftlichen Niederlegungen, und wie Suchen, Finden und Bannen mit der mündlichen Überlieferung in die Welt getreten ist, so die Alimentierung mit der schriftlichen und rechnerischen.

Diese Schöpfung, die die Leute vollbracht haben, ist ihnen zur selben Zeit, da sie sie vollzogen, entglitten. Zwar konnten sie sich in ihren Überlieferungen auf – von uns Heutigen als mythische bezeichnet – Ahnherren und Gründerinnen von Städten und Stämmen, Reichen und Verwandtschaften besinnen und beziehen, aber die Sesshaftwerdung selbst, die schlichte Tatsache, dass alle Leute sich nun niedergelassen hatten, um eine Neue Welt hervorzubringen mit neuen Tieren und Pflanzen und Landschaften, mit verwandten und nicht verwandten (also freien und unfreien, berechtigten und nicht berechtigten, alimentierten und alimentierenden) Menschen, und das etwa zur gleichen Zeit, ohne Vorlauf und ohne Urheberschaft und Verantwortlichkeit, also irreversibel und unhintergehbar, dies hieß die Leute, eine allgemein gültige Erklärung für das Zustandekommen und aktive Existieren dieser Neuen Welt zu präsentieren; eine Erklärung, die ihnen diese Welt, versehen mit Bestandsgarantien zurückgab, so dass in Hinkunft keins mehr an deren Festen rütteln konnte.

Und so entstand, wie im Westeuropa des frühen 17. Jahrhunderts das Zeitalter der Moderne angebrochen war, im Fruchtbaren Halbmond Kleinasiens die Epoche der Religion. Religion ist an die Sesshaftigkeit gebunden. Ihr Blick richtet sich nach oben. Was sie beachtet, ist der Himmel. Nicht mehr Suchen und Finden und Wissen, wo dies zu geschehen hat, ist für die Nahrungsbeschaffung wichtig, sondern Aussaat und Ernte und das Wissen, wann. Es gilt nun, das Wetter zu beachten und die Jahreszeiten, Kalender sind zu führen, und selbst die Reife einer Frucht ist nicht mehr für Erntezeit maßgebend, sondern auch ein Reifegrad, der längere Lagerung erlaubt, oder Techniken der Konservierung eines Reifegrades. Speisevorschriften und Verwandtschaftsregelungen finden ihre Kodifizierung in der göttlichen Offenbarung ebenso wie Gesetze, die ein Zusammenleben auf engem Raum ermöglichen und mit spezialisierten Tätigkeiten umgehen lassen.

Aber Religion erschöpft sich nicht in diesen Anweisungen und Belehrungen. Zuallererst klärt sie die Leute über die Schöpfung auf. Wir haben schon weiter oben angedeutet, dass die Schöpfungsberichte von einer Welt erzählen, die für Sesshafte geschaffen wurde. Sie wurde aber auch für Leute geschaffen, die Verwandte sind; verwandt untereinander durch die Abstammung, und die kann durchaus göttlich sein, wenn sie sich mit heroisch nicht begnügt, und oft fällt beides ineins. Darüber hinaus aber sind diese Verwandten auch noch in einer innigen persönlichen Beziehung an die Gottheit gebunden, entweder wieder durch Verwandtschaft oder wenigstens durch Auserwähltheit. So tritt als Morgengabe der Religion die Liebe in die Welt. Entstanden aus dem Treueverhältnis, das aus Abstammung und stabilitas loci sich entwickelt, wird die Liebe zum göttlichen Attribut erhoben, das nun das fürsorgliche Eingreifen der Götter für ihre Menschen ist (das mit der Erschaffung der Welt schon begonnen hat).

Religion ist also die abgeschlossene, hermetische Erklärung der Neuen Welt, der neuen Schöpfung. Allerdings ist sie notwendigerweise unvollständig, weil die Leute ihre Urheberschaft nicht mit erklären. Wir haben schon im Abschnitt über Magie festgehalten, dass die Leute ihre Erklärung der Welt – als zutiefst menschliche Welt – abgeben und abtreten und zurückbekommen. Diese Rückgabe macht dann das notwendig Unvollständige der Erklärung aus, weil der erste Schritt, der der jeweiligen Konstitution als Leute in einer Welt, der Konstitution als Gesellschaft, verdeckt und unbegriffen bleibt. Dieses Zurückgegebene können wir heute dechiffrieren als Fetisch, also als von Menschen geschaffene Ordnung, die nun den Leuten als fremd, als von außen kommend, als Autorität, die nicht menschlich ist, gegenübertritt und, da sie ohne Urheber erscheint, der zur Rechenschaft gezogen werden oder zu Verbesserungen und Änderungen seiner gegebenen Ordnung veranlasst werden könnte, als ewig anerkannt wird. Das Unvollständige hingegen muss an diese Ordnung zurückverwiesen werden, es darf sich nicht verselbstständigen.

Und so erkennen wir in den religiösen Verfasstheiten einen zielgerichteten Umgang mit dem, was in der Schöpfung nicht aufgeht, dem Körperlichen, oder, christlich ausgedrückt, dem genitum non factum. Wenn Religion sich auf die Tatsache der Schöpfung stützt, ihre Kraft daraus bezieht, dass eine Neue Welt geschaffen wurde, so stößt sie dort an ihre Grenzen, wo sich die Welt dem Zugriff des Erschaffens entzieht, wo sie von der Tätigkeit der Leute unbeeinflusst bleibt. Dass etwas geboren wird, dass etwas wächst, dass etwas seine Körperlichkeit hat, das desavouiert die Schöpfung (die der Leute, wohlgemerkt) und wird daher, um die Einheit der Schöpfung wieder herzustellen, an die göttliche Instanz zurückgebunden. Wir finden dieses Körperliche in vielerlei überschüssiger Gestalt und es wird als Opfer der Gottheit dargebracht. Erst dieses Opfer erlaubt es nun den Leuten, ihre anderen Tätigkeiten, die der Alimentation dienen, zu entfalten und gibt ihnen die Berechtigung, nachdem sie durch das Opfer darauf verwiesen wurden, dass alles Körperliche dem Göttlichen geweiht ist, die Früchte ihres Handelns zu genießen.

Der Umgang mit dem Körperlichen – dem Göttlichen geweiht – nimmt dabei eine Vielzahl von Formen an. Auf einer recht „praktischen“ Ebene finden wir die Vertreibung der jungen Männer aus den Haushalten, Höfen und Reichen 24, was zur Entstehung und Ausbildung einer neuen Klasse führt, Krieger, Händler, Reisender, Entdecker. Die Gründung von Pflanzstädten, die wieder nicht nur sich selbst, sondern auch die Mutterstädte alimentieren oder in der Folge sich als weitere Reiche etablieren, zeigt uns, wie sich die Sesshaftigkeit nicht als einmaliges Ereignis erzählen lässt, sondern als andauerndes Prozessieren nach dem ewig gleichen Muster. Noch die Besiedlung und Inbesitznahme Amerikas durch Spanien im 15. und frühen 16. Jahrhundert folgt diesem Muster 25 der göttlichen Berechtigung und auch der dynastischen Berechtigung durch Abstammung: „Der Chronist Gonzalo Fernández de Oviedo wollte beweisen, dass Kolumbus das Land der Hesperiden entdeckt habe. Wie Städte und Länder nach ihren Herrschern benannt werden, heißen, so folgert Oviedo, diese Gegenden im äußersten Westen nach Hespero, dem 12. König des alten Hispanien, der in westlicher Fahrt nach 40 Tagen die ‚Indias Hespérides‘ erreichte. Vor 3.193 Jahren, so behauptet Oviedo im Jahre 1535, sei dies geschehen. Nun habe Gott diese Herrschaft mit so altem Recht und nach so vielen Jahrhunderten an Spanien zurückgegeben. Der Indienrat ließ wissen, er würde sehr erfreut sein, wenn Oviedo ihm die Beweise erbringe, dass Westindien ein uralter spanischer Besitz sei.“ 26 Die religiösen Autoritäten trugen das Ihre bei ganz im Sinne der Jahrtausende wirkenden Erklärung einer besiedelbaren und besiedelten Welt durch die Autorität des Göttlichen: „Zunächst hatten sich die Portugiesen ihre Rechte auf die westafrikanischen Entdeckungen durch päpstliche Bullen bestätigen lassen. So erlangten sie, um die Fahrten andalusischer Seeleute nach Guinea rechtsverbindlich auszuschließen, durch die Bulle Nikolaus’ V. von 1455 die Ermächtigung, die Länder der Ungläubigen von Kap Bojador und Num ab bis ganz Guinea zu erobern, die Bewohner zu versklaven und ihres Besitzes zu berauben.“ 27

Dies Muster unterscheidet sich in nichts von dem, was uns die antiken Berichte aus Griechenland, Ägypten, Hattusa, Troja erzählen. Selbstverständlich bleibt Sklaverei – eine weitere Form der körperlichen Abspaltung, der verfällt, wer nicht verwandt ist, wessen Gott im Krieg die Niederlage nicht abwenden konnte oder als nichtgöttlich, als Idol entlarvt wurde, wer also ungläubig war – durch die religiöse Ökonomie (nennen wir es einmal so) bis zur Ablöse durch die Moderne hin erhalten. So sind die Freien (und ich vermute, dass der Begriff des Freien in der religiösen Gesellschaftlichkeit als des freien, bewaffneten Mannes mit den oben erwähnten Austreibungen der jungen Männer zusammenhängt, die von ihren Haushalten freigesetzt werden, auch um neue zu gründen), die ihre Körper in der einen oder anderen Art Gott weihen (durch Ausbreitung der religiösen, sesshaften Weltordnung, durch Opferung ihrer Körper in Krieg oder Ritus, sei es in Weihespielen, sei es in Jungfräulichkeit, Menschenopfer oder Zölibat etc.), und die Unfreien, die die Welt und die Leute ernähren und alimentieren müssen (sei es als Sklaven, sei es als Leibeigene, in jedem Fall körperlich und leibhaftig gebunden an die Haushalte und deren Vorständen als Eigentum unterworfen), beide Produkte der Beachtung, die dem Körperlichen gewidmet werden muss, um es in der Schöpfung unterzubringen; wie die Unfreien ihren Freien zugehörig sind, so sind es die Freien ihren Gottheiten.

Es sind diese vielfältigen und gegenseitigen Bindungen, die diese Gesellschaftlichkeit auszeichnen und die alle in einer Person zusammenlaufen. Diese Person, als pater familias, als Vorstand des Haushalts, als Fürst des Stamms, als princeps oder König des Reichs, muss dieses Zusammenlaufen all dieser Bindungen an sich selbst zum Ausdruck bringen. Er muss in seinem Reich präsent sein (wie groß oder klein es sein mag, welche Bindungen es an andre eingegangen sein mag), sei es durch Bevollmächtigte, sei es dadurch, dass er es selbst mit seinem Gefolge durchzieht; dabei ist es unwesentlich, ob er auf diesem Zug Recht spricht, sich in einer Hauptstadt ernähren und huldigen lässt, oder sich und seinem Reich neue Völker unterwirft, die sein Reich nun wieder alimentieren, wie sie sich selbst von ihren Unterworfenen alimentieren lassen.

So müssen wir uns „religiöse Ökonomien“ denken – als Haushaltsführungen, so müssen wir Griechenland, Alexander, Rom, das Europa des Mittelalters verstehen, als konkretes Ansammeln der konkreten Reichtümer zum Verzehr. Das, was wir dabei unter politischer Verfassung verstehen, kann hierin keine große Rolle spielen. Zwar beschreiben die Autoren uns verschiedene Verfassungen und Gesetzgebungen, aber Demokratie oder Autokratie, Tyrannis oder Senats- und Ständeverfassungen, Königtum und Stammesversammlung, das alles wird gerne gewälzt, argumentiert, nach Vor- und Nachteilen abgewogen oder bloß als Wiederholung von Durchläufen gesehen, worum es aber wirklich geht, was sozusagen das Eingemachte ist, ist das Zusammenfallen von – verzeiht die modernen Ausdrücke – weltlicher und göttlicher Herrschaft 28. Es würde hier den Rahmen sprengen, das, was wir unter Verfassungen und Herrschaftsformen verstehen, durchzunehmen. Es mag an dieser Stelle genügen, zu wiederholen, dass ein Zeuge aus dem europäischen Mittelalter unter Garantie nicht verstehen würde, was wir mit dem Unterschied von Antike und Feudalismus meinen. Er lebte immerhin im Reich, das von Cäsar und Augustus über die Römischen Kaiser bis zu ihm andauerte, und die Liste der Päpste sei nicht wesentlich kürzer, diese Art zu leben sei gottgegeben, und die Ordnung unumstößlich.

