Die Gesellschaft und ihre Krise – Corona

je n’étais pas très bon èlève
et je suis mauvais citoyen
mais j’ai ma chambre rue de rêve
et mon bureau rue de copain
Serge Reggiani – Rue de Rêve (Claude Lemesle/Alice Dona)

Krisen bringen in unserer Gesellschaft ihre Strukturen zu erhöhter Kenntlichkeit; einerseits, weil diese Strukturen durch Krisen angegriffen werden, andererseits, weil diese Strukturen bemüht werden, um der Krise entgegenzutreten und sie zu überwinden.

Unsere Gesellschaft wiederum ist durch eine sonderbare, höchst paradoxe Gesellschaftlichkeit gekennzeichnet, nämlich dadurch, dass sie von den Handlungen und Aktivitäten Einzelner ausgeht, die zusammengenommen die Wohlfahrt aller bewirken sollen, aber zunächst nur die Wohlfahrt der Einzelnen zum Inhalt haben. Was uns mit bauernschlauer Weisheit erzählt wird, dass es nämlich allen gut gehe, wenn es der Wirtschaft gut gehe, hat 1776 in The Wealth of Nations Adam Smith so gefasst:

Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die eigene nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.

Im selben Jahr hat in ähnlicher Weise die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika den Einzelnen in das Zentrum politischer und gesellschaftlicher Ideologie gestellt. In der deutschen Übersetzung aus dem Pennsylvanischer Staatsboten liest sich das so:

Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.

Das Glück ist also Angelegenheit eines jeden Menschen mit seiner Unternehmung. Ist ein Mensch nicht glücklich, so ist er selbst schuld, weil er sein Recht nicht wahrgenommen oder ihm Geltung verschafft hat. Und dieses Recht ist auch nicht das Recht auf Glück, sondern bloß das Recht auf Streben nach Glück. Dieses Streben ist nun Recht und dieses Recht ist unveräußerlich. Niemand kann es abtreten oder delegieren oder sich des Rechts entschlagen. Das ist ein völlig neuer Ton im späten 18. Jahrhundert, der nun jedes einzelne Menschenwesen ermächtigt, für sein Glück zu sorgen. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, werden Goethes Engel 1831 über Faust sagen.

Davor schauen wir aber noch ins Jahr 1785. In seinem Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert Kant seinen Kategorischen Imperativ, der ebenso berühmt und ebenso wichtig für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft werden soll. Er lautet in seiner so genannten Grundformel folgendermaßen:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Während also die Unabhängigkeitserklärung noch von allen Menschen ausgeht, die zum Streben nach Glück berechtigt sind, geht der Kategorische Imperativ von der Verpflichtung der Einzelnen aus, ihr Handeln so einzurichten, dass es gesellschaftlich gültig werden kann. Hier haben wir es nicht mehr mit einem – angeborenen, vom Schöpfer gegebenen – Recht zu tun, sondern mit einer Verpflichtung. Kant stellt die eigene verantwortungsvolle Anwendung der Vernunft alternativlos in Rechnung. Immerhin heißt es ja Imperativ; es handelt sich um einen Befehl und nicht um einen Vorschlag, dem man nachkommt oder auch nicht. Bei Kant ist daher der handelnde Mensch der Anstrengung ausgesetzt, seine Maximen mit Vernunftgründen rechtfertigen zu müssen.

Wie aber muss ein einzelnes Wesen beschaffen sein, dass auf diese widersprüchlichen Arten Glück, Fortschritt und Gesellschaftlichkeit aller durch sein solitäres Wirken, seine Unternehmungen und durch seine ihm zugeschriebenen Rechte zu Stande bringen soll? Zunächst muss sich dieses handelnde Individuum als Subjekt konstituieren, also den Forderungen der Gesellschaft sich beugen. Anders gesagt, es muss sich emanzipieren. Es muss die Rechte, die ihm zugeschrieben werden, akzeptieren, aber nicht nur das, es muss sich diese Rechte auch erringen, sei es nun mit ihnen vom Schöpfer begabt oder seien sie im Prozess des Heraustretens aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ angeeignet worden. In jedem Fall ist das zum Subjekt gewordene Individuum nun einer Herrschaft unterworfen, die als Beherrschung seines Metiers und seiner selbst aufgefasst werden muss.

