Covid 19 – jetzt und danach

je n’étais pas très bon èlève
et je suis mauvais citoyen
mais j’ai ma chambre rue de rêve
et mon bureau rue de copain
Serge Reggiani – Rue de Rêve (Claude Lemesle/Alice Dona)

Ich kann in keiner Weise medizinische Kompetenz für mich beanspruchen. Ich kann aber Kompetenz beanspruchen, wenn es darum geht, unsere gesellschaftlichen Zustände zu beschreiben. Wie das Virus auf diese wirkt, soll hier dargelegt werden.

Das Virus wirkt auf zweierlei Art und auf zweierlei Teile der Gesellschaft; es wirkt auf Herrschende und Beherrschte und es wirkt durch Affirmation und Resignation. Sowohl Affirmation als auch Resignation kommen dabei auf dasselbe heraus: Ja klar, machen wir, weil wir müssen, wegen der staatsbürgerlichen Verantwortung wäre es, oder aber: Kann man ohnehin nichts machen; beides beschränkt sich auf das Anerkennen der herrschenden Zustände.

Dazu kommt allerdings noch eine höchst unsympathische Dimension bei der Affirmation, die  uns immer wieder begegnet und der wir hier nun mehr Aufmerksamkeit einräumen müssen: der Blockwart oder der Hilfssheriff, beide allzeit bereit, ohne allzu viel Reflexion den so genannten Bösewichten unter dem Siegel und mit dem Ausweis der staatlichen Gewalt oder bürtgerlichen Vernunft entgegenzutreten.

Herrschende und Beherrschte wiederum vereint Freiwilligkeit und Voluntarismus; die Regierungen ergreifen dabei die Gelegenheit beim Schopf, ihre Untertanen zurechtzustutzen. Und so zeigen sie sich als wohlwollende Väter, bereit, auch die Zuchtrute einzusetzen, was sie mehr schmerzt als die Geschlagenen; aber es ist die Verantwortung und das Wissen, das sie verpflichtet, entgegen ihrer Liebe, die anderes verlangte. Und eben diese Liebe zwingt sie zu der Repression, die sie uns auf herrschen müssen.

Die Untertanen wiederum ergreifen die Gelegenheit beim Schopf, ihr Gefühl der Verantwortlichkeit für das große Ganze zu demonstrieren und ihre Position als allerbravste Staatsbürger darzutun. Dabei gibt es einen besonderen Witz: Unterstützt du die Maßnahmen, bist du eine brave BürgerIn, weil du die Notwendigkeiten der Gesellschaft unterstützt, ihr das physische Überleben zu gewährleisten; kritisierst du die Maßnahmen, so bist du eine brave BürgerIn, weil du die Verfassung und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft hochhältst und verteidigst. Das eine ist so ehrenwert wie das andere und es sieht nicht so aus, als gäbe es ein Entkommen.

Dieses Entkommen ist klarerweise an einen sozialen Ort gebunden. Dieser Ort hat – wenigstens in der Unterhaltungsindustrie – etwas Magisches, Mystisches, Paradiesisches. Ob es der mediterrane Süden des deutschen Schlagers der 50er Jahre ist, ob das nun das Dryland aus dem Film „Waterworld“ ist oder die Wälder der Bücher lesenden Dissidenten aus „Fahrenheit 451“ oder das Reservat aus dem Roman „Brave New World“, hier als Fluchtpunkt schon denunziert wie Italien, Griechenland oder Spanien, denen die ökonomische Wohltätigkeit des Wirtschaftswunders abgesprochen wird – die Diskussion um den anderen sozialen Ort kennen wir imaginiert aus unserer Popkultur, wie wir genauso aus derselben Popkultur die Katastrophen kennen – von „Contagion“ und „The Day After“ bis zu der Serie der „Planet der Affen“-Filme.

Warum wir an unsere eigenen künstlerischen Hervorbringungen nicht geglaubt haben, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht kann uns die Psychoanalyse mit ihrem Begriff der Angstlust weiterhelfen, wenn wir dies in die gesellschaftskritische Beschreibung unserer sozialen Zustände einbringen. Da drängt sich der Verdacht auf, dass die Katastrophe – wie im Film, wie in der Psychoanalyse – noch immer als individuell besiegbar dargestellt wird, selbst dort, wo sich das Individuum opfert.