Ebenso würde es den Rahmen sprengen, hier einen vergleichenden Durchgang durch die verschiedenen Religionen vorzunehmen. Wir können darauf vertrauen, dass sie einander im Inhalt gleich sind. Darauf etwa deutet die Etymologie genauso hin wie beispielsweise eine interpretatio romana der keltischen und germanischen GöttInnen oder gegenseitige Übernahmen 29, die mit geschmeidiger Leichtigkeit gelingen, also an Gemeinsames rühren müssen. Dieses Gemeinsame ist die göttliche Abstammung oder Erwähltheit, die zur göttlichen Schöpfung auch das sie besiedelnde Volk bereit stellt. Die Abstammung erlaubt auch die Rückkehr zur Göttlichkeit, so werden die Heroen als Sternbilder in den Himmel geholt genauso wie später die Heiligen, sie erlaubt aber auch das Wirken des Göttlichen schon zu Lebzeiten an den Königen und Kaisern, welche die Sorge für den Bestand der Welt übertragen bekommen haben, seien diese nun vor oder nach Christi Geburt gekrönt, und so mit göttlicher Kraft und göttlicher Eigenschaft die Welt erhalten und mehren, und dies über einige Jahrtausende hinweg.

 

Moderne

Wieder müssen wir einen Epochenbruch beschreiben, der damit einhergeht, dass die Erklärung, die die Leute für die Welt abgeben, nicht mehr verfängt. Zwischen Magie und Religion konnten wir dieses Ungültigwerden der alten Erklärung mit der Sesshaftigkeit der neuen Epoche begründen. Was aber hat die Leute angehalten, nun der alten, religiösen Erklärung nicht mehr trauen zu können? Welche neue Welt hat sich breit gemacht? Wir müssen daran erinnern, dass wir Sesshaftigkeit als ein Wandern der Orte zu verstehen haben, als eine Ausbreitung dieser Lebensart. Mit jeder weiteren Ausbreitung entstehen wiederum Reiche, die nach Alimentierung auf Kosten derer verlangen, die sie sich unterworfen haben. Aber die Unterworfenen breiten die Sesshaftigkeit selbst weiter aus, um ihrerseits alimentiert zu werden, und dies in einem ganz konkreten, gegenständlichen Sinn. So muss notgedrungen eine materiale Schranke erreicht werden, die dieser Lebensart gesetzt ist. Die Entdeckung der beiden Amerika war so gesehen nicht die Entdeckung einer neuen Welt, sondern der Endpunkt der alten.

Um diese materiale Schranke genauer zu erkennen, müssen wir noch einmal einen letzten Blick auf die religiöse Haushalts„ökonomie“ werfen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in den Reichen die Zentren von den Unterworfenen erhalten wurden. Rom lebte auf Kosten Ägyptens, Alexander auf Kosten Persiens, Spanien auf Kosten Amerikas; auch wenn diese formell in das Reich eingegliedert waren, hatten sie, als Anerkennung des Reichs, ihre Tribute und Abgaben abzuliefern. In diesem Sinne können wir auch nicht von Besteuerung sprechen und auch nicht von einem zentralstaatlichen Budget 30. So konnte es auch keine Staatsschulden geben, höchstens, dass dem Nachfolger leere Kassen hinterlassen wurden und mit neuen Abgaben gefüllt werden mussten. Diese iterierte Anhäufung materialen Reichtums war aber nur durchführbar, solange es die Möglichkeit gab, diese Reichsgrenzen einer Haushalts„ökonomie“ immer weiter auszudehnen. War in diesem umgekehrten Pyramidenspiel erst einmal ein Sieger gefunden, waren einige Reiche übrig geblieben und zwischen ihnen nichts mehr, was unterworfen werden konnte – also die christlichen, die islamischen und die asiatischen Reiche –, so musste die bisherige Entwicklung abbrechen.

Während die magischen Leute buchstäblich im Reichtum 31 lebten, der die Welt selbst war, während die religiösen Menschen den Reichtum zur Ehre ihrer Götter und zur Alimentierung ihrer Freien in ihren Haushaltszentren als materiale Schätze anhäuften, veränderte sich der Reichtum, der material nicht mehr gesteigert werden konnte, zu einer reinen Möglichkeit. Dazu musste er seines materialen Charakters entsagen und die Form annehmen, mit der er als Möglichkeit in die Welt treten konnte, die Form des Geldes. Geld drückte nun nicht mehr einen Materialwert aus, der als wertvolles Metall gewogen und wohl verwahrt wurde, Geld verzichtete auf dieses materiale Dasein und drückte sich nur noch als Anweisung aus, an diesem oder jenem Ort der Welt als reich zu gelten. Geld also war – und ist – eine Anweisung auf einen Teil des Werts, indem die Reichtümer sich nun ausdrücken. Diese sind nun nicht mehr an die Haushalte gebunden, sondern an die Person, die über diese Anweisung verfügt. So kann der Reichtum an jedem beliebigen Ort der Welt jede von der jeweiligen Person gewünschte Gestalt, aber nur für sie, annehmen, für sich bleibt der Reichtum die Möglichkeit der Welt, etwas wert zu sein, und realisiert sich als Wert schlechthin, der als neue Eigenschaft der Welt nun zu neuen Inhalten verhilft.

Rekapitulieren wir: Eine Welt, deren Haushalte sich erschöpft haben, weil es nichts Äußeres mehr gibt, auf dessen Kosten sie die Alimentationen an sich ziehen können, vollzieht eine gedankliche Wende, indem sie den Reichtum nun in ihrem Inneren voraussetzt und verortet – diese Welt ist schon etwas wert. Damit aber ist eine Erklärung von einer Welt, die Gott geschaffen hat, damit die Leute in ihr leben können, ins Wanken geraten. Die Ordnung, die Gott der Welt gegeben hat, fruchtbar zu sein, sich zu vermehren, sich die Erde untertan zu machen, hat sich erledigt. Die Erde ist untertan, die Leute sind fruchtbar und haben sich vermehrt, und „goldene Knödel kann man nicht essen“, wie uns der Volksmund belehrt. Die neue Ordnung, die nun gilt, ist die, dass ein jedes menschliche Wesen die Möglichkeit hat, seinen gewünschten Anteil (und Gerechtigkeit oder gute Sitten oder gebildeter Geschmack spielen nun keine Rolle mehr) am Reichtum, der schlicht als Wert verstanden wird, an sich zu ziehen und zu bekommen, ohne Rücksicht auf Schicklichkeit und ohne Verpflichtung gegenüber anderen, soweit sie nicht freiwillig eingegangen ist. Dies ermöglicht den Leuten, den Reichtum zu steigern, ohne die Größe (oder Kleinheit) der Welt, ohne deren materiale Beschränkung beachten zu müssen. Die Fürsorglichkeit Gottes, die sich in Schöpfung und Verwandtschaft einst gezeigt hat, ist nun überflüssig. Die Tätigkeiten der Leute beruhen nun auf einer anderen Erklärung.

Diese Tätigkeit ist nun nicht mehr Suchen, Finden und Bannen, nicht mehr Aussaat, Eroberung und Opfer, also nicht mehr gebunden an wiederholbare Endlichkeiten, an Zyklen, diese Tätigkeit ist vielmehr ein endloses Steigern von Reichtümern, die zum ersten Mal als unendlich begriffen werden. Dies aber ist eine Unendlichkeit, die nicht mehr göttliches Attribut ist, nicht mehr den menschlichen Unverstand angesichts der göttlichen Größe zum Ausdruck bringen soll, sondern diese Unendlichkeit ist menschliches Attribut, das die neue Erklärung der Welt ausdrückt. Die Moderne unterscheidet sich von der Religion nicht dadurch, dass sie Gott aus dem Himmel vertrieben hat, nicht dadurch, dass sie Gott von der Erde verbannt hat, sondern dadurch, dass sie selbst die Erde verlassen hat. Die Welt, die sie nun erklärt, umfasst den ganzen Kosmos und beschränkt sich dabei auf sich selbst. Der Blick der Moderne ist wieder auf die Natur gerichtet, aber er findet keine belebte Natur mehr vor, sondern eine tote, eine Natur aus Ablagerungen vergangener Zeiten.

Diese Anhäufung, die die Leute der Moderne schon in ihrer Erklärung der Welt vorfinden, wird für sie nun zum Movens ihres Lebens. Die Anhäufung finden sie in der Natur vor – sie erklären die Natur, die Welt zur Anhäufung ihrer selbst 32. Die Anhäufung erklären sie als unbegrenzt und als unbegrenzbar und selbst ein Ausgangspunkt, ein Nullpunkt, ein Urknall enthält schon die Unendlichkeit von angehäuftem Material, nota bene einem Material, das nicht stofflich-materiell gedacht wird. Das Stoffliche, Konkrete, Materielle wird bloß zur Möglichkeit, die es zu realisieren gilt, je nach Wunsch und Einzelfall, das Stoffliche erscheint erst durch die Aneignung im Bedarfsfall, durch seine Hervorbringung im einzelnen Gebrauch. Ansonsten ist es in einer amorphen angehäuften Masse aufgehoben, die von sich behauptet, Grundlage einer Erklärung der Welt zu sein, deren Materie zu sein, deren Grundstoff. Die Erklärung der Welt durch die Moderne fußt also auf einer Zweiteilung in Materie, die als Grundlage, als Essenz, als Substanz der Welt gefasst wird, unendlich, angehäuft durch unendliche Zeiten hindurch, ohne weitere Beschreibung als diese, dass sie so sei; daneben erscheint Materie als stofflich, als Gegenstand einer Untersuchung, einer Aneignung, einer Konkretisierung, die aber die Merkmale des Ewigen, durch die Zeiten Hindurchgehenden nicht aufgibt.

Es erscheint hier angebracht, ein oder zwei Beispiele anzuführen. Die Erklärung der Welt als Schöpfung Gottes (beruhend auf dem Sesshaftwerden der Leute, der Erschaffung neuer Landschaft, Faunen und Floren durch die sesshaften Leute) verfängt nicht mehr, sie hat sich erschöpft im wahrsten Sinn des Wortes, die sesshafte Welt ist zum Stillstand gekommen. Nun erklärt die Moderne die Welt nicht mehr als Schöpfung, sondern als prozessierenden Zustand einer materialen Welt, einer toten Natur. Die mag wohl ihren Ausgangspunkt – als diskret, distinkt, verortbar, berechenbar – etwa in einem Urknall haben, auf den sich die Folge von Ereignissen anhäuft, die zu dem Punkt führen, an dem wir uns befinden 33, aber der gebieterische Gedanke der Anhäufung verlangt danach, dass dieser Ausgangspunkt in dem Augenblick hinterfragt wird, in dem er formuliert oder dargestellt wird. Wenn im Moment des Urknalls alles, was wir heute konkret wahrnehmen, beschreiben, aneignen, schon als Möglichkeit seiner aktuellen Realisierung vorhanden war und ist, dann muss dies auch in „umgekehrter“ Richtung denkbar sein. Was uns an einem Zahlenstrahl vollkommen „natürlich“ erscheint, dass es von Null34 weg zwei Richtungen gibt, dass etwas -1 oder auch -∞ sein kann, das muss, da es „natürlich“ ist, auch sonst gelten. So ist dann auch in Kosmogonie und Kosmologie so ein Nullpunkt in Form der Singularität angenommen, woraus sich Urknall und Schwarzes Loch erklären lassen.

Auch der Reichtum, der als nichtstoffliche Materie zu denken ist und in dieser Denkleistung die uns Modernen natürliche Gestalt des Werts annimmt, verhält sich nach dieser Erklärung der Anhäufung in welche Richtung auch immer. Mit dem Geld, das nun zum Kapital wird, passt sich auch der Reichtum dieser Annahme, dieser Sicht auf die Natur, dieser Erklärung der Welt an: das Kapital kann nun zu jeder Unternehmung eingesetzt werden an jedem Punkt dieser Möglichkeiten, auch an den negativen. Wir sehen dies, wenn wir das grundsätzlich Neue am Kredit in der Moderne betrachten. Kapital, das ich mir ausgeborgt habe, bildet nun meinen Reichtum ab als Teil des zu realisierenden schemenhaften absoluten Werts; von meinen Fähigkeiten hängt es nun ab, welches Vorzeichen dieser Summe Kapitals zukommt. In jedem Fall aber haben sich die inhaltlichen Bestimmungen dieser Geldsumme verändert, als sie zu Kapital wurde. Es ist nun eine für meine Unternehmung vorgeschossene Summe und gleichzeitig für den Gläubiger dieselbe vorgeschossene Summe für dessen Unternehmung. So kann sich dann ein Reichtum auch bei einer negativen Bilanz zeigen, indem ihr die Unternehmungen gegenüber gestellt werden, in denen dieser Kredit 35 veranlagt ist.