Dem entspricht auf der Ebene der Gesellschaftlichkeit, dass die Selbstbeherrschung durch das politische Wirken gewählter Repräsentanten ebenso gewährleistet werden kann wie auch einfach durch die Anerkennung usurpierter politischer Macht, die natürlich – mit vernünftigen Gründen und unter Berufung auf die begabten Rechte, auf die Menschenrechte eben – auch gestürzt werden kann, um neuer Selbstbeherrschung Platz zu machen. Das Diktum Churchills, Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind, wird zu der Kalenderweisheit, es sei der Vorzug der Demokratie, dass der Regimewechsel eben unblutig vor sich gehe und institutionalisiert sei.

Das bedeutet natürlich nichts anderes, als dass sich an der Herrschaft ohnehin nichts ändert, wer auch immer sie gerade in unserer Gesellschaft und für sie ausübt. Paradigmatisch zeigt sich dieses Verhältnis dort, wo unsere aufgeklärten Kreise, die dazu auch über die imperialistische (also ökonomische und politische) Macht über andere, vormals direkt kommandierte Länder, verfügen, in eine formale Demokratie der Dritten Welt hineinregieren und einen Regimewechsel, der ohnehin nichts nutzt, mit einem Friedensnobelpreis nobilitieren. Erinnert sei an Willy Brandt, Henry Kissinger und Le Duc Tho, Anwar es-Sadat und Menachem Begin, Lech Wałęsa oder die Friedenstruppen der UN, aber auch an Aung San Suu Kyi, Nelson Mandela und Jassir Arafat.

Wo sich aber nichts ändern darf, dennoch Handeln auf der Grundlage der Emanzipation gefordert und als gesellschaftliche Tugend betrachtet wird, kann dieses Handeln nur als Konkurrenz gesehen werden, wie es auch bei den Regimewechseln geschieht. Doch halt – es hätte sich bei einem Regimewechsel nichts zu ändern? Klarerweise ist konkurrentes Handeln darauf ausgerichtet, die anderen, gleichermaßen und gleicherweise Handelnden auszustechen und den Wettbewerb für sich zu entscheiden. Das bedeutet, dass Konkurrenz nach Konkurrenzlosigkeit strebt und ein gesellschaftlicher Zustand postuliert werden kann, der zwar immer wieder als errungen angesehen, aber letztlich auch an der immer wieder weiter andauernden Konkurrenz Lügen gestraft wird.

Auch dies, das Ziel der Konkurrenzlosigkeit, das die bürgerliche Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt, ist ein ideologischer Topos, der seit den Jahrhunderten der Aufklärung und des Modernen Ensembles wohl bekannt ist: von Schillers Antrittsvorlesung über Universalgeschichte über Hegels Loblied auf den preußischen Staat bis zu Fukuyamas Ende der Geschichte. Aber daneben hat sich noch ein anderer topos aufgebaut: der der Veränderung. Die klassische Formulierung hat uns Marx in der 11. These zu Feuerbach mit dem berühmten „ö“ vermacht:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.

Jedenfalls hat sich die gesellschaftliche, politische Linke seit den Tagen der großen bürgerlichen Revolutionen dieser Veränderung verschrieben. Aber ach, diese Veränderung war wieder nur an ein Subjekt gebunden, das dem Unabänderlichen in dieser unserer Gesellschaft entspricht. Hatten marxistische Revolutionäre diese Veränderung noch ein an revolutionäres Subjekt gebunden, das sie mit einer empirischen Industriearbeiterklasse  ineins setzten (und dabei den Begriff des Proletariats, wie ihn Marx verstanden hatte, aufgaben), so hat sich der Marxismus mit all seiner Emphase von Veränderung heute auf die Universitäten und Akademien zurückgezogen und den Bezug auf ein revolutionäres Subjekt aufgegeben.