Es geht aber nicht um individuelles Heroentum, Überleben oder Siegen. Es stellt sich die Frage des Entkommens auf gemeinschaftlicher Ebene und sie stellt sich jenseits eines wohlfeilen Eskapismus. Da müssen wir uns darüber verständigen, was auf dem Spiel steht. Das ist zuallererst die Frage des physischen, konkreten Kontakts. Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass er unterbunden werden soll (aktuell durch Masken, im Film oder Roman durch heroische Verweigerung der sexuellen Nähe oder deren virulent gewordene Unattraktivität). Wie gesagt, medizinische Gründe dafür kann ich nicht beurteilen. Ich bin selbst nach einer Operation in einem Einzelzimmer des Spitals isoliert gelegen auf Grund eines Infekts, eines Krankenhauskeims, und hab das nicht hinterfragt. Aber ich konnte mich trotz Separation frei bewegen und Besuche bekommen. Bloß einige Restriktionen waren einzuhalten, was auch ohne Probleme geschah.

Aber hier haben wir es mit Kontaktverboten zu tun, die weit über das rein Medizinische hinausreichen. Wir werden damit konfrontiert und darauf vorbereitet, dass diese sogenannten Maßnahmen uns einige Jahre begleiten sollen. Physische Kontakte sollen nur unter bestimmten disziplinierenden Auflagen möglich sein. Dazu zählen räumliche Abstände, die gemeinsames Erleben, etwa bei einem schönen Konzert, gemeinsame Begeisterung, etwa bei einem schönen Goal, gemeinsame Entrüstung, etwa bei einer allgemeinen Zumutung durch Arbeitsverhältnisse, hintangehalten und verunmöglicht oder wenigstens kontrolliert werden sollen. Reisen, um ausländische oder nicht regionale Freundschaften zu pflegen, werden einer – selbstverständlich – freiwilligen Zustimmung zur Überwachung der Verkehrswege unterworfen werden.

Und schon werden in Rundfunk, Fernsehen und Presse Umfragen verbreitet, was sich für Konsequenzen aus der Zeit nach Corona ergeben würden. Oder anders und so schön mit positivem Denken garniert gefragt: Was können wir aus der Coronakrise lernen? Also es wird keine großen Geschäftsreisen mit dem Flugzeug mehr geben, stattdessen machen wir klimaverträgliche Videokonferenzen. Und auch die Großraumbüros können wir vergessen (mitsamt den Mieten dafür), ein jedes bekommt ein home office und muss vom Computer aus arbeiten. Das Problem der Pendlerströme ist damit übrigens ebenso gelöst wie das des gemeinsamen Lästerns über den Chef, die Chefin oder die Dummheit der Aufträge.

Und das ist durchaus ernst gemeint.

Natürlich sollte das keine allzu große Überraschung für uns sein. Immer wieder wurde in Artikeln und Analysen (auch und vor allem von der Linken, lasst es mich so sagen: einer degenerierten Linken) darauf hingewiesen, dass das sogenannte Prekariat ja doch seine klassenkämpferischen Vorzüge hätte: Eigenverantwortlichkeit, die Bewahrung schöpferischen Wissens, das Behalten körperlicher Kompetenz und ähnlicher Stumpfsinn wurde, zum Teil auch von den Prekarisierten selbst, verzapft, nicht zuletzt auch unter Berufung auf den guten alten Karl Marx und seinen Text vom Maschinenfragment.

Ja, es laufen wirklich Intellektuelle wes Geschlechts auch immer umher, oder einfach nur Gebildete, die allen Ernstes verkünden, die Isolation der Leute sei ja der Normalzustand, den sie, die Intelligenzija, tagtäglich am Schreibtisch erfahren, oder die vollmundig in der Qualitätspresse verkünden, die nun erfahrene Repression sei doch eine willkommene Erfahrung, die es erlaube, durch die Gewöhnung daran mit denselben Mitteln der so genannten Klimakrise zu Leibe zu rücken.