Diese Welt besteht also aus einem Raster, zu dem die Leute sie erklärt haben und in dem sie sich verorten. Die Welt – vorgegeben, älter, mit Autorität ausgestattet – gibt den Leuten nun diesen Raster als Naturgesetz zurück und erlaubt ihnen nun, darin ihren Platz zu wählen, richtiger, befiehlt ihnen, diese Wahl zu treffen. Dieser Raster lässt sich je nach Belieben vergrößern und verkleinern und verschieben und für jeden Ausschnitt lassen sich neue Raster bilden. Das Muster bleibt aber gleich. Robert Kurz beschreibt diese Sicht der Moderne, wenn er über die Arbeitsprodukte Marx zitiert: „Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiednen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allesamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit. Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstische Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d. h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, dass in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.“ 36

In diesem Fall ist der Raster Arbeit, worin, willkürlich je nach Unternehmung, die je konkreten Tätigkeiten verortet sind, die nur auf den Raster Arbeit, auf den Raster abstrakte Arbeit bezogen ans Licht der Welt treten können. Innerhalb des Rasters ist jede Füllung, jede Anhäufung möglich, aber nur auf die Koordinaten des Rasters bezogen und insofern tot. Ihre Lebendigkeit erhalten die Rasterpunkte nur in ihrem punktförmigen Platz im Raster, und was Marx für die Arbeitsprodukte sagt, dass von ihnen nichts bleibt als die Anhäufung vergangener Arbeit, toter Arbeit (und dabei hat das Arbeitsprodukt, das eben noch ein Punkt im Raster abstrakte Arbeit war, seinen eigenen Raster aufgemacht, indem es die verschiedenen Punkte früherer vergangener Arbeit auf sich und einander bezieht), das gilt ebenso für die Geschichte. Auch hier werden nur vergangene, tote Existenzen aufgehäuft, als Ereignisse aufeinander bezogen in Koordinaten von Raum und Zeit und vergegenständlicht nur im Punkt unserer Existenz – dieselbe gespenstische Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Existenz, d. h. der Verausgabung menschlichen Lebens ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, dass in ihrer Produktion menschliche Existenz verausgabt, menschliche Existenz aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Epochen – Gesellschaftsepochen 37.

So finden wir in unserer Gesellschaft, in der Moderne, alles verdoppelt vor: Wir finden es als Raster und wir finden es darin als Bezugspunkt, wir finden es allgemein als gesellschaftliche Definition, die über die Natur einer Sache ausgesprochen wird und wir finden es als bezogene Konkretisierung einer willkürlichen, subjektiven Unternehmung. Hinter dem Schleier dieser Verdopplung wird dann sichtbar, wie wir uns über die Abstraktheit und Entleerung unserer erklärten Welt hinweglügen mit dem Verweis auf die je eigene gewählte konkrete Ausformung in einem Universum unbegrenzter Möglichkeiten, wobei nun unsere Gesellschaft den Nullpunkt dieses Koordinatensystems darstellt. Diese Gesellschaft, dieser Nullpunkt, ist nach demselben Muster gestaltet: sie bildet den Raster, in dem sich wiederum die einzelnen Bezugspunkte verorten, gedacht und behauptet als Subjekte, die ihrerseits ihre Raster ausbilden, vergrößern, verkleinern, verschieben, unterteilen, nun nicht als Freie und Unfreie, sondern als Willkürliche. Und auch dies ist für die Ewigkeit gedacht.

 

Synopsis

Die Gesellschaftskritik, die in „Krisis“ vorgestellt wurde und nun weiter in „Exit!“ entfaltet wird, basiert wesentlich auf der Kritik von Fetisch und Abspaltung in unserer Gesellschaft. In aller – unzulänglichen – Kürze wiederhole ich noch einmal diese Ausgangspunkte: Als Fetisch ist etwas von den Leuten Geschaffenes zu verstehen, über dessen menschliche Urheberschaft die Leute sich nicht bewusst sind, das daher mit seiner eigenen Autorität auf die Leute zurückwirkt und sie zu einem allgemein gültigen Handeln veranlasst, und zwar so, als würde diese Veranlassung von außen, eben diesem Fetisch, kommen und ohne menschliche Urheberschaft sein. Der Fetisch fußt auf einer Erklärung für die Beschaffenheit dieser Welt, die ebenso wenig als eine Erklärung der Leute selbst bewahrt wird, sondern als etwas, was die Welt selbst über sich preisgibt. Diese Erklärung ist daher notwendigerweise unvollständig nach zwei Richtungen hin. Zum einen mangelt es ihr an Vollständigkeit, weil sie ihren menschlichen Ursprung, wie sich die Leute die Welt zurecht gelegt haben, verschleiert und negiert, also einen Teil der Erklärung ausblendet, zum anderen kann sie, gerade weil sie menschliche Erklärung ist, die Gesamtheit der Welt nicht erfassen, weil ungewusst der Teil der Welt bleibt, der nicht menschlich ist 38. Der Fetisch wiederum organisiert und verhandelt die Welt nur nach seinem Ebenbild; was an der Welt über ihn hinausreicht, erscheint als Abspaltung, die aber keinen Ausschluss aus dieser Welt bedeutet, sondern die Einheit der fetischverfassten Welt erst ermöglicht und immer wieder herstellt, sich selbst dabei verleugnend. Weil der Fetisch ja von sich behauptet oder so wirkt, die Unvollständigkeit der Welterklärung negierend oder deren Vollständigkeit für spätere Zeiten versprechend, dass er das gesamte Handeln der Leute anleitet und ausrichtet, kann die Abspaltung ihn nur bestätigen, aber nicht widerlegen. Diese Begrifflichkeiten stehen in engem Zusammenhang mit der Kritik dieser Gesellschaft und wurden in ihrem Diskurs entwickelt. Hier soll der sehr schematische Versuch unternommen, an die drei Epochen von Magie, Religion und Moderne dieses Instrumentarium anzulegen, um herauszufinden, ob diese Epochengliederung plausibel ist

 

Erklärung der Welt

Die Erklärung der Welt als Grundlage, auf der der Fetisch basiert und wirkt, ist keine von physischen Gegebenheiten, sondern metaphysischer Art. Egal nun, ob die Erklärung, die die Moderne für die Welt abgibt, sich einer idealistischen oder materialistischen Spielart von Philosophie angehörig bezeichnet, sie geht immer von einer Welt aus, die materiell aus sich selbst besteht. Hier haben wir es aber mit mehr als einer Tautologie zu tun, vielmehr verweist diese Reduktion auf Materielles auf den metaphysischen Gehalt, denn was hier nun als Materie begriffen wird, umfasst so Undefinierbares wie Raum, Zeit, Kraft oder auch Information. All dies soll Ausdruck einer „Selbstorganisation der Materie“ bis hin zum Leben sein, eine Schöpfung aus sich selbst, die noch dazu planmäßig vor sich geht. Dieses Planmäßige, besser Gesetzmäßige, das in der vorgefundenen Welt als Schlüssel für die Gültigkeit der Erklärung vorausgesetzt wird, gilt es, überall zu entdecken und sich nach ihm zu verhalten, um in der Welt zurecht zu kommen, und es ist auch überall zu entdecken. Dieses Gesetzmäßige ist in sich selbst begründet, weil wir es für die Erklärung unseres Treibens und unserer Welt benötigen und kommt ohne göttliches Wirken aus.

Die Erklärung, die die Religion gibt, erscheint demgegenüber das genaue Gegenteil zu sein. Die Welt ist göttlichen Ursprungs, von Gotteshand gemacht. Was aber die Götter bewegt hat, diese Welt zu schaffen – mit den Menschen in ihnen –, ist ihre Zuneigung zu den Menschen. Sie sind ihnen zugetan und haben die Welt für sie eingerichtet. Dies erklärt auch das eine oder andere gelegentliche Wunder: Keine Verbesserung des Schöpfungsaktes ist es, sondern Zeichen der Verbundenheit zwischen Menschen und Gottheiten. Die Welt ist von Gott für die Menschen eingerichtet nach einer Ordnung, die göttlich ist, aber von den Leuten angenommen, ihnen mit der Welt übereignet. Diese Ordnung ist aber aus der Welt selbst nicht erklärbar, höchstens insoweit, als die Gottheit sie in die Welt hineingelegt hat.

Demgegenüber erklärt die Magie die Welt nicht als Schöpfung, die von außen veranlasst wurde zum Wohl der Leute, die in ihr leben. Für sie ist die Welt in ihrer Gesamtheit belebt, zerfällt also in viele belebte Welten, jedes Leben hat seine eigene Welt, jede Welt bringt ihr Leben hervor. Selbst dort, wo magische Überlieferungen von Schöpfungen oder Hervorbringungen berichten, handelt es sich wieder um distinkte Welten mit distinkten Wesen darin, die sich von anderen unterscheiden, und alle zusammen bilden so eine lebendige Gesamtheit.

 

Fetisch

Der Fetisch, der in der Moderne wirkt, ist der Wert. Entsprechend der Erklärung der Welt als gesellschaftlicher Übereinkunft schält er sich aus dem Gesetzmäßigen, metaphysischen Materiellen heraus, um die Leute zu seiner Vermehrung anzuhalten und aus dieser Vermehrung zu ernähren. Dieses Heilsversprechen gibt er ab, dass seine Vermehrung, wenn gleich er in Gestalt eines abstrakten, absoluten Werts die Bühne betritt, die Möglichkeit für jedes einzelne der Leute beinhaltet, an seinem Reichtum teilzuhaben, sofern sie sich seiner Vermehrung planvoll und gesetzmäßig widmen.

Die Religion hingegen hält kein Heilsversprechen bereit. Die Welt ist ja schon erlöst, etwa durch den Tod Christi am Kreuz, etwa dadurch, dass Gott sein Volk auserwählt oder ihm seine Wohnung gegeben und ihm seine Stadt gegründet hat. Nun kommt es nur noch darauf an, durch die rechte Frömmigkeit diese Beziehung zur Gottheit aufrecht zu erhalten. Die Beachtung des fatum oder des Heils (vgl. Haarmann 2004, 189 ff) ist nun der Imperativ, der die Leute in ihren Handlungen anleitet. Das Heil, das in die Welt gekommen ist und nun verlangt, dass sich die Leute gottgefällig verhalten, um sich dieses Heils würdig zu erweisen, das fatum, das wechselseitige pietas von Menschen und Gottheiten einfordert, ihre Beziehung also wieder unter richtiges, heilsames, gutes Handeln stellt (pius bedeutet neben fromm auch süß, mild, liebevoll, aber auch pflichtmäßig handelnd, fromm wiederum hat in seiner ursprünglichen Bedeutung auch den Nutzen und das Gelingen nachg Fug und Recht zum Inhalt), das macht den Fetisch der Religion aus. Auch er verlangt Handeln nach seiner Vorschrift, bezieht aber seine gebieterische Kraft aus dem Göttlichen, was die antiken Religionen betrifft, gilt er sogar für die Gottheiten selbst. Ein letzter Hauch davon ist im Christentum zu finden, in dem Gott sich selbst zum Opfer bringt, es würde aber hier zu weit führen, die Geschichte der Wandlung vom fatum zum Heil auszubreiten.

Was die Magie betrifft, können wir die Natur selbst als Fetisch betrachten. Wie die Moderne kommt die Magie ohne Gottheiten aus, wie in der Moderne ersteht die Macht des Fetischs aus der Natur selbst. Nur dass sie sich nicht gesetzmäßig äußert und dass sie belebt ist und aus diesem Leben heraus für jede Überraschung gut, macht den Unterschied aus, der von den Leuten nun verlangt, die Welt selbst pfleglich zu behandeln und sich dabei als ausgleichenden Bestandteil in ihr zu verstehen. Wenn wir dabei von Natur oder belebter Natur sprechen, müssen wir uns immer vor Augen halten, dass dabei eine Vielzahl von belebten Naturen gemeint ist mit einer Vielzahl von Übergängen zwischen den Naturen – und das kann auch schon eine Begegnung mit Artgenossen sein –, die aber ihre Forderungen haben, die dann jeweils in der eigenen Welt, im eigenen Handeln zu beachten und zu erfüllen sind.

 

Abspaltung

Dass in der erfüllten Forderung des Werts, ihn zu vermehren, nur sein Anspruch aufgeht, die Welt zu ordnen und die Leute anzuleiten, noch nicht aber, den konkreten Anteil am möglichen Reichtum auch konkret verfügbar, fassbar, verbrauchbar zu machen, zeigt sich in der Unzahl von Betätigungen, die nicht der Vermehrung des Werts, sondern der Ermöglichung eines konkreten Lebens dienen. Diese Tätigkeiten, die der abstrakten Reduktion zunächst noch entraten, wie Pflege, Liebe, Muße, Genuss, Ruhe, werden an das Weibliche gebunden. So kommt das Weibliche als scheinbar eigene Sphäre zur Welt, lässt dabei aber jede Autonomie vermissen, ist nur die Seite, auf der sich der Wert konkret realisiert als Anteil an einem Reichtum, den die willkürlichen Subjekte, männliche abstrakte gesellschaftliche Subjekte, arrogiert haben. Die Zuschreibung dieser Tätigkeiten, die von der Wertverwertung, der Vermehrung des Werts, seiner Selbstbewegung nicht erfasst werden, an das Weibliche basiert dabei auf einem aus früheren Epochen übernommenen gesellschaftlichen Geschlechterdimorphismus. Es kann aber nicht von einer Kontinuität des Patriarchats gesprochen werden, da die Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen vor der Moderne auf Verwandtschaftssystemen und Freiheiten basierten.