Und was wir an diesem neuen Ort des Marxismus erleben, ist ein Wiederaufleben des kategorischen Imperativs: Es werden Maximen formuliert, von denen gewünscht wird, dass sie allgemeines Gesetz werden sollen– mögen sie sich nun auf das Problem der klimatischen Veränderungen in der Atmosphäre oder im Geschlechterverhältnis beziehen. Das Problem der gesellschaftlichen Linken, die ich – nostalgisch und stur – noch immer als marxistisch sehen möchte (wenn auch mit freundlichem Anarchismus gewürzt, so wie Salz und Pfeffer und Honig auch Bitterstoffe zu jeder Speise gehören), ist aber, dass sie den Schemen des revolutionären Subjekts aufgegeben haben, wohl auch in Anerkenntnis der historischen Entwicklung und politischen Ziele, die für die empirische Industriearbeiterklasse nie anderes bereit hielten als Wohlstand und Nationalstaat (beides auf Kosten Ärmerer, der Kolonien und unterdrückten Populationen in der Dritten Welt).

Übrigens sehen die noch revolutionär agierenden Subjekte eben dieser Dritten Welt in ihren Befreiungskämpfen, fußen sie nun ideologisch auf Marx oder Muhammad, auch nichts anderes als Wohlstand und Nationalstaat als ihre Ziele. Wenn sich die metropolitane Linke nun von den empirischen Subjekten, denen sie eine Art gesellschaftlicher Veränderung (im unausgesprochenen Sinn von Überwindung der herrschenden Beschränkungen und Verhältnisse) zugetraut oder aufgebürdet hatte, entfernt und sich im akademischen und universitären Bereich von Politik abwendet und der Politologie zuwendet, gibt sie die Frage der Machtergreifung und der gesellschaftlichen Gewalt, die sie zu Gunsten ihrer Ziele militant einsetzten sollte, auf und ersetzt sie durch die Frage der Durchsetzung von Vernunft, verkürzt auf Gesinnung und Tugend, durch die moralische Kraft der Aufklärung.

Das gerät dann zur Karikatur, wenn beispielweise in der Frage der Geschlechterverhältnisse Binnen-I, Sternchen oder Underscore in der geschriebenen Sprache zum Gegenstand ausführlicher Diskussionen und Grund für Ausschlüsse aus sozialen Zusammenhängen werden und nicht die Frage realer Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, die sich in institutionalisierter (unbezahlte und ungeschätzte Arbeit) und individualisierter Gewalt (Familienverhältnisse) niederschlagen. Ebenso wird ein Verzichtssozialismus zum vorherrschenden Paradigma angesichts der Verelendung der Dritten Welt (landgrabbing, ein verharmlosender Begriff) und des Klimawandels, ohne die Frage nach gesellschaftlichem Reichtum auf der Basis von Überfluss zu diskutieren. Und dieser Überfluss ist nicht einmal eine Schimäre, sondern empirisch fassbar und existent! Gutes reiches Leben aber wird von unserer Linken nicht diskutiert, sondern eingeschränktes Leben im Hinblick auf ein abstraktes (?), moralisches (?), vernünftiges (?) Ziel eines Kategorischen Imperativs.

Womit wir bei Corona Virus Disease 19 wären.

Eine Linke, die die Frage der ausübenden Macht und der aneignenden Gewalt der Frage der Vernunft und der Gesinnung opfert, steht einer Situation hilflos gegenüber, in der eine Herrschaft (die ja ohnehin durch gesellschaftlichen Konsens und linke Zustimmung auf die eine oder andere Art legitimiert ist – niemand kann sich in unserer Linken heutigentags einen gewaltsamen Umsturz gegenüber einer Regierung wie der unseres Kindkanzlers vorstellen) den Vorwand einer Krankheit, die pandemische Züge annehmen mag, ausnutzt, um herrschaftliche Instrumente auszuprobieren und zu sehen, wie weit sie dabei gehen kann.

Ohne hier auf Vorwürfe einzugehen, die der regierenden Herrschaft durchaus gemacht werden müssten bis hin zum Vorwurf faschistischer Einschränkungen der Menschenrechte, möchte ich hier auf die Vorwürfe eingehen, die uns selbst, also der Linken, gemacht werden müssen.