Aber eigentlich wollte ich vom Entkommen reden. Paradigmatisch für diese Schwierigkeit ist, wie und was berichtet wird, wenn Leute gegen die Pandemie-Maßnahmen auftreten, sie in Frage stellen, dagegen demonstrieren. Abgesehen davon, dass der Bundeskanzler Kurz sich abweichende Argumente verbittet und deren Verfechter damit abkanzelt, dass er Gott sei Dank auf die richtigen Experten höre, kommen auch sofort die üblichen Diffamierungen und Ehrabschneidungen in Gang und Diskussionen oder Kundgebungen werden in die Nähe von Verschwörungstheorien oder Rechtsextremismus gerückt.

Nun kommt es mir schon recht bekannt vor, dieses Totschlagargument, dieses oder jenes würde von Rechten und Linken (lies: Rechtsradikalen und Linksextremen) unterstützt werden und könne daher ohnehin nur falsch und nicht zu unterstützen sein; anlässlich der Aufmärsche, Demonstrationen und Aktionen der gilets jaunes (nicht zu vergessen die gilettes jaunes) konnte landauf landab davon gelesen werden, dass es sich bloß um eine militante Extremistenbande handle, die da zu Gange wäre – rechts und links vereint im Angriff auf unsere Demokratie. Und Ähnliches wird in Leitartikeln, Kommentaren und Onlineforen und von linken AufklärungsapologetInnen nun denen entgegengehalten, die nicht mit dem Strom der Einschränkungen schwimmen wollen, wenigstens argumentativ nicht.

In zivilisierter Form hat Hannah Arendt mit ihrer Theorie totalitärer Herrschaft diese Gleichsetzung von rechts und links betrieben und salonfähig gemacht. Hier möchte ich mit einigen, vielleicht ketzerischen, Überlegungen einsetzen; zunächst mit der Reminiszenz persönlicher Erfahrungen, auch wenn ich ein vehementer Gegner von oral history bin. In den Jahren rund um 1968 und knapp danach war alles und jede auf die Gesellschaft bezogene Äußerung links. Oder anarchistisch. Oder sozialistisch. Oder kommunistisch. Egal. Es musste dazu Bandiera rossa gesungen werden oder Marche de Saccho et Vanzetti. Dieses rote Mäntelchen hingen sich auch jene um, die bald damit nichts mehr zu tun haben, aber sich Gehör verschaffen wollten. Selbst die bravsten KatholikInnen, eben noch in Jungschar oder Katholischer Hochschulgemeinde herangezüchtet, übten sich in s Linkssein ein und trugen ihre Heroen vor sich her: von Dom Helder Câmara bis Ernesto Cardenal.

War nun auch hier diese Gleichsetzung von rechts und links – quasi unbemerkt – geschehen? Und war die Parole: „Wir sind das Volk“, nicht auch vom katholischen Kirchenvolk verwendet worden, um gegen vatikanisch-hierarchische Zumutungen sich aufzulehnen?

Egal. Ich will noch eine Erinnerung abrufen: eine Demonstration vor der US-amerikanischen Botschaft in Wien wegen einer Bombardierung der Städte Tripolis und Bengasi durch militärische Kräfte der USA. Es war 1986. Plötzlich wurde gerufen: „Ho Ho Ho Chi Minh“. Es sollte völlig klar sein, was da passiert ist. Die einzig mögliche Provokation gegen die Vereinigten Staaten wurde vorgebracht. Kann es nicht sein, dass die Behauptung, jemand sei das Volk, mit einem ähnlich provokativen Inhalt aufgeladen ist? Und ist es nicht eine verständliche Antwort auf diese Provokation, sie herabzuwürdigen, indem sie Faschisten zugerechnet wird? Auch wenn dieses Motto gerne hochgehalten und verehrend beschworen wurde, wenn es gegen die realsozialistische Herrschaft vorgebracht wurde?

Ich möchte nicht beschwören, dass bei dieser Demonstration gegen die USA wegen des Bombardements in Libyen keine rechten antiamerikanischen Nationalisten dabei waren, die einen Vorwand für die Ausbreitung ihrer kulturpessimistischen und bornierten und faschistischen Ansichten gesehen hatten, auch wenn sie vielleicht die Rufe ehemaliger VietnamkriegsgegnerInnen als allzu links einschätzten. Aber ich bin heute vorsichtig, jemanden wegen der Behauptung, er sei das Volk oder wenigstens sein Repräsentant, zu verurteilen.