Es stellt sich uns nun die Frage, ob wir die enge Verklammerung des Fetischs mit der Abspaltung dessen, was in ihm nicht aufgeht, wie wir sie für die Moderne an Wert und Weiblichem als konstitutiv erkannt und beschrieben haben, überhaupt in die vorherigen Epochen zurück schreiben können. Was die Magie betrifft, so erscheint es noch recht einfach und logisch. Ist die Natur selbst der Fetisch, also die menschliche Schöpfung, die als solche nicht erkannt nun Autorität und Macht über die Leute gewinnt und ausübt, ist die Abspaltung definiert dadurch, dass sie umfasst, was im Fetisch nicht aufgeht, nun, so können wir sagen, dass die Menschen, die sich gesellschaftlich als Leute konstituieren, nicht in der Natur aufgehen, die Leute also selbst die erste Abspaltung darstellen. Das hätte den Vorteil, dass es auch mit dem historischen common sense und der Evolutionstheorie übereinstimmt, worin von einem Heraustreten der Menschen aus der Natur gesprochen wird, bloß dass in diesem common sense der Natur der gesellschaftliche Charakter als Konstrukt der Leute nicht zugeschrieben wird, vielmehr Natur in gut modernem Sinn als Raster, als Koordinatensystem für Entwicklung gesehen wird. Wenigstens aber haben wir diese aufgeklärte, moderne Betrachtung vermeiden können.

Etwas komplizierter wird die Sache dann bei der Religion. Ich habe weiter oben schon darauf hingewiesen, dass im Geschaffenen, in der Schöpfung (der Leute) das rein Körperliche nicht aufgeht – das Gezeugte verweist auf einen „Natur“zusammenhang, der sich der Künstlichkeit, dem „Kreatürlichen“ entzieht. Können wir hier nun von einer Abspaltung reden? Als Fetisch, als Ordnendes haben wir ja das Heil oder das fatum dingfest gemacht und bezeichnet. Nun entsteht dieser Fetisch aber aus einer Ordnung, die göttlich ist, göttlicher Heilsplan, oder aus einer Ordnung, der sogar die Gottheiten unterworfen sind und sie in derselben pietas (mit der Sünde der Hybris) an die Menschen bindet, ihre Verwandtschaft mit ihnen betont. Es ist die Urheberschaft des Göttlichen für die Welt, die diese Schwierigkeiten bereitet – zwischen Fetisch, Leuten und „Abspaltung“ ein Beziehungsgeflecht entfaltet, das Gott in Heil und fatum mit einschließt, aber als Urgrund alles Geschaffenen auch wieder ausschließt dadurch, dass dieser Urgrund personal und schöpferisch gedacht ist. Dieses Personale aber schließt die Fragen nach dem Willen im Schöpfungsakt mit ein, stellt die Frage nach einer Freiheit und nach einem Bösen, die die Schöpfung anzugreifen im Stande sind. Das Körperliche zeigt sich also als das Schlachtfeld, auf dem diese Fragen nach dem Guten und Bösen, nach der Hinwendung zu Gutem und Bösem entschieden werden, insofern lässt es sich als Abspaltung, als „Heilsabspaltung“ lesen und bringt auch das „genitum“, das nicht der menschlichen Schöpfung unterworfene Körperliche in den Bereich des Göttlichen, das in diese Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse involviert ist, neben dem „factum“, das schon in dieser Position auftaucht. So wie der Fetisch an das Wirken Gottes gebunden ist, Teil seiner Schöpfung, seines Heilsplans, seiner Liebe, ist es also auch diese Art der Abspaltung. Dass dabei die göttlichen Attribute der Allmacht und der Liebe in Widerspruch zum Vorgefundenen, zur Erklärung dieses Vorgefundenen (der Welt) stehen, kann nun als Beweis genommen werden für die Unfassbarkeit Gottes selbst wie auch – von unserer Warte aus – für die brüchige Totalität der Einheit, für das Selbstdementi der Abspaltung.

 

Die Leute, ihr Handeln und ihre Gemeinschaft

Ich habe weiter oben schon dargestellt, dass die Tätigkeiten, die das Leben (also Produktion und Reproduktion, in modernen Begriffen, die aber so in ihrer Getrenntheit nicht passen) der Magischen bestimmten, nämlich Finden, Sammeln und Bannen, Ausgleiche waren. Diese Tätigkeiten erforderten eine ungeheure Menge an Wissen über die ganze Welt und die getreuliche Weitergabe dieses Wissens durch mündliche Tradierung. Die „gesellschaftliche“ Organisationsform, die dies ermöglichen konnte, waren die Leute selbst – wenn ein mehr wissenschaftlich klingender Ausdruck erwünscht ist, können wir von Populationen sprechen. Diese Populationen dürfen wir uns aber nicht als primitive, isolierte, umherziehende Horden denken, welches Bild unter den Auspizien der Evolution, einer Entwicklung vom Einfachen zum Elaborierten und Differenzierten zur Ikonographie der Moderne gehört (vgl. Gould 1994, 24 ff). Wir müssen ausgehen von einer Vielzahl von Populationen 39 mit je eigenen Errungenschaften und Sichtweisen und regen Beziehungen und Kommunikationen. Dabei wurden Informationen, Erlebnisse, Bezeichnungen, Erfahrungen, Topographien ausgetauscht und vermittelt, auf der Grundlage einer belebten Natur oder der vielen belebten Naturen, wobei andere Populationen als diese Wesenheiten anderer Naturen begriffen wurden, Übergänge magischer Art zwischen den verschiedenen Welten also vollzogen wurden. Dies müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir von den Handelswegen der Steinzeit lesen 40.

Das Handeln der religiös verfassten Gesellschaftlichkeiten wurde schon beschrieben als Alimentieren, Opfern und Beten. Organisiert und konstituiert treten sie als Reiche auf, als Imperien, gebunden an die jeweilige Befehlsgewalt, die sich wiederum einer anderen unterordnen kann oder muss. Entsprechend der religiösen Erklärung der Welt erfolgt diese Unterordnung freiwillig durch Anerkennung. Dass sie im Kampf auch erzwungen werden kann oder muss, dementiert diese Aussage nicht, wird doch mit der Beendigung des Kampfs, dessen Ausgang ja göttlicher Wille ist, der Zustand von vorher wieder hergestellt – dies ist auch die Bedeutung des Worts Urfehde – und werden die Unterlegenen in ihren alten Rechten belassen, bloß die Untertänigkeit (Alimentierungspflicht, also Abgaben und Tribute) und die Anerkennung neuer Verwandtschaften (Geiselstellungen, Heiraten) werden nun bekräftigt. Nur so lassen sich Ägypten, Alexander, Rom, die christlichen und islamischen Reiche und was da mehr verstehen. Dies bedeutet auch, dass die unterschiedlichsten Organisationsformen, die wir Modernen dann als Verfassungen und Herrschaftsformen analysieren und daran Unterschiede und historische Kontinuitäten aufstellen und verfolgen (die Stammesverfassung, die Volksversammlungen, die Römische Republik mit Senat, Konsuln, Tribunen etc., die Tyrannis, die Demokratie, die Kaiserzeit und so fort), für die religiöse Welt der Reiche keine Rolle spielen.

Sei es im Haushalt, an den Höfen unterschiedlicher Größe, in Stämmen (deren Zusammensetzungen nicht der blutsmäßigen Abstammung folgen, sondern der verwandtschaftlichen, also Heirat, Adoption und wie erwähnt Geiselstellung beinhalten), in den zentralen Städten der Reiche und in den Reichen selbst – es sind Freie, die – in unseren modernen Begriffen – weltliche und geistliche Macht zusammen ausüben. Ob die Orakel, die Familienväter (im Sinn von pater familias), die Fürsten oder Kaiser –, überall ist das „politische“ Amt mit dem religiösen Amt identisch, der Priester gleichzeitig der Fürst, Stratege, Vater oder Kaiser. Ein Blick auf die Ämterlaufbahn in Rom zeigt dies auf das Deutlichste. Ebenso sind die Haushalte in allen Größenverhältnissen gleich organisiert um ein Heiligtum herum – und solange die Religionen noch überliefert werden, sind bis heute Herrgottswinkel und die Plätze für die Ikonen anzutreffen, hängen im Flur Weihbrunnkessel und Mesusen an den Türen. Und ebenso sind unabhängig von Haushaltsgrößen und Verfassungen (richtiger Art und Anzahl der Ämter) die Leute in Verwandte und Nichtverwandte, in Freie und Unfreie gerechnet. Erst durch die Freilassung werden sie Verwandte, nehmen den Namen ihres Herren an, bekommen also einen Vorfahren, rechnen sich seiner Familie zu, treten in die Verhältnisse der persönlichen Beziehungen ein. Ein letzter Abklatsch davon findet sich in der noch immer recht interessant zu beobachtenden Fähigkeit von Mitgliedern alter Adelsfamilien, ihre Verwandtschaften mühelos hersagen zu können, auch durch ein paar Jahrhunderte. Aber auch der Brauch, dass getaufte Juden den Namen ihres Taufpaten annahmen, verweist auf die vielflechtige Art der Beziehungen innerhalb der Reiche der Götter, die oft für verschiedene Ämter verschiedene Namensgebungen notwendig machten, wie es auch heute noch in der katholischen Kirche mit ihren Amtsnamen üblich ist.

Die Tätigkeit der Moderne ist Produzieren. So unschuldig und unverfänglich dieses Wort auch klingen mag, es hat seine Tücken. Verglichen mit der schematischen Darstellung fällt sofort auf, dass keine kultische Handlung angeführt ist. Dies lässt zwei Lesarten zu, die beide ausführlich in ihrer Richtigkeit argumentiert werden können. Die eine ist, dass Bannen, Opfern und Beten aus dem Selbstverständnis der Leute, die diese Tätigkeiten ausführen, nicht kultische Handlungen in dem Sinn sind, dass sie von der Welt abgehoben sind. Sie fallen mit den anderen Tätigkeiten, die in der Welt vollzogen werden, ineins, sind in die Erklärung der Welt, die den Vollzug dieser Tätigkeiten erheischt, integriert. Den Unterschied, bestimmte Tätigkeiten als kultisch zu bezeichnen, machen jene Leute selbst nicht, und auch dem aufklärerisch-wissenschaftlichen Interpretationsvermögen unserer Zeit macht es keine Schwierigkeiten, etwa Bannen als primitive ökologische Technologie mit Suchen und Finden in Zusammenhang zu bringen und Opfern mit Alimentierungspflicht, Beten aber mit dem Versichern der Verwandtschaft, nur dass wir unseren Vorfahren Unwissenheit über sich selbst zum Vorwurf machen, erscheint dann etwas lächerlich.

Zum anderen ist der kultische, der metaphysische Bezug, der Bezug, der über das Stofflich-Inhaltliche hinausweist, schon im Produzieren enthalten. Produzieren in der Moderne bedeutet nichts anders als Vermehren, wobei das, was vermehrt wird, nicht die Grundlage für die Erhaltung und Ernährung der Leute ist, sondern die Welt selbst, die als Wirtschaft gedacht ist, die wachsen müsse. Dazu hat ein jedes nach seinen Maßgaben und Talenten, Bedürfnissen und Fähigkeiten beizutragen. Für seine eigene Reproduktion ist es dabei selbst verantwortlich und zuständig: Diese Eigenverantwortlichkeit macht es auch aus, dass die kultische Handlung im Produzieren distinkt nicht feststellbar ist und die Beziehung zum Reichtum ihren festlichen Charakter verliert. Es gibt kein einziges bürgerliches Fest, alle Feste stammen aus der Religion, jedes Beten und Opfern war ein Fest, das dem gemeinschaftlichen Verzehr der angehäuften Reichtümer und der Freude daran durch die Leute und ihre Gottheiten 41 diente. Der Konkretisierung des Reichtums nun aber in distinkten Einheiten käuflich erwerbbarer Waren, die ohne den Vorwand des Fests (oder der Notlage; die Verweigerung von Almosen war schwere Rechtsverletzung und Sünde und auf die Gabe bestand „weltlicher“ [Alimentierung] wie „göttlicher“ [Gute Werke] Anspruch) zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jede beliebige Person abgegeben werden, entspricht auch die Konkretisierung einzelner distinkter Subjekte, die erst als Punkte im Koordinatensystem Gesellschaft diese Gesellschaft ausmachen, sich als Gesellschaft konstituieren.

Die Gesellschaftskritik, wie sie in diesem Rahmen entfaltet und vorgelegt wird, hat die Verfasstheit dieser Gesellschaft als Fetischverhältnis oft genug betont und beschrieben, am Vorwurf von Basiskategorien wie Arbeit, Kapitalgeld, Ware. Ich werde dies daher nicht wiederholen, nur darauf bestehen, dass Produzieren als basale Tätigkeit dieser Moderne über Arbeit hinausreicht, den Begriff der abstrakten Arbeit, wie er in Exit! vorgestellt wurde, inbegriffen hat gleichzeitig auch mit der Produktion von Zustimmung, dass Gesellschaft über die simple Tatsache der menschlichen Biologie als gruppenbildend hinausreicht in eine konkrete Selbstdefinition der Moderne, die so vorher nie abgegeben wurde und über diese Definition ontologisch verschleiert, dass hier Neues, Unerhörtes die Welt betreten hat.