Nehmen wir als ein Paradigma das immer wieder vorgetragene Diktum, wir müssten die am meisten vulnerablen Mitglieder unseres Gemeinwesens schützen, also Leute, die älter als 75 Jahre sind, mit Erkrankungen und gesundheitlichen Einschränkungen geschlagen und ohnehin schon aus den gesellschaftlichen Beziehungen größtenteils herausgenommen und in Heime und Pflegestätten übersiedelt wurden. Nun ist unsere Gesellschaft durch Mitglieder definiert und konstituiert, die gesellschaftlich aktiv und individuell unternehmerisch tätig sind. Leute, die unter uns leben, dies aber nicht gewährleisten, anders gesagt nicht weiß, männlich und erwachsen sind, sondern zugewandert, weiblich, noch nicht erwachsen oder schon greis, machen sich daher verdächtig und müssen ihren sozial minderwertigen Status kompensieren oder rechtfertigen.

Kinder müssen in der Schule gute Leistungen erbringen (also sich in Konkurrenz einüben), Alte sollten sich in der Betreuung des hoffungsvollen Nachwuchses verausgaben oder ihm ihre finanziellen Ressourcen opfern, karitativ oder gemeinnützig tätig werden oder sonstwie versuchen, die Kosten, die das Gemeinwesen für sie ausgibt, zu ersetzen, und sei es nur durch schlechtes Gewissen und ungewolltes Annehmen der Angebote von Animateurinnen und Sozialbetreuern in den Heimen. Und heutigentags müssen sie in die Rolle der besonders Gefährdeten und besonders Schützenswerten schlüpfen, entgegen aller medizinischen und sozialen Faktizität, sind wir doch alle ab einem gewissen Alter mit einem baldigen Ableben konfrontiert und somit „besonders vulnerabel“, wie es unser Kindkanzler so schön formuliert.

Diese „Vulnerablen“ müssen nun ihre eigenen Bedürfnisse aufgeben, zum Beispiel häufig besucht zu werden und so aus den Rollstühlen heraus den Kontakt zur Welt noch zu erhalten oder ihre Erfahrungen und Erlebnisse an verwandte Jüngere oder Unverwandte weiterzugeben und ihr Leben dadurch mit Bedeutung zu füllen, um nun als Vorwand zu dienen, anderen den Kontakt nicht nur zu Jüngeren, sondern gesellschaftliches Zusammensein ganz allgemein zu verbieten. So erfüllen sie auch noch einmal einen besonders paradoxen gesellschaftlichen Auftrag.

Zweierlei ist dabei bemerkenswert: einerseits die Lüge den Jüngeren gegenüber, die darauf hinausläuft, dass unsere Verwandten quasi unsterblich wären, gäbe es Corona Virus Disease 19 nicht, andererseits der Hintergrund dieser Lüge. Unser gesellschaftliches Leben ist darauf ausgerichtet, dass das soziale Subjekt, das abstrakt gesellschaftliche Handelnde (sei es ein Mensch, ein Verein, eine Klasse, ein Nationalstaat), durch eben dieses sein Handeln existiert. Wo Handeln aufhört oder noch nicht begonnen hat oder verweigert wird, hört ebenso gesellschaftliche, das heißt auch öffentliche Existenz auf (und wird nur noch in Schulen, Heimen, Gefängnissen und anderen Verwahrungs- und Ausbildungsstätten geduldet).

Der Tod selbst wird zum skandalösen und unerwünschten Einbruch in das gesellschaftliche Handeln, sei es in der industriellen Tätigkeit, sei es in der Freizeit. Die Tatsache des Tods ist jedenfalls in unserer Gesellschaftlichkeit und für sie kein Übergang in religiös imaginierte Ewigkeit, sondern die Zerstörung der Gegenwart. Und die Gegenwart, wenigstens die gesellschaftliche, ist durch Handeln gekennzeichnet. Stirbt der Handelnde, beispielsweise der Firmengründer, müssen die Erben das Werk weiterführen und garantieren, selbst dadurch, dass sie die Anlage verkaufen und vom Erlös drei Generationen lang noch gut leben – darnach fragt niemand, nur nach der Geschichte und der Existenz des gegründeten Betriebs.

Es ist dieses abstrakte Weiterleben, das unsere Alten übernehmen sollen, wenn sie als besonders vulnerable und besonders schützenswerte Mitglieder unserer Gesellschaft nun in die Mitte sozialer Darstellungen rücken müssen. Jedenfalls hat dies nichts mit ihrer persönlichen, konkreten, individuellen Situation als Moribunde zu tun. Eher wird hier noch einmal ideologisch und herrschaftlich eingeklagt, dass sie gefälligst ihre Aufgaben als vernünftig handelnde Mitglieder der Gesellschaftlichkeit zu erfüllen hätten, egal wie weit altersbedingte Demenz oder körperliche Hinfälligkeit noch in Rechnung gestellt werden müssten.