Und gehen wir doch ein paar Schritte zurück. Als Abbé Sièyes in seinem berühmten Pamphlet die Frage stellte, was denn nun der Dritte Stand sei, und zur Antwort gefunden hatte, er sei die Nation, da hatte er alle vorher gültigen gesellschaftlichen Kategorien aufgegeben und aufgehoben und zu einer neuen gefunden. Könnte es nun heute nicht ähnlich sein? Die neue Einheit des Abbé hielt nicht lange vor, die grande terreur suchte recht schnell die Böcke von den Schafen zu trennen, aber nun auf der Grundlage der nation und der citoyenneté. So weit sind wir noch nicht. Noch überlegen wir, als Nation, was wir mit dem König denn anfangen sollen. Noch glauben wir, mit der Parole, wir seien das Volk, könnten wir aufbegehren.

Auch wenn das nicht stimmen wird.

Wir müssen aber, wie der Abbé, eine neue Gemeinsamkeit konstruieren, nicht auf einer alten hocken bleiben. Ich habe es oben schon angedeutet: Mit einer Stellungnahme zu den Maßnahmen sind wir immer gefangen im Vorgegebenen. Wenn es aber an s Eingemachte geht, dann geht es um den Kontakt, nicht um dessen Verbot. Es geht darum, das Verbot zu ignorieren und den Kontakt zu behalten. Und da müssen wir uns darüber klar werden, dass wir schon früher begonnen haben, den Kontakt aufzugeben, ohne Verbot, aber in Übereinstimmung mit der Herrschaft, die das selbst so noch nicht einmal realisiert oder gefordert hatte. Der Markt allein hatte schon dafür gesorgt.

Ich rede jetzt von Türen und Händetrocknern in öffentlichen Gebäuden. Die Türen gehen von selbst auf, ebenso betätigen Sensoren in den Bedürfnisanstalten bei Annäherung der Hände sowohl die Wasserhähne (ohne uns die Möglichkeit zu geben, die gewünschte Temperatur zu regeln) als auch die Trocknergebläse; dies alles unter dem Vorwand erhöhter Hygiene, die jede keimübertragende Berührung vermeiden soll. Als Sicherheit und körperliche Unversehrtheit wird die Vermeidung von Körperkontakten gesehen; körperliche Interaktion zwischen Leuten, ohne dass sie kontrolliert und abgesegnet wäre, wird zum Krisenfall. Das betrifft noch gar nicht Selbstzensur, political correctness oder die staatsbürgerliche Pflichterfüllung im Umgang miteinander.

Körperliche Sicherheit setzt vielmehr voraus, dass die Körper entsprechend genormt und angepasst werden, nicht nur durch Vorschriften für Aussehen und Kleidung. Ein typisches Beispiel ist eine Werbung für Kindernahrung oder sonst irgendetwas Gesundes, die ich lange Zeit vor Corona im Fernsehen bemerkte: Eine Mutter, die selbstverständlich nur das Beste für ihr Kind will, macht sich Sorgen. Das Baby ist zum Kleinkind herangewachsen und kommt bald in den Kindergarten. Dort aber – oh Graus – wird es mit anderen Kindern zusammenkommen, die dann allerlei Keime verbreiten. Des Problems Lösung: die angebotene gesunde vorbeugende Ware, die die Mutter kaufen und das Kind einnehmen wird. Und in dem Clip wird das Kind auf einmal unter einem virtuellen Schutzmantel gegenüber den anderen Kindern gezeigt, so wie wir es aus SciFi-Filmen kennen, wenn der Energieschirm über dem Raumschiff ausgefahren wird und die Angriffe der Aliens verunmöglicht werden.