 

Bruch oder Übergang

Jedes Zeitalter hat die Überlieferung des vorangegangenen noch in sich. Aber wie wir gesehen haben, ist die alte Überlieferung nicht mehr gültig. Dieses Ungültigwerden wird wohl auch seine Zeit in Anspruch genommen haben, und wenn ich auch davon ausgehe, dass das Ende der jeweils alten Welt schnell und als Zusammenbruch über die Leute gekommen ist 42, die Nachfahren sich ebenso schnell zu einer neuen Erklärung der Welt, einer neuen Sicht auf sie bereit gefunden haben, die nur noch staunt darüber, dass früher so etwas gedacht, geglaubt und praktiziert wurde, so muss doch die Spur der Überlieferung der alten Welt in der neuen sichtbar sein und ein adäquater Umgang mit ihr. An der Religion etwa ist auffällig in diesem Zusammenhang, dass sie überall, wo sie auftritt und ihre Gebote aufstellt, damit das Verbot der Zauberei durchsetzt. Sie muss durchsetzen, dass die Schöpfung nur göttlich ist, alles andere ist teuflisches Blendwerk. Mit diesem Verbot, aus Eigenem zu sein wie Gott, die Götter zu versuchen (was ja die Vergöttlichung nicht ausschließt, die wird ja den Helden und Heiligen ohne weiteres zuteil, auch noch zu Lebzeiten im gegebenen Fall), ist auch die Verbannung oder die Vereinnahmung der Wesen aus der belebten Natur verbunden, wobei die Einheit von Natur und deren Wesen (die darin ihr Wesen treiben, um auch ein Wortspiel in diesem Aufsatz unterzubringen) aufgebrochen wird, von sesshaften Göttern und Menschen. Mythen, die an die Schöpfungsmythen anschließen oder mit ihnen in Göttergeschichten verbunden sind, erzählen auch von der Vertreibung und Vernichtung der alten Gottheiten, die übrigens auch ohne Bezug zu Menschen in diesen Erzählungen erscheinen. Die Leute tauchen erst mit ihren (neuen) Gottheiten auf. 43

Ein ähnliches Spiel von Ausschluss und Eingemeindung bietet uns die Religionsfreiheit der Moderne. Diese ist nicht mit religiöser Toleranz zu verwechseln. Während Toleranz innerhalb eines Reiches gegenüber anderen Religionen gepflogen wurde, wobei aber die ketzerische Auslegung der eigenen Religion oder der Abfall von ihr in der Regel mit dem Tod bestraft wurde, schließt die Religionsfreiheit die Religion von der Erklärung der Welt aus. Religion wird Privatsache. Und sollte selbst Gott existieren, ist dies Privatsache der wissenschaftlich Tätigen, die mit der Untersuchung der Schwerkraft, des Balzverhaltens von Rebhühnern, der Etymologie von alten und jungen Worten oder auch der Existenz Gottes befasst sind. Auch hier kann der Übergang seine Zeit in Anspruch nehmen, kann sich in Überlieferungen niederschlagen und in Auseinandersetzungen, aber wenn Buffon sagt, er glaube an unseren Herrn Jesus Christus, dieses Vokabel könne aber ebenso leicht durch die schöpferische Kraft der Natur ersetzt werden, dann ist hier Gott radikal entkleidet (vgl. Gould 2001, 84). Die Natur kommt nicht vergöttlicht daher, sondern Gott natürlich, und das ist jetzt etwas vollkommen Neues. Hier lässt sich auch nicht sagen, die Moderne würde bloß die alten Begriffe weiter verwenden, ihnen ein neues Gewand geben, aber die alten Inhalte bloß weiter entwickeln; das würde das Verlöschen der Scheiterhaufen nicht erklären können außer mit einer Zunahme an Menschlichkeit, die jederzeit wieder zurück genommen werden könnte. Nein, nicht um neue oder alte Gewandungen geht es, sondern darum, dass die Religion ihrer Kraft verlustig gegangen ist. Index verbotener Bücher, Exorzismus, Schöpfungsbericht, das alles ruft nur noch ein nachsichtiges Lächeln auf die Mienen der Heutigen, und selbst religiös motivierter Terrorismus verkündet keine Wiederkehr verlorener Kraft, ist mit Inquisition und Mission nicht zu vergleichen, sondern bleibt auf der Stufe bürgerlicher Kriminalität.

Wenn es nun aber modern geworden ist, den Kapitalismus unter Rekurs auf die oben zitierte Marxstelle über den Fetisch darauf hin abzuklopfen, ob darin nicht doch eine religiöse Tradition sich verberge, quasi ein Wirken Gottes offenbar werde (denn so muss eins solch Unterfangen sehen, das den Kapitalismus dafür kritisiert, dass er doch recht eigentlich eine Religion geblieben ist, und ihn über sich selbst aufklären will), ob denn nicht Kaufen und Verkaufen kultische Handlungen seien, das Recht eine Metaphysik und das Geldverdienen eine Anbetung, ja dieses unbegriffene Religiöse sogar gegen ihn selbst gerichtet wird, um ihn zu desavouieren, wie es Lohoff ankündigt, ohne dieser Ankündigung in seinem Artikel (Lohoff 2005) gerecht zu werden44, dann wird umgekehrt ein Schuh draus. Die Moderne entwickelt nicht unbegriffen das Instrumentarium einer religiösen Welterklärung weiter, sie erstellt eine völlig neue Welterklärung, die sie eine neue Welt vorfinden lässt. Dabei ist sich die Moderne ihrer Leistung nicht bewusst, das Unbegriffene, das sie mit dem vorhergehenden Zeitalter verbindet, ist, dass sie die Autorität ihrer Erklärung an das Erklärte abtritt und sich von der Natur, wie ehedem von Gott selbst, widerspiegeln lässt. Unbegriffen und ohne namhafte Urheberschaft bleibt die eigene gedankliche Leistung der Moderne, die gedankliche Leistung der Religion hingegen hat sie in und mit ihrer Aufklärung sehr wohl begriffen, verarbeitet, kritisiert und verworfen. Dass die neue Erklärung ihrerseits wieder notwendigerweise unvollständig ist, wird dann von so getanen Kritikastern ihrerseits nicht begriffen und die moderne Sichtweise selbst nötigt sie, Kontinuität zu sehen, wo keine ist. Gott hat ausgedient, wir leben nicht in einer Welt des fatum oder des Heils, wir leben in einer Welt andauernden Heilsversprechens, das wir selbst erfüllen müssen, die Schöpferkraft Gottes haben wir der Natur übergeben und seine Allmacht und Liebe haben wir an uns gezogen, diese erscheinen nun als menschliche Attribute, nicht mehr als göttliche, und als menschliche wieder nur als subjektive. Da mag zwar der Fetisch unserer Verfasstheit seine Hand im Spiel haben, da mag uns der Wert vorgaukeln, was wir vermögen und aneinander wert finden, aber nicht mehr die Religion.

 

Die Leute des Handelns, der Natur und der Überlieferung

Um diesen Aufsatz zum Abschluss zu bringen, sei – noch einmal ganz schematisch – auf einige Punkte verwiesen, die die Epochengliederung, wie ich sie vorgestellt habe, in ihrer Unterschiedlichkeit illustrieren. Etwa sei das Tun angesprochen. In der Magie handeln alle, die Leute und die Naturen mit eingeschlossen. In der Religion handelt Gott. Die Behauptung: „Ich habe die Hethiter geschlagen, ich habe meinem Volk das Gesetz gegeben, ich habe die Stadt gegründet, …“, verweist auf ein Handeln, das ohne Gott nicht auskommt, genauso wie auf Handelnde, die nur für und mit Gott tätig sein können. Dieses Ich, das sich von Gott ableitet und in ihn wieder eingehen wird, ist etwas vollkommen anderes als das Subjekt, das sagt: „Ich habe den Präsidenten gewählt, ich habe dies Geschäft gemacht, …“, das Handlungen tätigt, die ohne die Handlungen der anderen nicht auskommen. Hier handeln wieder alle Leute, durch die Gesellschaft hindurch, aber ohne Einschluss welcher Natur auch immer.

Die Natur ist in der Magie belebt und unterscheidet sich nicht von den Leuten. Die Natur der Moderne aber ist tot, reine Folie, reines System, tritt den Leuten in ihren Konkretisierungen nur rohstofflich entgegen. Da wir aber in der Moderne mit den spezifischen Verdopplungen umzugehen haben, erscheinen die Naturen nicht nur als Welt und Gegenstände, sondern auch als erste und zweite Natur, womit Vorgefundenes ebenso umfasst werden soll wie die nun problematisierte Tatsache, dass die Leute der Moderne sich als Teil der Welt sehen, indem sie die „Natur“gesetze auf sich beziehen und nach ihnen zu handeln als menschlich-natürlich ansehen. Diese Natur hat auch keinerlei Freundlichkeit und Überraschungen parat, wie die vielen Naturen mit ihren vielen Übergängen der Magie. Als Natur sieht die religiöse Epoche wiederum nur das, was Gott in die Dinge hineingelegt, wozu Gott sie bestimmt hat. Was aber die Leute an Welt umgibt, ist entweder Kultur oder Wildnis, eine Vorstellung, die in der Moderne vollends verschwunden ist.

Ebensolche inhaltlichen Unterschiede lassen sich finden, wenn wir die Überlieferungen betrachten, die diese Zeitalter tradieren, und wie sie es tun. Die Magie überliefert Wissen. Was sie weiß, weiß sie, hier wird nichts entwickelt oder in Ordnungen gebracht, es wird mündlich weiter gegeben und gemerkt und erzählt. Die Erzählung bezieht sich aber auf eine Zeit, die nie vergeht, und ist immer gültig. Die Religion bezieht ihr Wissen aus der Offenbarung und gibt es schriftlich codifiziert weiter, wobei die Codifizierung sowohl ein Geschehen in der Zeit als auch Geschehen außerhalb der Zeit umfasst: Was geschieht, geschieht mit Wissen Gottes, mit seiner Billigung, auch wenn die Leute nicht wissen, warum er es gebilligt hat. Regesten, Viten, Annalen, Codices, gesammelt und aufbewahrt, legen Zeugnis ab und berichten. Die Moderne gibt der schriftlichen Überlieferung eine völlig neue Gestalt, als wäre das Schreiben neu erfunden worden, die des Textes. Die Geschichte ist nun nicht mehr der Bericht, sondern die Kritik der Quellen. Diese Kritik wird entwickelt anhand der in der Natur vorgefundenen Gesetze, die hinfort zur Anhäufung von Wissen und einer immer genaueren Durchdringung der Welt, zu einer immer präziseren Kenntnis führen.

in kleiner Satz, der nun nicht mehr kommentiert und erläutert wird, soll schließen. Jedes Zeitalter hat seine eigene Art, den sozialen Konsens zu befestigen. Was in der Magie tabu ist, ist in der Religion heilig und in der Moderne vernünftig. Jedes Zeitalter hat seine Verpflichtung und seine Mittel, die Verstöße gegen den Konsens zu ahnden. Weiteres Fleisch auf die Knochen dieses Durchgangs anhand von Themen wie Kunst, Tod oder anderem überlasse ich der Phantasie und Anstrengung der geneigten Lesenden.

 

Schlussbetrachtung

Wir müssen uns nun der Frage stellen, was wir eigentlich, nach diesen kursorischen Aufzählungen von Titeln, Untertiteln und Überschriften, gewonnen haben. Zunächst, scheint es, nicht viel. Die Epochengliederung, die wir gewonnen haben, ersetzt nicht, was vorher gültig war, hat es in seinem Bestand nicht angegriffen. Die Geschichte muss nicht umgeschrieben werden und von nichts kann nun behauptet werden, so wäre es in Wirklichkeit gewesen. Auch an die Epochengliederung entlang von Herrschaftsverhältnissen haben wir nicht gerührt und Barone, Leibeigene, Patrizier und Plebejer gelassen, wo sie sind. Wenn wir uns aber die Ausgangsfragen dieses Aufsatzes vergegenwärtigen, können wir Einiges getrost nach Hause tragen. Ich habe ja das ganze Unterfangen unternommen, um die Instrumente der Gesellschaftskritik, nämlich die Kritik des Fetischs (also des Werts) und die Kritik der Abspaltung daraufhin zu befragen, ob sie für eine Darstellung auch anderer gesellschaftlicher Formationen als der der Moderne taugen.