Jedenfalls kommt von der Linken keine Antwort auf diese unsinnige Herangehensweise, die nur von bürgerlicher Ideologie subjektiven Umgangs mit gesellschaftlichem Handeln bestimmt ist und nicht von einem persönlichen Umgang mit gesellschaftlichem Leben, wozu auch der Tod gehört. Die Illusion gesellschaftlicher Unsterblichkeit durch subjektives Handeln, die von der Person abgekoppelt und an deren Unternehmung gebunden ist, wird hier am Beispiel der angeblich besonders gefährdeten Alten vorgeführt, grad so als wären sie nur durch das neue Coronavirus an Leib und Leben bedroht und sonst nicht.

Anstatt diese abstruse Situation zum Ausgangspunkt zu nehmen, die Sozial- und Gesundheitspolitik zu hinterfragen, die Trennung der Menschheit in erwachsene, arbeitende weiße, männliche, hier geborene und emanzipierte Menschen einerseits und alle anderen andererseits zu kritisieren, die ihr gesellschaftliches Prestige erst erringen müssen, verstummt die Linke.

Dies ist umso ärgerlicher, als das Thema der Verwahrung der Devianz und der Wertlosigkeit, die Gestaltung der Erziehung, um die Jungen den Anfechtungen und Anforderungen unserer Gesellschaftlichkeit zuzuführen, oder die obligate Heranführung Kranker, Behinderter oder Dementer an ein in den Augen unserer Gesellschaftlichkeit menschenwürdiges Leben durch Arbeits- oder Selbstbestimmungsillusionen schon längst in Theorie und Praxis in der Linken thematisiert und diskutiert wurde – von Alexander Sutherland Neills antiautoritären Erziehung, Franco Basaglias offener Psychiatrie bis hin zu Steinerts Abolitionismus gegenüber dem Strafvollzug. Überall war vor einigen Jahrzehnten ein reger Diskurs, verbunden mit gesellschaftskritischem tätigem Engagement zu Gange. Dass sich die Linke dieser ihrer Vergangenheit nicht mehr stellt, eher dazu neigt, sie zu verleugnen, lässt tief in ihren Zustand blicken.

Was zeigt uns also die Krise rund um das SARS Corona Virus 2 an uns selbst in unserem Verhältnis zur Gesellschaft? Was wird zur Kenntlichkeit herausgestellt? Zunächst unsere gesellschaftliche Position und die ist von der Aufgabe der Machtfrage geprägt. Es werden nicht mehr Pläne zur Machtergreifung diskutiert und die angestrebte Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht mehr an Umstürze mit revolutionärem Pathos, sondern an Vorschläge mit vernünftigem Ethos gebunden.

Vernunft aber ist etwas, das nicht in der Gesellschaftlichkeit zu suchen ist, sondern angeblich schon in der Natur selbst angelegt ist. Wenn der Vernunft dieses Kant’sche Eigenleben unterschoben wird, wenn da eine Gesetzmäßigkeit herrscht, gegen die zu verstoßen mit unterstellt automatischem Misserfolg und daraus folgender sozialer Ächtung bestraft wird, dann gibt es nicht viel Spielraum, sondern bloß die Unterordnung unter diese natürliche Gesetzmäßigkeit. Und diese Unterordnung unter die Vernunft der Naturgesetze ist keine neue Spielart der gegenwärtigen Linken.

Auch der auf die Arbeiterbewegung bezogene Marxismus wusste schon sich selbst und seine staatlichen Hervorbringungen mit Verweisen auf Gesetze zu legitimieren, denen quasi universale Gültigkeit zugeschrieben wurde. Ein Blick beispielsweise in die polit-ökonomischen und betriebs- und volkswirtschaftlichen Lehrbücher der DDR mit ihrer angestrebten Nutzbarmachung des Wirkens des Wertgesetzes für die sozialistische Wirtschaft erzählt davon ungeachtet der Tatsache, dass das Wertgesetz eine Hervorbringung menschlichen Handelns ist und keine in der Natur hinterlegte Gesetzlichkeit. Hier schimmert dann auch noch ein wenig Hegels List der Vernunft durch den politischen Selbstbetrug.