Mochte dieser Werbespot vor vier, fünf Jahren noch beinahe, aber eben nur beinahe, als etwas übertrieben erscheinen, so lässt sich die körperliche Zurichtung als soziale Kontrolle nicht mehr unsichtbar machen in einer Zeit, in der den Kindern der Kindergartenbesuch verwehrt wird und im Fernsehen zu erfahren ist, dass eine Kollegin des nun überall anwesenden Dr. Drosten, Virologin wie er, schon seit einigen Jahren das Händeschütteln nicht mehr ausübt. Ganz offensichtlich ist etwas mit den Körpern, mit der Körperlichkeit geschehen, und zwar etwas höchst Paradoxes. Körper dienen nicht mehr dem Kontakt, sondern gelten im Gegenteil als gefährlich. Körperliche Nähe ist mit Bedrohung gleichzusetzen, das Erfahren oder Gewähren körperlicher Nähe ist streng reglementiert: nach politischen, kommerziellen oder sozialen Gegebenheiten und klarerweise auch wissenschaftlich begleitet.

Offenbar ist die körperliche Bedrohung als ideologisches Stereotyp wieder zurückgekehrt (oder war nie verschwunden). Zwar hatten die mitteleuropäischen Zustände es uns erlaubt, einige Jahrzehnte in einem scheinbaren Frieden zu verbringen, der es mit sich brachte, dass körperliche Auseinandersetzung aus den staatsbürgerlichen Verhaltensprogrammen verschwunden ist; gewaltlose rationale Konfliktbewältigung wurde aller Orten zum pädagogischen Standard, was auch als demokratische Bauernfängerei und Augenauswischen demaskiert werden kann. Durchsetzen in der Konkurrenz wird nach wie vor als staatsbürgerlich korrekt und demokratisch legitimiert angesehen. Überlegenheit, die ohne fliegende Fäuste daherkommt und sich durch rhetorische Tricks durchsetzt (deren Gewaltpotenzial ohnehin nie zur Disposition gestellt wird), hat das Problem der Legitimierung von konkurrenten Ansprüchen ja keinesfalls aus der Welt geschafft, und dass sich die Minderheit der Mehrheit ohne Ausgleich der beiden Positionen beugen muss, ist Standard bürgerlichen Vernunftregimes.

Aber das alles hat nur bedeutet, dass die unmittelbar angedrohte oder imaginierte körperliche Gewalt eines vorgeblichen Naturzustands, in dem der Mensch dem Menschen ein böser Wolf sei (die eleganten Tiere mögen diesen Unfug verzeihen, so sie ihn erkennen), verschoben ist; aufgehoben in der Staatsgewalt, wie uns Hobbes weismachen will. Aber Demokratie und bürgerliche Selbstbeherrschung wären nicht vollständig, wenn wir körperliche Bedrohung nicht nur verschoben, sondern auch von den Menschen selbst abgekoppelt hätten. Und so nehmen wir nicht mehr den Staat als Träger der Gewalt körperlicher Bedrohung wahr, sondern die Natur selbst, die bekanntermaßen immer dann zurückschlägt, wenn wir uns nicht vernünftig verhalten.

Die zivilisierte Gesellschaft ist also eigentlich friedlich und gewaltlos; es ist die Natur (nun in Form eines Virus), die uns bedroht, der wir, wie Kant es fordert, auf dem Streckbett der Wissenschaft ihre Geheimnisse entreißen müssen, um unsere Friedlichkeit aufrecht erhalten zu können. Das mag vernünftig klingen, solange wir uns darauf verständigen, dass unserer Vernunft kein Ende gesetzt ist. Das Problem ist allerdings, dass durch die finale Tatsache des Tods dem „kein Ende“ ein Ende gesetzt ist. Und so ist in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen der Tod nicht mehr ein Innehalten vor der Ewigkeit, sondern ein skandalöses Unterbrechen des andauernden Fests des Lebens, wenigstens solange, bis der jeweils aktuelle Leichnam entsorgt ist, möglicherweise schon bevor der Tod eingetreten ist.

Das hat mit der momentanen Seuche insofern zu tun, als nun höchst paradoxe Äußerungen an uns herangetragen werden; nämlich dass wir angesichts der grassierenden Krankheit diejenigen schützen müssen, die am meistens bedroht sind. Und uns wird nun erklärt, dass dies diejenigen seien, die am Ende ihres Lebens stehen, die, die über achtzig Jahre alt seien, die, die schon von Krankheiten gezeichnet seien, die, die also immer so genannte Risikopatienten sind, welches Virus auch gerade umgeht. Ich will mich nicht im Zynismus verlieren, der meint, alle müssten irgendwann sterben, und der vor dieser Tatsache die Trauer um den Verlust, sei er auch vorhersehbar, nicht beachten oder nur verachten will.