Wenn nun diese Instrumente in einem historistischen Sinne tauglich gemacht werden sollen, welchen Versuch ich ja durchgeführt habe, dann stehen wir vor folgendem Dilemma: Einerseits lassen sich Ergebnisse vorweisen, die die Verwendbarkeit zu bestätigen scheinen. Andererseits aber müssen wir die Ergebnisse selbst daraufhin hinterfragen, ob sie noch mit dem übereinstimmen, was uns die Vorfahren und Ahnen überliefert und hinterlassen haben. Dabei geht es jetzt nicht darum, dass wir besserwisserisch und aufgeklärt den Pfaffenbetrug aufdecken, zu wessen Nutzen übrigens? Es geht im Gegenteil darum, die auf uns gekommenen Berichte als gültig anzusehen. Da hilft es uns nicht weiter, wenn wir die Stigmatisierung des Hl. Franz von Assisi psychosomatisch oder psychopathologisch erklären wollen, wo Gott gewirkt hat. Und Alexander sah im Kaukasus den Felsen, an den Prometheus gekettet war, und stammte von Zeus und Achill ab. Mögen wir heute auch die ägyptischen Priester als die Jesuiten ihrer Zeit entlarven, so tun wir das nur aus unserer Position heraus, die sich das Instrumentarium für diese Entlarvung zurecht geschnitzt hat im Zuge der Konstituierung unserer eigenen Fetischverhältnisse. Sagt dies aber nun etwas über andere Zeitalter aus?

Und so muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob dies kritische Instrumentarium, das ich verwandt habe, nicht doch recht eigentlich nur für unsere modernen Zustände entwickelt wurde und nur für sie anwendbar ist, nur sie zu hinterfragen, ihren Zusammenhang aufzulösen und die Möglichkeit einer neuen Erklärung der Welt anzureißen. Dann ist eine Geschichte von Fetischverhältnissen ebenso eine begriffliche Krücke wie der Kapitalismus als Religion. Dann aber ist auch eine Kritik, wie sie Jörg Ulrich (2005) vorgelegt hat, dazu angetan, das Unbegriffene an unseren Zuständen sichtbar zu machen mit dem Verweis auf Kontinuitäten, die zu ihrer Zeit schon brüchig waren, mit dem Verweis darauf, dass Benjamin dieser Untersuchung noch ausweichen muss, weil die destruktiven Potenzen, die er sieht, noch nicht dechiffrierbar sind als Vorboten des Zusammenbruchs, sondern durch Aufklärung noch ideologisch geglättet und beschönigt werden können. Allerdings muss das Entstehen so eines Diskurses als ein Verweis auf das Zerbrechen einer bis jetzt gültigen Erklärung der Welt gesehenen werden, muss ein Dechiffrieren des historischen und wissenschaftlichen Materialismus als Metaphysik in Zusammenhang gebracht werden mit einer Kritik bis ans Ende, die sich nur mit dem Ersetzen der gültigen Erklärung, des bis jetzt herrschenden sozialen Konsenses durch Neues zufrieden geben kann.

Wir haben die Schwierigkeit bei der Religion gesehen, die wir haben, Abspaltung und Fetisch in das Prokrustesbett eines historischen Durchgangs zu spannen. Dabei sind wir noch nicht einmal auf die binnenhistorische Entwicklung einer religiösen Epoche eingegangen, haben die Auseinandersetzung über Pantheon und Monotheismus gescheut, nicht dargestellt, wie sie sich unterschieden, nur, worin sie sich gleich und dasselbe waren. Wir haben in dieser Unterscheidung, die wir nicht getroffen haben, die vermittelnde und entwickelnde Rolle der Mysterien nicht gewürdigt, wir haben nicht dargestellt, wie alle drei miteinander gleichzeitig und nacheinander umgegangen sind. Wir haben uns auf Gott, die Schöpfung, die personale Beziehung beschränkt. Wir haben gesehen, wie die Gottheit den Leuten die Welt überantwortet, wie nun fatum und Heil (und diese Unterscheidung müssen wir nun schon machen, um den antiken oder Natur- und den Offenbarungsreligionen gerecht werden zu können) als – von uns als Fetisch bestimmt – das Leben der Leute anleiten, ordnen, in die richtige, unhintergehbare Richtung weisen. Wir haben dies als den Fetisch verortet, weil dies das Unhintergehbare an der Religion ist. Götter können betrogen, hintergangen, getäuscht werden, nicht das fatum, nicht das Heil. Und doch erscheint uns, dass wir damit der personalen Beziehung zwischen den Gottheiten und ihren Leuten Unrecht tun, die ewige Gegenwart der Gottheiten aus der Darstellung hinauskomplimentieren, die Vermittlung der Welt durch die göttliche Schöpfung für die Leute nicht ausreichend würdigen. Und das Überschüssige des Körperlichen, das wir als Abspaltung definiert haben, weil es in der (menschlichen) Schöpfung nicht aufgeht (und an der göttlichen sich als Hybris zeigt), weist sofort darauf, dass es keine Abspaltung ist, die an ihren Fetisch gebunden ist und nur mit ihm Totalität herstellt. Als Fetisch haben wir zwar Heil und fatum dingfest gemacht und die sind an die Seele gebunden, aber ganz geht unsere Übertragung nicht auf. Wir finden hübsche Erklärungen, wie sich aus der Abspaltung des Körperlichen der Freie Mann herausschält, wie Menschenopfer und Todesstrafen in die Welt kommen, aber wir sind uns bewusst, dass wir historische Analogien, Referenzen um des Schemas willen sehen.

Was die Abspaltung in magischen Zuständen betrifft, so klingt die Sache zu einfach, um wirklich zu sein; eher hat wieder die schematische Ordnungsliebe ihr Haupt erhoben und die Glieder gereckt. Natürlich ist das Heraustreten der Menschen aus der Natur als Tatsache belegt, sonst würdet ihr nicht diesen Aufsatz lesen. Aber sofort eine Konstitution der Natur als Fetisch und eine Konstitution der Leute als Abspaltung und alle zusammen als erste Gesellschaftlichkeit magischer Populationen lässt sich gut und gerne auch als etwas dick aufgetragen bezeichnen.

Was bleibt, ist das Folgende: Ein Verständnis der vorangegangenen Welten setzt voraus, dass wir die Berichte dieser Welten von ihren Leuten anerkennen. Das ist umso einfacher, als wir davon ausgehen müssen, dass diese Welten alle langen Bestand hatten, praktikabel waren und über Erklärungen verfügten, die schlüssig waren. Eine Kritik dieser Welten bloß als organische Entwicklung auf unsere zu verfängt nicht. Wären sie so unausgereift und irrational, wie wir ihnen unterstellen, hätten sie nur auf Hintergehung, Betrug, Täuschung und Unwissenheit beruht, die Leute darin hätten nicht überleben können. Was bleibt, ist also auch die Erkenntnis, dass wir über die Erklärungen der Welt, die die Leute abgeben, mit ihnen verbunden sind, wohl aber auch epochal getrennt. Das Verbindende ist aber nicht teleologisch auf uns selbst beziehbar, höchstens als quasi ontologisches Substrat von Menschsein selbst – mit allem Vorbehalt – zu entdecken. Diese Entdeckung macht uns bescheiden im Hinblick auf unsere Leistungen, lässt uns respektvoll staunen über die Leistungen der Ahnen und deutet gleichzeitig die Vergänglichkeit an, auch wenn wir, wie unsere Vorfahren, für die Ewigkeit denken. Diese Entdeckung, dass wir uns selbst eine Metaphysik der Welt vorsetzen, um überhaupt mit unserem Menschsein zurechtzukommen, desavouiert dann unsere eigene Erklärung in ihrem vorgeblichen Materialismus, die ja für sich in Anspruch nimmt, ohne transzendenten Bezug auszukommen. Was sie zu destruieren vorgibt, stellt sie hinterrücks her, respective setzt sie voraus und bleibt so, wie alle anderen, unvollständig. Wenn sie dann als „Realmetaphysik“ (Kurz 2004) bezeichnet wird, verweist dies auf das Gemeinsame, verweist aber auch auf die Gemeinsamkeit der Unvollständigkeit und Endlichkeit, worin sich in der Rückschau jede Metaphysik auszeichnet.

Was bleibt, ist aber auch, dass wir unserer spezifischen Erklärung Rechnung tragen müssen, wenn wir von „Geschichte“ reden. Wir müssen dessen eingedenk sein, dass Geschichte nur eine Erzählung von uns Modernen ist und daher die begriffliche Verdoppelung der Moderne mitgemacht hat. Einerseits ist sie das Koordinatensystem allgemein gültigen Geschehens, ein Koordinatensystem, das nur eine Anhäufung von Epochen, von Ereignissen, von Erzählungen birgt, andererseits ist sie auch die Erzählung von diesem Koordinatensystem selbst. Wenn wir also von unseren Ahnen erzählen, erzählen wir von uns – oder wir lassen die Ahnen zu uns sprechen. Dies allerdings führt in eine schlechterdings unerfüllbare hermeneutische Forderung, bestätigt dabei den historischen Raster der Moderne, in dem dann ein „Zeitpunkt“ für sich steht. Oder wir begreifen, dass die Ahnen von untergegangenen Welten berichten und, indem wir diese Erzählung – im Rahmen der modernen Sichtweise – doch auf uns beziehen, dass wir das Brüchigwerden unserer eigenen Erklärung der Welt bezeugen. So, wie die Religion die magischen Kenntnisse und Errungenschaften in eine göttliche Ordnung bringt, quasi die Geschichte als Geschichte von Gottesbeziehungen darstellen musste, so stellen wir nun Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen dar und machen – wie die alten Portugiesen – aus Göttern Fetische. Vielleicht werden Leute, die „selbstbestimmt über ihr Leben verfügen“, die aus der „Vorgeschichte“ herausgetreten sind, die „im Reich der Freiheit“ sich aufhalten (was immer auch der gängige Ausdruck sein mag), eine „Geschichte der Leistungen“ schreiben, vielleicht auch gar keine.

Das Instrumentarium, mit dem wir unsere eigenen Zustände kritisieren, ist auf diese Zustände ausgerichtet, aus ihnen entwickelt, beschreibt sie und trachtet danach, sie zu zerstören. Insofern ist es auch der spezifischen Verdoppelung der Moderne geschuldet, etwa wenn ich Wertabspaltung zwar als gültige kritische Beschreibung der Moderne sehe, gleichzeitig aber den Versuch mache, Fetisch und Abspaltung als historisch nach hinten zu verlängern. Nun stellt sich dieser Versuch als unzulänglich heraus und der running gag der fundamentalen Wertkritik, die Geschichte der Menschheit als Geschichte von Fetischverhältnissen zu betrachten, wird sich in der Fortführung der Wertabspaltungstheorie auflösen und darin verschwinden müssen. Jedenfalls werden wir uns dort wieder finden, wo wir am Anfang unserer Untersuchung schon gestanden sind: in der Moderne, mit dem Fetisch Wert und der Abspaltung des Weiblichen. Fetisch und Abspaltung als Wertabspaltung der Moderne zugehörig zu sehen, sie bloß im Rahmen der Moderne zu kritisieren als das, was die Misere der Gesellschaft ausmacht und konstitutiert, ihre Überwindung anzustreben und von und in der Moderne einzufordern, erlaubt nicht wirklich, Fetisch und Abspaltung als ontologisches oder anthropologisches Prinzip durch die Existenz der Gattung und Art Menschheit hindurch zu verfolgen. Fetisch ist nicht Gott, der Wert nicht die Schöpfung, die Abspaltung des Weiblichen nicht die Weihe des Körperlichen etc.

Ähnlich verhält es sich mit der notwendigen Unvollständigkeit der Erklärung, der Erklärung, welche die Leute je für ihre Zustände abgegeben haben; die Erklärung unterstellen wir, um etwas Verbindendes zu haben, das uns des hermeneutischen Herangehens entbindet, aber wir unterstellen sie wieder mit modernen Mitteln, mit den Mitteln des in der Moderne entwickelten historischen Blicks, mit den Mitteln der erklärenden, entmythifizierenden Aufklärung. Und da bleibt die Frage übrig, ob sich die Leute früher einer Erklärung bewusst waren, wie wir es tun, ob die Unvollständigkeit und deren Notwendigkeit sich nicht unserem Weltbild, dem nach allen Seiten hin offenen Koordinatensystem verdankt. Dass die Erklärungen, welche die Grundlage für das gesellschaftliche Leben der Leute durch die Zeitalter und Zeiten hindurch geliefert haben, notwendig unvollständig sind – eben weil die Erklärung an die Welten zurückgegeben wird und erst von ihnen wieder auf die Leute kommt –, das verbindet und trennt uns von den Vorfahren, weil wir ihnen post festum unsere Erklärung noch einmal aufdrängen. Aber wenn wir nun das notwendig Unvollständige an unserer eigenen Erklärung unserer eigenen Welt zu dechiffrieren beginnen, dann weist dies auf den Verfall unserer eigenen Grundlagen hin, schon nach einigen Jahrhunderten. Ob die folgende Erklärung wieder unvollständig sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Jetzt aber wird es notwendig sein, sich mit dem Gedanken hoch kontingenter Situationen vertraut zu machen, mit einem Fächer von Möglichkeiten, die wir noch nicht oder erst wenig erahnen, und sich auf vielleicht angenehme Überraschungen vorzubereiten.