Neu im heutigen linken Selbstverständnis ist aber, dass dieser Bezug auf die Vernunft nicht mehr an ein revolutionäres oder wenigstens reformierendes Subjekt gebunden ist; der Tatsache, dass die Vernunft bürgerlicher Hervorbringung ist, wird insofern Rechnung getragen, als vernünftige Vorschläge aus Seminaren und Studierstuben direkt an die Herrschaft herangetragen und dort in der Konkurrenz vielfältiger Meinungen verhandelt werden mit der Hoffnung auf Durchsetzung der Vernunft. In der durch Corona – durch das Virus wie auch durch politische und medizinische Maßnahmen – bedingten Krise zeigt sich dieses Selbstverständnis der Linken deutlich genug.

Was immer auch die Linke zur gegenwärtigen Krise zu sagen hat (wenig genug), beschränkt sich auf die übliche Kapitalismuskritik, etwa wenn die Beziehung zwischen kapitalistischer Land- und Viehwirtschaft und übertragbaren Seuchen sehr genau und kritisch beschrieben wird (Zeitschrift marxistische Erneuerung 123); im Allgemeinen beschränkt sie sich auf die Frage, ob politische und rechtliche Maßnahmen vernünftig und verfassungskonform wären oder wie in Cuba optimiert würden. Die Frage, ob dahinter politische Konzepte und ökonomische Interessen stehen könnten, die weit über die medizinische Aktualität hinausreichen, wird nicht diskutiert, etwa was es für ein gesundheitspolitisches Regime (national wie supranational) bedeutet, wenn die Forschung angesichts des Coronavirus (aber nicht nur dort) auf die Entwicklung von Impfstoffen, also für Massenintervention, und nicht von Medikamenten, also für individuelle Behandlung ausgerichtet ist.

Es werden im Gegenteil derartige Fragestellungen leichten Herzens rechtsradikalen Trittbrettfahrern und so genannten Verschwörungstheoretikern überlassen, ohne nur einen Gedanken daran zu verschwenden, woher eine Gegnerschaft gegen flächendeckende Impfungen rühren mag. Die Denunziation und die Verspottung der Aluhüte tritt dabei neben die – natürlich – Vernunft, die mittels vorauseilend gehorsamem Faktencheck sehr bald festgestellt und dekretiert hat, was nun als richtig und was als falsch zu gelten habe, auch wenn es der Bedeutung der so genannten Fakten nicht entspricht.

Dass die Faktenchecks, wie sie im Fernsehen oder in den einschlägigen Tageszeitungen angeboten werden, mit wissenschaftlicher Untersuchung auch nicht das Geringste zu tun haben, sondern bloß ideologisch aufbereiteter Wahrheitsproduktion im Gewand hämischer Unterhaltung dienen, wird gerne unterschlagen. Auf der Strecke bleibt die Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge und deren Kritik. Ohne wissenschaftliche Forschungen und deren Anwendungen werten zu wollen oder dazu Stellung zu beziehen, will ich nur zwei Beispiele zitieren, wie den Aussagen der so genannten Verschwörungstheoretiker reale Vorkommnisse zu Grunde liegen, die nicht in Rechnung gestellt werden, wenn die schon verächtlich abgekürzten VT lächerlich gemacht werden sollen.

Erstes Beispiel: Chemtrails gibt es nicht, wer das behauptet, ist ein Verschwörungstheoretiker, so wird es verkündet. Ein Hintergrund wird dabei allerdings nicht berücksichtigt: Wolken werden, um ein gewünschtes Wetter zum bestimmten Zeitpunkt eines Ereignisses, einer Veranstaltung zu garantieren, mit Chemikalien wie Salz oder anderen Chloriden geimpft, damit sie rechtzeitig ausregnen. Das ist heute state of the art, ebenso wie die chemische Manipulation von Wolken zur Vermeidung von Hagel. Die Forschung dazu und deren Anwendung geht bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts und davor zurück.