Aber vor einem sollten wir nicht die Augen verschließen. Der Umgang, den wir mit dem Tod pflegen – richtiger: nicht pflegen –, beschränkt sich darauf, ihn zwar irgendwie und en passant zur Kenntnis zu nehmen, aber aus unserem Leben zu verbannen und der Wissenschaft zu überantworten. Und für die gilt hier das eine, das Leben zu erhalten. Es geht nicht einmal so sehr darum, es zu verlängern. Das ließe sich noch argumentieren, wenn in Rechnung gestellt werden könnte, dass dieses verlängerte Leben auch lebenswert wäre. Aber Leben zu erhalten, ohne dessen lebenswerte, freudvolle, zufriedene Inhalte zu berücksichtigen, stößt an die Hybris von ewigem Leben.

Wir kennen das natürlich wieder aus dem, das wir Trivialliteratur nennen (benannt nach dem trivium der sieben freien Künste: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, also dem formal richtigen, inhaltlich richtigen und dem verständlichen Reden); die SF-Literatur konfrontiert uns immer wieder mit dieser Art von unendlichem (nicht ewigem) Leben: Es wimmelt von Prothetik und Genetik, chirurgischen Transplantationen und Überführungen der Persönlichkeit in s Internet, nach dem der Körper seinen Geist aufgegeben hat (von John Brunner bis zum Cyberpunk). Und nun erweckt der verordnete Umgang mit den Älteren unter uns bei mir Assoziationen an diese literarischen Diskurse. Zumindest kurzfristig wird so getan, als wären unsere Alten unsterblich und nur Corona Virus Disease 19 könnte skandalöserweise deren Leben ein Ende setzen.

Allerdings ist dieser Diskurs kein literarischer oder philosophischer, sondern wird uns als wissenschaftliches Resümee und unsere persönliche Verantwortung vorgetragen. Ist der Tod erst einmal aus der so genannten Coronakrise herausgeschwindelt, aber auf unsere Verantwortung im Umgang mit sozialen Distanzen zurückgeworfen, soll diese unsere Verantwortlichkeit mit wissenschaftlichen Argumenten gestützt werden. Die Wissenschaft kommt aber dabei zu ihrem eigenen Nachteil höchst unvorteilhaft davon. Rekapitulieren wir: Bei Wissenschaft geht es nie darum, dass Wahrheiten entdeckt werden – was immer auch Kant dazu sagt. Es geht nur um das Etablieren praktikabler Theorien. Sie müssen funktionieren und solange sie anwendbar sind, gelten sie. Nehmen wir ein altbekanntes, gut abgehangenes Beispiel. Die Theorie der Schwerkraft von Newton war gültig und praktikabel, solange sie in einem bestimmten Universum angewandt wurde. Solange ist auch Newtons Apfel auf dem kürzesten Weg Richtung Erdmittelpunkt vom Baum gefallen. Einstein hat in einem anderen (demselben) Universum eine elegantere Erklärung gefunden, die für die Erklärung der Schwerkraft in dieser Welt praktikabler ist.

Nun müssen wir aber von diesen Abschweifungen zurückkommen zu den Zumutungen, die wir von unseren Regierungen – also auch von uns selbst letzten Endes – erfahren; von uns selbst, weil wir ja unsere Herrschaft als Selbstherrschaft, als Selbstbeherrschung betrachten und in Leserbriefen und in Forumbeiträgen im Internet und vor Fernsehkameras mit den dazugehörigen vor die Nase gehaltenen Mikrophonen immer wieder betonen, dass wir ja die wirklichen Souveräne wären (und solange wir uns unsere Gesellschaft so erklären, stimmt das sogar).