 

Literatur

Arsenjew, Wladimir (Klawdijewitsch) 2003: Der Taigajäger Dersu Uzala ( zuerst veröffentlicht 1924), Zürich

Birkhan, Helmut 1997: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, Wien

Bockelmann, Eske 2004: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1984, München

Durant, Will 1952: Das Zeitalter des Glaubens. Eine Kulturgeschichte des christlichen, islamischen und jüdischen Mittelalters von Konstantin bis Dante (325 – 1300). Die Geschichte der Zivilisation, Band 4, Bern (erste Auflage)

Durant, Will 1957: Das Leben Griechenlands. Eine Kulturgeschichte Griechenlands (von den Anfängen) und Vorderasiens (vom Tode Alexanders) bis zur Eroberung durch Rom mit einer Einführung in die vorgeschichtliche Kultur Kretas. Kulturgeschichte der Menschheit, Band 2, Bern (zweite Auflage)
Die Auflagen, die der Verlag Francke nach der ersten herausgegeben hat, sind in der Überfülle der Anmerkungen gegenüber der ersten etwas verkürzt. Um diesen Unterschied herauszustellen, hat der Verlag den Übertitel geändert.

Erben, Heinrich Karl 1988: Die Entwicklung der Lebewesen. Spielregeln der Evolution, München

Golther, Wolfgang 2004: Germanische Mythologie. Handbuch – Gesamtausgabe, Essen (Reprint)

Gould, Stephen Jay 2001: The Lying Stones of Marrakech. Penultimate Reflections in Natural History, London

 Gould, Stephen Jay 1994: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur, München
Ich kann mir nicht verkneifen, den Verlag dafür zu tadeln, dass er zugelassen hat, den amerikanischen Titel falsch zu übersetzen; hieß es doch in wunderbarer Eleganz „Wonderful Life. The Burgess Shale and the Nature of History“.

Gronenborn, Detlef 2005: Freundliche Übernahme In: Spektrum der Wissenschaft, Februar 2005, 56 ff, Heidelberg.

Haarmann, Petra 2004: Copyright und Copyleft. Vermittlung im Falschen oder falsche Unmittelbarkeit, in: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 1, 184 ff, Bad Honnef,

Hall, James 1996: Sangoma. Eine Reise zu den Geistern Afrikas, München

 Hanloser, Gerd 2005: Attac, Globalisierungskritik und „struktureller Antisemitismus“ In: grundrisse 13, 4 ff, Wien

 Herbig, Jost 1986: Im Anfang war das Wort. Die Evolution des Menschlichen, München

Ifrah, Georges 1993: Universalgeschichte der Zahlen, Frankfurt am Main

Konetzke, Richard 1965: Süd- und Mittelamerika I. Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Fischer Weltgeschichte, Band 22, Frankfurt am Main

Kurz, Robert 2004: Die Substanz des Kapitals. Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute innere Schranke der Verwertung. Erster Teil, in: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 1, 44 ff, Bad Honnef

Kurz, Robert 2005: Die Substanz des Kapitals. Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute innere Schranke der Verwertung. Zweiter Teil, in: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 2, 162 ff, Bad Honnef

 Lohoff, Ernst 2005: Die Verzauberung der Welt. Die Subjektform und ihre Konstitutionsgeschichte – eine Skizze, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 29, Münster

 Mania, Dietrich 2004: Die Urmenschen von Thüringen, in: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2004, 38 ff, Heidelberg

 Schiller, Friedrich von o. J.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Unversalgeschichte? Werke, Band 6., Meyers Klassiker-Ausgaben, herausgegeben von Ludwig Bellermann, Leipzig und Wien

Scholz, Roswitha 2000: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef
(An dieser Stelle sei auch auf den Aufsatz in Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 12, Bad Honnef 1992, aufmerksam gemacht: Der Wert ist der Mann. Thesen zu Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis.)

Tripp, Edward 1974: Lexikon der antiken Mythologie, Stuttgart

 Ulrich, Jörg 2005: Gott in Gesellschaft der Gesellschaft. Über die negative Selbstbehauptung des Absoluten, in: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 2, 23 ff, Bad Honnef

Zangger, Eberhard 1998: Die Zukunft der Vergangenheit. Archäologie im 21. Jahrhundert, München



1 Georges Louis Leclerc Comte de Buffon (1707 – 1788), Hauptwerk „Histoire Naturelle“, vgl. auch Gould 2001, 75 ff

2 Carl von Linné (1707 – 1778), Hauptwerk „Systema Naturae“

3 In Hinkunft wird jede gesellschaftliche, mithin wissenschaftliche Äußerung ihre historische Legitimation vorweisen müssen. Schiller wusste schon darum, dass nur ein in der Zeit auf uns gerichteter Vorlauf unsere modernen Welten hervorbringt, und drückt diese Teleologie in seiner Antrittsrede aus. Spätere Nachfolger und Vollenderinnen des Fachs werden Geschichten der Sexualität, der Kindheit, des Todes, der Gewalt, des Alltags, der Gefühle verfassen; Geschichtswissenschaft wird dabei zur Philosophie ein ähnliches Verhältnis entwickeln wie die Physik zur Mathematik – als Lieferantin des empirischen Materials, dessen Existenz die andere Wissenschaft schon vorausberechnet hat. Und daher verfassen auch Emanzipationsbewegungen als erstes ihre Geschichten (etwa des Matriarchats oder der afroamerikanischen Bevölkerung), wenn sie ins politische Rampenlicht und damit in die bürgerliche Gesellschaft eintreten wollen; nicht als genealogische Abstammung von Göttern und Königen, sondern als historische Übereinstimmung mit Naturgesetzen, die ihre Existenz erfordern und sichern.

4 Die Debatten um die Gründe für das Aussterben der Dinosaurier stellen paradigmatisch ein beredtes Beispiel; es geht nicht um die Erhellung eines Ereignisses, sondern um die Prävalenz einer wissenschaftlichen Richtung.

5 Wie auch in der Kosmologie ein anthropisches Prinzip eingeführt wurde, um die Kosmogonie auf die Existenz intelligenten menschlichen Lebens zu beziehen, so wird die Geschichte als eine gerichtete Entwicklung betrachtet, in der sich letztlich die bürgerliche Gesellschaft als vollendetes Reich von Vernunft und Freiheit einstellt.

6 Er sitzt auch nicht einem Missverständnis auf, wie sie so gerne von religiösen und materialistischen Verfasstheiten beim gegenseitigen Aufeinandertreffen gepflogen werden. So nannten die Portugiesen afrikanische religiöse Symbole und Darstellungen „fetico“, also Zauberei, weil sie religiöse Übung nur für sich als Christen in Anspruch nahmen und sich nicht vorstellen konnten, dass andere Leute gleichermaßen in religiösen Verhältnissen lebten, auch wenn die Neuankömmlinge von diesen Religionen nichts gehört hatten. Ein Missverständnis in die andere Richtung sind etwa die Cargokulte (vgl.: http://www.wikipda.de/infos/c/ca/cargo-kult.html), wobei durch die Bezeichnung Kult das Missverständnis wieder zurückgegeben wird. 

7 vgl. etwa Hanloser: Zwar wird der Fetisch noch korrekt wiedergegeben als Verdinglichung persönlicher Beziehungen, sehr schnell aber auf die Mehrwertproduktion zurückgeführt, das heißt die Verdinglichung erscheint im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr als Fetisch, sondern wie eine als Fetisch verwendete Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen: „Im G-G′, dem zinstragenden Kapital, existiert die am meisten fetischisierte Form des Kapitalverhältnisses, in dem Subjekt und Objekt nicht bloß vertauscht sind, sondern das Subjekt – die Arbeit – ganz verschwunden zu sein scheint.“

8 Hier sei zum tieferen Verständnis betont, dass Wertabspaltung so zu lesen ist wie Raumzeit: Beide Bestandteile beschreiben die Welt respektive die Gesellschaft nur in inniger Verschränkung. So wie Raum und Zeit einander darin gleich sind, dass sie den Abstand zweier Ereignisse voneinander bedeuten, so Wert und Abspaltung darin, dass sie unsere gesellschaftliche Bewegung und Organisierung bedeuten – der Wert spaltet nichts von sich ab, die Wertabspaltung ist keine vom Wert aktiv vorgenomme Handlung, kein Resultat, das aus gesellschaftlicher Tätigkeit herrührt, sondern eine Einheit, die gesellschaftliche Tätigkeit erst erlaubt und herstellt – und kritisierbar macht.

9 Schon die Bezeichnungen der ersten Orte deutet auf den kultivierten Ort der Sesshaften hin: eden (bewässerter Platz, ugaritisch), paradies (Park oder Garten, avestisch), auch midgard (umzäunter Platz in der Mitte, germanisch) (vgl. dazu http://www.etymonline.com)

10 Wir dürfen hier als eine menschliche – gattungsmäßige – Konstante den festen Ort sehr wohl annehmen, was auch später zur Sesshaftigkeit führen wird (vgl. dazu Herbig, in diesem Zusammenhang 37 ff). Die Sesshaftigkeit unterscheidet sich von der Wildbeuterei nicht durch den festen Ort, sondern durch die Gestaltung der Welt rund um diesen Ort, also durch Domestikation von Tieren und Pflanzen – so wird eine neue Welt geschaffen mit neuer Fauna und Flora auf Kosten einer untergehenden alten (vgl. dazu Zangger, in diesem Zusammenhang 166 ff).

11 Das Obige ist bloß eine Andeutung; für genauere Abhandlungen dieses Themas, auch wenn sie es nicht erschöpfen und nur einen mainstream der Forschung darstellen, vgl. Erben, in diesem Zusammenhang 323 ff.

12 Auch der Begriff des „historischen Felds“, wie ihn Robert Kurz (2005) in ähnlichem Zusammenhang verwendet, passt hier herein.

13 Ich enthalte mich dabei der Darstellungen und Überlegungen bezüglich der biologischen Evolution der Art und der Gattungen homo. Hier geht es mir nur um überlieferte und einigermaßen dechiffrierbare Äußerungen von Leuten, nicht um missing links oder fruchtlose Auseinandersetzungen darüber, welche Art schon artikulierter Sprache fähig war.

14 Ich muss auf diese Bemerkung später noch einmal zurückkommen. Jetzt sei nur soviel dazu gesagt, dass dies klarerweise nur eine moderne Interpretation sein kann. Inwieweit diese Moderne, das begriffliche Werkzeug dieser Moderne, im Zusammenhang mit unserem Thema zu relativieren sein wird, ist dann in den Schlussbetrachtungen nachzulesen.

15 Der Begriff der gedanklichen Leistung, der ein Zeitalter, eine Epoche, eine Gesellschaft antreibt, auch wenn sie von dieser nicht als genuine Leistung begriffen, sondern begriffslos vorausgesetzt wird (als Welt, die sich im Erkennen offenbart, sich selbst mitteilt und hinter dieser Mitteilung die Erklärung verbirgt), verdankt sich Eske Bockelmann und wird von ihm für die Epoche der Moderne exemplarisch ausgeführt. Seine Darstellung entspricht dabei dem, was in diesem Aufsatz als Fetischverfasstheit beschrieben wird.

16 Arsenjew (1872 – 1930), Offizier und Geograph erforschte den Osten Russlands zwischen Ussuri und Pazifik, trug wissenschaftliches Material zusammen aus den Bereichen der Ethnologie, Geologie, Botanik, Zoologie etc. und veröffentlichte etwa 60 Werke. Er konnte nach 1922 seine Arbeiten in der Sowjetunion fortsetzen, aber als er starb, war der Haftbefehl im Zuge einer der stalinistischen Verfolgungen schon unterzeichnet, sein Archiv wurde geplündert, seine Frau 1938 unter der Anklage der Spionage für Japan erschossen. In den 40er-Jahren erfolgte die Rehabilitation. Arsenjew wurde zum russischen Klassiker. Dersu Uzala war Jäger aus dem Stamm der Golden. Sein magisches Verständnis ist nicht an die Jagd mit Steinwaffen gebunden; er führt ein Gewehr und kennt die Eisenbahn, aber er kann nicht in der Stadt leben.

17 James Hall promovierte mit Auszeichnung an der University of California und arbeitete als Journalist und Schriftsteller, ehe er eine Ausbildung zum Heiler machte, um in Swasiland zu leben und zu praktizieren. Seine Berichte können von einem aufgeklärten Bewusstsein dechiffriert und übersetzt werden, ohne dass dabei die Praktikabilität der magischen Verfahren infrage gestellt werden müsste. Magie ist zwar heute von einer allgemein verbindlichen Erklärung und Gestaltung unserer Welt ausgeschlossen, wo aber GeisterheilerInnen dem Sozialstaat beispringen und ihn entlasten können, wo eine Klientel vorhanden ist, die damit bedient werden kann und sich bedienen lässt, funktionieren magische Verfahren trotz religiöser und moderner Überformungen auf der Basis der mündlichen Traditionen weiter.