Ein anderes Beispiel: Impfgegner werden wegen ihrer Behauptung lächerlich gemacht, mit den Vakzinen und Immunseren würden ihnen gegen ihren Willen Chips verabreicht, die ihre soziale Kontrolle erleichtern, oder Medikamente, die ihrer Fruchtbarkeit beeinträchtigen würden. Dass flächendeckende oder allgemein angewandte medizinische Maßnahmen ohne Information, von Einwilligung ganz zu schweigen, mit Sterilisierungen und anderen Eingriffen verbunden waren, wird neben offeneren brutalen Maßnahmen der Bevölkerungspolitik vor allem gegenüber Indigenen wie Kindeswegnahmen, immer wieder publik; aber auch von anderen medizinischen Eingriffen beispielsweise an Strafgefangenen, die als unfreiwillige Versuchskaninchen dienen, ist zu hören.

Und wenn Elon Musk daran forschen lässt, dass Schmerzen, Sucht oder Gedächtnisschwund durch die Implantation von Chips im Gehirn „kuriert“ werden können, dann verstehe ich die gar nicht so irrationale Angst von so genannten Impfgegnern angesichts einer Wissenschaft, der scheinbar keine gesellschaftlichen Grenzen gesetzt sind. Das Fehlen gesellschaftlicher Beschränkungen hängt nun wiederum damit zusammen, dass unsere spezifische bürgerliche kapitalistische Gesellschaftlichkeit nicht durch gesellschaftliches Handeln, sondern angeblich bloß durch individuelles Agieren sich herstellt.

Dass Krankheiten wie etwa „Süchte“, mag man sie nun als solche bezeichnen oder nicht, nicht zuletzt gesellschaftliche Hintergründe haben, nun aber als kurabel durch kybernetisch-medizinische Applikationen dargestellt und in diesem Zusammenhang neu definiert werden, auch entlang individueller Verantwortlichkeiten, die hinfort die freudige und zukunftsorientierte Zustimmung zu diesem Fortschritt zur Voraussetzung haben müssen, weiß jeder eben erst angelernte Versicherungsmathematiker.

Diese Vorstellungen von wissenschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlichem Nutzen entsprechen sowohl den Hervorbringungen der an science fiction orientierten Popkultur, Kunstproduktion und Unterhaltungsindustrie wie auch den ideologischen Gemeinplätzen von Vernunft und historischer Entwicklung und sind somit gesellschaftliches ideologisches Allgemeingut. Darüber aber wird schnell hinweggetäuscht. Und über ein empathisches Verständnis von Ängsten hinaus, mögen sie sich auch zu krudesten Denkmustern und Feindbildern auswachsen, die gefälligst zurechtzurücken sind und deren Instrumentalisierung auf das Heftigste bekämpft werden muss, sehe ich, dass sich die Linke in dieser Auseinandersetzung, die sie ohnehin nicht führt, nicht einmal mehr der eigenen theoretischen Errungenschaften sicher ist.

Wie sonst ist es zu erklären, dass die verschiedensten Denkerinnen und Denker, von der Schule der Bielefelder Feministinnen rund um Mies und v. Werlhof bis zu strukturalistischen und postmodernen Philosophen wie Foucault und Agamben über Jahrzehnte hinweg von der Kontrolle der Körper und von Biopolitik schreiben und dozieren, jetzt aber, wo die Kontrolle der gesellschaftlichen Körper und der individuellen Leiber sich vor unseren Augen entfaltet, dies nicht zur Kenntnis genommen wird? Hinter dem Schutzschild der vorgeblich medizinisch indizierten Notstandsmaßnahme, der man aus vernünftigen staatsbürgerlichen Gründen auch als Linke reinen Gewissens zustimmen kann, verbirgt sich zu allem bürgerlichem Nutzen die Aufgabe des Gedankens der Revolution, des Umsturzes, des Paradigmenwechsels – you name it …-

Um die Philippika zu Ende zu bringen: Von einer Linken, die sich weigert, Sozialismus oder Kommunismus noch als antibürgerliche Provokation im Namen zu tragen, die es tatsächlich schafft, sich als Linke darzustellen, und dabei ihre Symbole desavouiert und vor der Öffentlichkeit verbirgt, von Hammer und Sichel ganz zu schweigen, aber nicht einmal ein Fetzchen roter Farbe auf ihre Wahlplakate applizieren kann, wie es eben erst beim Wahlkampf zu den Wiener Gemeinderatswahlen zu erfahren (für Nichtösterreicher: die wichtigsten Wahlen neben den Nationalratswahlen), zu erleben und zu erleiden ist, von so einer Linken ist nicht zu erwarten, dass sie inhaltlich Wesentliches zu den durch eine medizinische (medizinisch noch am wenigsten), ökonomische, hauptsächlich aber politische Krise zu sagen hat.