Jedenfalls beruft sich unsere Regierung, von der wir glauben, dass wir sie gewählt haben, auf Experten, also auf wissenschaftlichen Beirat, um sich für die Maßnahmen, die sie uns aufherrscht, zu legitimieren. Jetzt widerspricht das aber dem, das ich vorher über Wissenschaft gesagt habe, eklatant. Wissenschaft kann nie zu feststehenden Ergebnissen kommen, es ist im Gegenteil Zeichen von wissenschaftlichem Herangehen, dass mehrere Meinungen (ist gleich Theorien) nebeneinander bestehen können, auch wenn bloß eine zur Anwendung kommt, weil sie gerade in ihrem Bereich funktioniert. Und immer wieder hören wir von medizinischen WissenschaftlerInnen, dass valide Zahlen zur Einschätzung der Wirksamkeit divergierender Maßnahmen gegen die Coronakrankheit frühestens in einem oder in zwei Jahren vorliegen.

Sich auf diverse wissenschaftliche Behauptungen in einem Diskurs zu stützen, ist Politik, nicht Wissenschaft; allerdings haben wir es momentan mit einer Politik zu tun, die ihre Verantwortung nicht übernimmt und stattdessen die Wissenschaft vorschützt. Natürlich muss Politik um Eindeutigkeit bemüht sein, allerdings um den Preis, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wenn unser junger Bundeskanzler diese Rechenschaft ablehnt, weil er meint, es handle sich bloß um juristische Spitzfindigkeiten, und gleichzeitig vollmundig erklärt, er höre auf die richtigen Experten, verlässt er den schwankenden Boden der bürgerlichen demokratischen Gepflogenheiten und der wissenschaftlichen Unsicherheit und begibt sich auf den sicheren Grund autoritärer Gewalt und Herrschaft.

Die Erfahrungen mit der Politik bürgerlicher Herrschaft und deren Regierungen in der Corona-Krise erlaubt nun, unter Einbeziehung dieser früheren Betrachtungen, ein recht schlimmes Szenario zu zeichnen. Körperliche Nähe und öffentliches Zusammenkommen war und ist für jede Regierung ein Anlass, darauf mit scheelen Augen zu blicken und mit einem entsprechenden Reglement zu reagieren. Wir wissen das seit dem Vormärz und dem Biedermeier und der Name Metternich ist in diesem Zusammenhang in die politische Folklore eingegangen. Aber auch über den Neoabsolutismus vergangener Zeiten hinaus ist das Regime, das Zusammenkünfte ordnet und anleitet, nichts Unbekanntes und uns in Fleisch und Blut, wenn nicht übergegangen, so doch daran haftend.

Wenn wir lesen, dass die Anbahnung intimer Kontakte in Schweden eine Sache der Einhaltung eigens dafür geschaffener Gesetze geworden ist, dann kommen uns die nun aktuellen Maßnahmen gar nicht mehr so weit hergeholt vor. Und wie beim schwedischen Gesetz geht es nur um unser aller Bestes, auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Fortschritt. War es dort der Feminismus, dem zum Durchbruch verholfen werden sollte, so droht nun die so genannte Klimakatastrophe. Und schon können wir hören und lesen, dass mit den eben erfahrenen repressiven Maßnahmen, an die wir uns ja recht schnell gewöhnt haben und die wir im Namen von Natur, Vernunft und Menschheit so bereitwillig akzeptiert haben, auch der Reparatur des Klimas zu Leibe gerückt werden soll.

Während solches bei dem Theoretiker des Verzichts- und Kasernenhofsozialismus Ulrich Brand in der Tageszeitung „Der Standard“ (21. März 2020, Kommentar der anderen) zu lesen ist, erklären uns verschiedene Mediziner, dass die Maßnahmen erst zurückgenommen werden können, wenn es Medikament und Impfstoff gibt – und das bei einem Virus, von dem verschiedene Mutationen bekannt sind. Welche wird uns befallen, wenn ein Impfstoff für die aktuelle Mutation auf dem Markt ist? Aber, wie gesagt, mir fehlt medizinische Kompetenz und vielleicht schreibe ich hier Unsinn. Dennoch ist die in Aussicht gestellte Verlängerung und Verklärung des Ausnahmezustands da wie dort in ihrer Parallelität erschreckend.