18 Der europäische Reisende belächelt und bestaunt den Regenmacher und meint, er tanze, damit es regnet. Der Regenmacher tanzt, bis es regnet. Und er weiß im Allgemeinen, wann das sein wird.

19 Ich erinnere daran, dass wir uns räumlich beschränken.

20 Wir wissen nicht wirklich, warum die Leute sich zur Sesshaftigkeit entschlossen haben. Wir wissen aber, dass – die ersten Schritte getan – der Prozess sich schnell und unaufhaltsam entfaltete, als hätte es nie anderes gegeben. Zum Übergang zur Sesshaftigkeit vgl. den interessanten Artikel von Gronenborn und von Mania zu festen Orten vor der Sesshaftigkeit, zu Veränderungen der Nahrung und der dazu passenden Technologie in Vorbereitung der so genannten Neolithischen Revolution (vgl. auch Herbig, 138 ff ).

21 Interessant in diesem Zusammenhang, wenn auch nicht von großer Bedeutung, ist, dass „ort“ ursprünglich eine Spitze, Ecke, Kante, ein Äußerstes bezeichnet (vgl. Grimm, Bd. 13, 1.350), der feste Platz nun quasi zur Spitze der Entwicklung wird. Ebenso muss kurz Erwähnung finden, dass die Nomaden zu den Sesshaften zu zählen sind: Sie halten Haustiere, bauen Hauptstädte und erobern Reiche.

22 Einem Gespräch mit Herold Binsack beim Mittagessen verdanke ich den Hinweis darauf, dass die Steinabriebe der ersten Mühlen, die im Mahlgut mit vorhanden waren, den Zahnschmelz in einem vor der Sesshaftigkeit unbekannten Ausmaß angriffen und die so entstandene Karies Bakterien und Keimen einen vorher verschlossenen Weg in den menschlichen Körper eröffneten.

23 Wir können hier auf eine taxative Aufzählung von Verwandtschaftssystemen verzichten. Zwar wird an dieser Stelle gerne der Versuch unternommen, mit der Beschreibung matrilinearer Abstammungssysteme das viel beschworene Matriarchat zu begründen, aber wie wir weiter unten sehen werden, fußt die Herausbildung des Freien Mannes auf einer anderen Grundlage als der Umstürzung matriarchaler Verhältnisse. Für jetzt, für die Beschreibung sesshafter, somit religiöser Zustände, können wir uns den Hinweis auf die klassischen Autoren ersparen; dass es Männer sind (Engels, Bachofen, Bornemann, etc.), verweist ohnehin nur auf eine reduzierte, soziologisch-historisch entwickelte Sicht.

24 Sagenhaft ist dies überliefert in den Berichten von Jason und den Argonauten (vgl. Tripp, 258) wie auch von Finn mac Umhaill und den Fianna (vgl. Birkhan, 1043 ff). In beiden Fällen wird die heranwachsende männliche Jugend des Landes verwiesen, ihre Kraft soll nicht die Herrschaft anstreben, sondern diese an den Grenzen sichern oder jenseits der Grenzen verbreiten und alimentieren. Diese Austreibung der jungen Männer lässt sich aber aus den sagenhaften Erzählungen fortsetzen bis in die Kreuzzüge (inklusive saisonaler Kriegsführung im Baltikum), die reconquista und die überseeische Epansion; wenn dieser Zusammenhang so nicht gesehen und besprochen wird, bleibt er rätselhaft und wird als feudale Expansion diskutiert, paradigmatisch und interessant etwa dazu http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/VGS/qs2.html

25 vgl. dazu Konetzke, 27 ff

26 a. a. O., 28

27 a. a. O., 29

28 Wenn wir dies unterlassen, bei der Betrachtung religiös verfasster Epochen die göttliche Einheit, die in dieser Verfasstheit der Ausgangspunkt und der Endpunkt jeder gesellschaftlicher Äußerung ist, mitzudenken, verfallen wir der Hybris der Moderne, die den Berichten unserer Ahnen nicht zuhört, diese Aufmerksamkeit des Lauschens durch die Quellenkritik der Aufklärung ersetzt und den üblichen Missverständnissen aufsitzt. So schreibt Will Durant (Bd. 2, 120) über die Athener: „752 begrenzten sie die Amtszeit des Archonten auf zehn Jahre, 683 auf ein Jahr. Bei dieser Gelegenheit verteilten sie die Verantwortlichkeit des Amtes auf neun Archonten: einen archon eponymos, nach dessen Namen die Ereignisse des Jahres datiert wurden, einen archon basileus, der den Namen ‚König‘ trug, aber nur (!, G. W.) an der Spitze der Staatsreligion stand, …“

29 Zur Etymologie vgl. Golther, 168f oder Grimm, Bd. 31, 1.235, Stichwort Ziestag; zur Übernahme vgl. Golther, 280 f.

30 „L’état c’est moi!“, verkündete einer der Könige dieser schon auf ihrem letzten Höhepunkt im Untergang sich befindenden Epoche. Wenn wir uns vor Augen halten, was ètat alles umfasst – Staat, Zustand, Stand, Zahlungsmittel etc. –, wird uns klar, dass sich Louis XIV mit dieser Einheit identifiziert und sie verkörpert in einem Ausmaß, das wir nie mehr begreifen und dessen Umfang wir nie zu fassen bekommen können. Diese Zeiten sind vorbei.

31 Ich sag das mal so, wie der heute gängige Ausdruck dafür lautet, wenn eins was loswerden will, aber nicht sicher ist, ob nicht gerade Unsinn geredet wurde. Reichtum jeden Falls ist es nur aus der romantisch verklärenden Sicht von uns Modernen, die ein Leben im Überfluss immer etwas skeptisch betrachten und es auch für moralisch verwerflich erachten. Andrerseits ist die Frage, ob von Überfluss gesprochen werden kann, wenn dieser gleichzeitig mit der Anstrengung verbunden ist, ihn als ewigen – also gewissermaßen unantastbaren – Überfluss zu erhalten.

32 Hier sei noch einmal auf Gould (2001, 91 ff) verwiesen. In diesem Aufsatz finden wir ein schönes Beispiel dafür, wie sich das Anhäufen, Schichten und Ablagern als Denkfigur in der modernen Wissenschaft etabliert und durchsetzt – als etwas Unerhörtes, als Neuerung, als Erfindung.

33 Diese moderne Terminologie kommt uns leicht über die Lippen, aber was ist ein Punkt, an dem wir uns befinden?

34 Nur am Rande sei hier angemerkt, dass unsere moderne Null etwas vollkommen anderes ist als die Null der Inder, die als Platzhalter in einem Stellenwertsystem erscheint, nicht als distinkte Zahl, die zugleich Ausgangspunkt ist (vgl. dazu Ifrah, 417 ff). Während für uns die erste Zahl 0 ist, ist es für vormoderne Mathematik 1. Darum übrigens gibt es kein Jahr 0, sondern nur Jahre 1 vor und nach Christi Geburt. Die Zeitrechnung nach Christi Geburt geht auf das Jahr 525 (eingeführt von Dionysius Exiguus) zurück.

35 In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass das Zinsverbot der religiösen Gesellschaften (Zinsverbote gab und gibt es im Christentum, im Judentum, im Islam, gab es als Ächtung des Wuchers durch die gesamte Antike hindurch) seine Grundlage im materialen Reichtum hatte und dass Geldverleih etwas anderes war als Zinsennehmen. Material gedachte Dinge konnten als solche verliehen werden, da machte es keinen Unterschied aus, ob es ein Mantel war, ein Hammer oder ein Goldstück. Und welche Zinsen wirft ein verborgter Tisch ab? Der Zins war also ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung der Dinge, die nur inhaltlich-konkret und material sein konnten. Zum anderen müssen wir uns vor Augen halten, dass was uns als „Geldverleih“ oder „Kredit“ aus den religiösen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters nach heutigem Verständnis überliefert und beschrieben wird, nichts anderes als eine Beteiligung an einem Unternehmen war. Die „Zinsen“ von fünfzig und mehr Prozent, von denen erzählt wird, waren eben die Anteile aus Gewinn oder Kriegsbeute, die Verluste wurden vom „Gläubiger“ mitgetragen.

36 zit. nach Kurz (2004, S. 57 f; Kurz zitiert nach Karl Marx, Das Kapital, Bd 1, MEW 23, Berlin 1956, 52). Ich verweise hier auf Kurz (und nicht nur auf Marx), weil Kurz gerade in der angesprochenen Aufsatzserie immer wieder Gedanken äußert, die das hier Besprochene ergänzen, illustrieren, ihm nahe kommen oder es vorwegnehmen.

37 Zur Gesellschaft ist in diesem Zusammenhang noch zu betonen, dass es sich nun um den Begriff der Gesellschaftlichkeit der Moderne handelt, der über Nation und Staat hinausweist, der also in der Abfolge von Demokratien, Diktaturen, Präsidialverfassungen, konstitutionellen Monarchien etc. keinen Unterschied macht.

38 An diese Grenze wird immer gestoßen, sei es im Kontakt mit Geistern, sei es bei der Intelligenzforschung an Primaten – was nicht menschlich ist, muss wenigstens in eine Anordnung gebracht werden, die von Menschen geschaffen ist; dann sprechen in beiden Fällen Affen plötzlich mit uns.

39 Bezogen auf die absoluten Zahlen einer geringen Bevölkerung

40 vgl. etwa. http://www.archaeologie-online.de

41 Wir dürfen dies nicht verwechseln mit dem, was uns heute als Fest, etwa Weihnachten, Ostern, Namens- oder Geburtstage daherkommt. Welche Rolle das Verzehren bei den Festen in der Religion, auch in der christlichen spielte, lässt sich heute nur noch erahnen im Schattenbild etwa eines Kirtags. Durant (1952, 393) berichtet uns: „Und am vierzehnten Adara (März) feierten die Juden Purim (,Lose‘) zum Gedenken an die Befreiung ihres Volkes von den Ränken des persischen Ministers Haman durch Esther und Mordechai. Man tauschte Geschenke und Glückwünsche aus und feierte ein weinseliges Freudenfest; an diesem Tag sollte man, wie Rab Raba sagte, trinken, bis man nicht mehr zwischen ,Verflucht sei Haman!‘ und ,Verflucht sei Mordechai!‘ unterscheiden könne.“ An anderer Stelle erzählt er (a. a. O., 453): „In Verordnungen gegen übertriebenen Aufwand verboten die Rabbiner den Veranstaltern solcher Festmähler, mehr als zwanzig Männer, zehn Frauen, fünf Knaben und alle Verwandten bis zur dritten Generation einzuladen.“

42 Petra Haarmann hat mich auf das katastrophische Ende fetischverfasster Gesellschaftlichkeiten aufmerksam gemacht – in einer Diskussionsrunde der Exit-Irren. Wie zitiere ich ein Gespräch? Wie verweise ich auf eine mündliche Quelle? Magische Leute hätten die Regel gewusst.

43 vgl. dazu Tripp, 523 f, den Abschnitt über die Titanen. Besonders interessant ist, dass eine Titanin den Namen Mnemosyne trägt und eine Personifikation des Gedächtnisses ist, was auf eine schriftlose Zeit schließen lässt. Ebenso verdient Beachtung, dass die Titanen mit dem Goldenen Zeitalter, in dem die Menschen frei und ohne Sorgen lebten und nach ihrem Tod Götter wurden, in Verbindung gebracht werden, mit einer Zeit also, in der „per se dabat omnia tellus“, und es ist auch kein Zufall, dass es Ge (oder Gaia) war, die Erde selbst, die aus sich heraus Meer (Pontos), Uranos (Himmel) und Ourea (Gebirge) gebar. Auch die Geschichte der Giganten gehört zu dieser Geschichte von Göttern und Weltaltern, an deren Ende die antiken Gottheiten stehen, die mit den sesshaften Menschen Griechenlands und Roms verwandtschaftlich verbunden sind. Interessant ist hier, dass sich die Schöpfungsgeschichte gar nicht mehr auf die Welt selbst, sondern auf die eigene Geschichte, das eigene Geschlecht, die eigene Ordnung bezieht. 

44 Überhaupt zeigt dieser Versuch Lohoffs bloß, wie es nicht gemacht werden soll, wenn sich eins dieses Themas annimmt. Heißt es im Editorial (das er mit verfasst hat) der Nummer, in der sein Essay erschienen ist, er frage „nach den religiösen Wurzeln des warengesellschaftlichen Weltbezugs und (werde) beim christlichen Gottesverständnis fündig“ (vgl. 8), so behauptet er gleich am Beginn seiner Skizze: „Der Sieg von Ware und Vernunft über den klassischen Glauben fand nämlich innerhalb des Universums magischer Praktiken und magischen Denkens statt und hat es keineswegs gesprengt (vgl. 13; hervorgehoben Lohoff).“ Das nenne ich ein Thema besetzen, nicht behandeln.