Lasst es mich noch einmal zusammenfassen. Die Krise zeigt uns das Walten eines nationalen und supranationalen Regimes und die Linke hat ihre Zustimmung dazu auf der Ebene bürgerlicher Vernunft abgeliefert anstatt zu betonen, dass bürgerliche Höflichkeit genügt hätte, um mit den Schwierigkeiten einer Krankheit und ihres Erregers fertig zu werden. Darüber hinaus hätte es genügen sollen, die Fachleute aus dem medizinischen Bereich ihre Arbeit tun zu lassen und sie mit den nötigen Mitteln auszustatten, dabei das gesellschaftliche Getriebe in Ruhe zu lassen. Eine Linke, deren Kritik dergestalt sich entfaltet hätte, wäre wohl auch in der Lage gewesen, einem Diskurs, der wie verzerrt oder ideologisch missbraucht auch immer gegen die herrschenden Zumutungen sich gestellt hätte, und sei es nur vorgeblich, die Stirn zu bieten und diejenigen zurechtzuweisen, die nun versuchen, auf den Verwerfungen der Gesellschaft ihr Süppchen zu kochen.

Solch eine Linke wäre auch im Stande, den Rechtsradikalismus, der in unserer (spezifisch österreichischen) Gesellschaft ohnehin latent und ubiquitär vorhanden ist, und den angehenden Faschismus, der sich öffentlich zeigt, jenen zuzuschreiben, die ihn betreiben: nicht nur außerparlamentarischen Oppositionen, die öffentlich angeblich jene Garantien bürgerlicher Gesellschaft und Verfassung verteidigen, die sie ohnehin jederzeit aufzuheben und zu sistieren bereit sind (wozu sie sich auch als politische Kraft letzten Endes verstehen und verpflichten), sondern vielmehr jenen, die hinter einer Missachtung des Parlaments, also der Vertretung der Bevölkerung, und mit lockerer Hand und noch lockererem Maul als Regierung des nationalen Notstands sich als Bewahrer von Natur und Vernunft der Gemeinschaft und Verteidiger deren Bestands vorstellen.

Solch eine Linke würde sich auch der gesellschaftlichen Debatte nicht unter dem Hinweis auf die Begegnung mit Rechtsradikalen und Faschisten entziehen, wie es etwa die „Omas gegen Rechts – Berlin“ von Teilnehmern an der Demonstration in Berlin gefordert hatten. Allerdings hat es eine Linke des akademischen Marxismus längst verlernt und auch aufgegeben, sich mit gesellschaftlichen Bewegungen gemein zu machen. Ob es Ocuppy war oder Fridays for Future oder ob es populare, auch militante Demonstrationen waren, die einen Regimewechsel forderten oder begleiteten oder einleiteten, die akademische marxistische Linke ist über einen begleitenden Kommentar nie hausgekommen – von einem Anspruch der Intervention oder gar der versuchten Hegemonie ganz zu schweigen.

Und wenn nun die freundlichen Genossinnen und Genossen aus der anarchistischen Sphäre uns vorschlagen, aus der Not eine Tugend zu machen und den Gedanken organisierter Hegemonie aufzugeben, dann präsentieren sie nur den Revers der Medaille. Was bleibt, ist das Problem der ausstehenden politischen (womöglich auch intellektuellen, künstlerischen und philosophischen) Führung einerseits (Leute wie Marx, Lenin, Trotzki und Mao Zedong waren Philosophen und Künstler, wie es Platon sich vorgestellt hatte) und das Problem einer gesellschaftlichen Bewegung andererseits, die sich mit bürgerlicher Vernunft zufriedengeben möchte (Lenin hätte von tradeunionistischem Bewusstsein gesprochen). Was nottut ist, was Lenin als Linksradikalismus gebrandmarkt hätte.

In diesem Sinne: dixi et salvavi animam meam.