Aber auch wenn Klima und Virus nicht als Vorwand und Argumentationshilfe dienen, ist die Aufrechterhaltung von Notstandsmaßnahmen durchaus mit der Logik von Herrschaft vereinbar und braucht nicht unbedingt einen äußeren Anlass. Und die Überführung in geltendes Recht durch das Streichen zeitlicher Befristungen sollte kein Problem darstellen – doch, wie gesagt, bin ich auch kein juristischer Fachmann. Dass aber einschränkende Maßnahmen weit über ihren Anlass hinaus verlängert werden können, zeigt etwa die Geschichte des so genannten Radikalenerlasses aus der BRD des Deutschen Herbsts. Für die Aufnahme in den Staatsdienst (was hauptsächlich Schul- und HochschullehrerInnen betraf) wurde ab Februar 1972 von Bund und Ländern eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt, in deren Folge Nichteinstellungen bzw. Kündigungen ausgesprochen wurden.

Der Erlass wurde bundesweit 1979 aufgehoben, aber von den Ländern weiter angewandt, in Bayern bis 1991. Und länderspezifische Anpassungen zu den Regelanfragen bestehen noch immer. In Bayern etwa müssen von BewerberInnen für den Staatsdienst noch immer Fragebögen ausgefüllt werden, in denen die Nichtmitgliedschaft in einer extremistischen oder extremistisch beeinflussten Organisation erklärt werden muss, nun ergänzt um Al Qaida oder Ähnliches und um die Mitarbeit in der StaSi. Und dass die Rasterfahndung und in der Folge die Schleierfahndung, also ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht zu stellen und sie entsprechend zu überprüfen, nach wie vor möglich ist, erzählt viel von derartigen Maßnahmen, verfassungsrechtliche Bedenken hin oder her.

Aber zurück in unsere Zukunft: Wir haben uns an die Zumutungen gewöhnt, wir rationalisieren sie, wir denken, es werde schon alles wieder normal werden. Wir halten uns an der Überzeugung fest, dass vieles vor dem Verfassungsgerichtshof nicht standhält. Derweilen lassen wir uns mit Verbesserungen vertrösten und mit der Verantwortung für das große Ganze. „Neue Normalität“ wird ebenso als Wortungetüm akzeptiert werden wie der Neusprech von der Solidarität, die wir ausüben, indem wir einander fernbleiben. Wir werden ökonomischen Verfall und Einkommensverluste hinnehmen und dies dem Virus in die Schuhe schieben, ohne die Frage zu stellen, ob nicht auch ohne Pandemie unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung zu denselben Ergebnissen führen muss.

Wir werden als Eigenverantwortung, die wir geflissentlich ausüben, den Gehorsam gegenüber staatlichen Maßnahmen definieren und uns nicht lange mit der Frage aufhalten, ob nicht die autonome, kompetente Pflege schlichter bürgerlicher Höflichkeit genügt, um im Umgang mit anderen Leuten diese vor Ansteckung und Gefährdung zu schützen. Wir werden – mit oder ohne EU-Corona-App – Kontrollen an den Grenzen wieder akzeptieren, wir werden Grenzen wieder akzeptieren, wir werden die Vereinzelung akzeptieren.

Wir werden jede Schönfärberei akzeptieren, die uns die Pille versüßen wird: Die Luft wird besser, die Städte sind nicht so überfüllt, mit Autos nicht und mit TouristInnen nicht, die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz ist aufgehoben (freut euch doch, auch die Bürokratie von Arbeit„nehmer“schutz und Arbeitsplatzhygiene kann abgebaut werden und die Arbeit„geber“ kann man von so genannten Lohnnebenkosten entlasten oder es kann die Kontrolle des privaten Bereichs rund um das home office ausgebaut werden, je nach Bedarf), wir werden das Kind mit dem Bad ausgießen, wenn wir nur noch ausgesuchte Urlaubsreisende aus ausgesuchten Ländern aufnehmen und uns gleichzeitig mit internationalen Kontakten verdächtig machen (klingt zwar ein wenig nach Ostblocktourismus, aber was macht das schon). Aber auch mit nationalen und regionalen Kontakten werden wir uns verdächtig machen. Wir werden uns überhaupt mit Kontakten verdächtig machen.

Vor allem werden wir uns verdächtig machen, wenn wir von anderem als dem SARS-Corona-Virus 19 sprechen. In diesem Sinne: Wir bestimmen die Themen, nicht das Virus, nicht die Regierung, nicht die WHO. Bis bald!