Über die Naivität der Linken

je n’étais pas très bon élève
et je suis mauvais citoyen
mais j’ai ma chambre rue de rêve
et mon bureau rue de copain

Serge Reggiani – Rue de Rêve (Claude Lemesle/Alice Dona)

Verzichten wir zunächst auf die Definition von links. Beschränken wir uns darauf, anzunehmen, dass links bedeutet, die Gesellschaft zu ihrem Besseren verändern zu wollen, ihre Widersprüchlichkeiten und Diskrepanzen aufzulösen und den Menschen im Allgemeinen ein gerechtes, gutes und schönes Leben zu gewährleisten. Beschränken wir links des Weiteren darauf, dass dieses Ziel nur durch eine Umwandlung der bestehenden sozialen Verhältnisse zu erreichen ist.

Mit dieser kleinen Voraussetzung wollen wir uns die Geschichte der Linken nach dem Weltkrieg II ansehen und ihre hauptsächlichen Fehler beschreiben. Die Zeit nach 1945 ergibt sich durch den Bruch, den der Sieg über den Faschismus und der folgende Kalte Krieg darstellten. Der Sieg über den Faschismus war eine Angelegenheit militärischer Stärke verbündeter imperialistischer Mächte über verbündete imperialistische Mächte. Er war keine innere Angelegenheit linker Kräfte in den faschistischen Ländern. Dass sich unter den Siegermächten die Sowjetunion befand, deren Armee und Zivilbevölkerung einen exorbitant hohen Blutzoll geleistet hatte, erlaubte es der europäischen Linken, einen linken Sieg über den Faschismus zu reklamieren, eine Geschichtsklitterung, die durch den Kalten Krieg und die daraus von ihr geforderte Notwendigkeit der ideologischen Verteidigung der Sowjetunion nur verstärkt wurde.

Die historischen Tatsachen zeigen ein anderes Bild. Nehmen war als Paradigma die österreichische Sozialdemokratie. Nach dem kurzen Bürgerkrieg von 1934, der diesen Namen nicht verdient, eher war es ein coup d’état der Regierung, war die Partei tot. Die politische und intellektuelle Führung war außer Landes im Exil, die Militanten und KämpferInnen waren nach Spanien gezogen und nach der Niederlage von dort nach Moskau, wo ihnen zum großen Teil kein besseres Schicksal beschieden war. Zurück waren die einfachen Parteimitglieder geblieben, ohne Führung und Organisation und mit einem Bewusstsein, das den relativen Wohlstand des Roten Wien mit Sozialismus verwechselte. Diese Vorstellung konnte auch vom Nationalsozialismus bedient werden.

Kein Wunder, dass eine nahezu vollständige Unterwerfung unter das faschistische Regime die Folge war, räumte doch die neue Herrschaft auch mit den verhassten Austrofaschisten auf. Dazu kam, dass die Vereinigung des deutschsprachigen Rest des Habsburgerimperiums – in der Selbstdarstellung des 1918 als Teil der deutschen Republik proklamierten Deutschösterreich umfasste er die deutschsprachigen Kronländer, die den heutigen Bundesländern mit Südtirol entsprechen, das Sudetenland und Teile des nördlichen Sloweniens – mit „Deutschland“ der deutschnationalen Politik nahezu aller Parteien in der Tradition der Revolution von 1848 entsprach. Folgerichtig waren die Kriegsziele der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten und ihres Londoner Büros auch nicht auf eine Herstellung der Eigenstaatlichkeit Österreichs ausgerichtet. Hitler sollte geschlagen, die Vereinigung in der neuen antifaschistischen deutschen Republik aber nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Das Danaergeschenk der Moskauer Deklaration 1943 mitsamt der imperialistischen Neuordnung von Jalta nach dem Krieg Anfang 1945 zeigte deutlich die Schwäche der Sozialdemokratie, aber auch die Schwäche der kommunistischen Parteien, die den russischen Interessen untergeordnet beziehungsweise geopfert wurden, sowohl inner- als auch außerhalb ihres Machtbereichs.

Die revolutionäre Militanz der Jahrhundertwende und der ersten drei Jahrzehnte der 1900er war nach 1945 physisch, psychisch und politisch gebrochen und wurde diskursiv auf die Staatsdebatte verwiesen; in ihrer popularistischen und journalistischen Form wurde das als Frage des Gewaltmonopols diskutiert und das Abschwören von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele zum Lackmustest jeder linken politischen Intervention gemacht. Politische Gewalt orientierte sich nach dem Weltkrieg nur noch an den antikolonialen und antiimperialen Befreiungskämpfen, an deren Ende nicht die neue Gesellschaft nach kommunistisch-utopischem Bild stehen sollte, sondern bloß der gute alte Nationalstaat.

Erst mit der revolutionären Bewegung rund um 1968 entstand wieder Militanz, physisch, psychisch und politisch. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, ist radikaler Ausdruck dieser Stimmung, die Intoleranz der so genannten Jugend- oder Studentenbewegung wird aber heute nicht mehr thematisiert. „Trau keinem über dreißig“, ist nur noch ein Bonmot, die Übersetzung von LSD als „Lasst sie doch“ wird nicht mehr als die Aufforderung verstanden, sich nicht weiter um die ältere Generation und ihre überkommene Lebenswelt zu kümmern.

Daneben entstanden, schon vor den 1970ern und darüber hinaus aktiv, verschiedene kämpfende Gruppierungen, RAF, Black Panthers, Brigate Rosse, und andere mehr, der Großteil der revolutionären Bewegung aber verebbte in politischen Parteien und Organisationen, die Marxismus und Arbeiterbewegung wiederbeleben wollten, unter den verschiedensten Vorzeichen, so da  waren: Russlands bolschewistische (leninistische und trotzkistische) Geschichte, Chinas Bürgerkrieg und antiimperialistische Neuordnung, Europas „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ mit Klassenversöhnung und angestrebter Regierungsbeteiligung (compromesso storico, Eurokommunismus), die Propagierung des „Dritten Wegs“ oder der so genannten Blockfreiheit (Titoismus).

Dies ist nun der Punkt, an dem ich zum Titel des Aufsatzes zurückkommen und auch persönlich werden kann. Ich will mich dabei nicht als alter 68er deklarieren, denn 1968 war ich noch jung. Jedenfalls jung genug, um Daniel Cohn-Bendit oder Rudi Dutschke als alt zu empfinden, aber alt genug, um mich in den Auseinandersetzungen dieser Jahre zu engagieren. Dabei spielte in dieser frühen Zeit, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, die Frage um die kommerzielle Ausbeutung der Jugendkultur eine tragende Rolle, um ein antikapitalistisches Bewusstsein in seinen Anfängen und vermittelt an den eigenen Erfahrungen heranzubilden. Kampf dem Konsumterror war damals eine gängige Parole, die nicht zuletzt in der Brandstiftung in zwei Kaufhäusern in Frankfurt am Main ihre Erfüllung fand.

In Wien war etwa ein Jahr später zu einem Protest gegen die Vermarktung der Jugendkultur aufgerufen worden, wobei in einem Flugblatt der damals aktivsten autonomen Gruppe mit Namen Spartakus dazu aufgerufen worden war, zum Twenshop, einer so genannten Messe für die Jugend und einem Symbol für Kommerzialisierung, entweder gar nicht zu gehen oder aber eben bewaffnet. Warum ich das hier erzähle? Weil es meines Erachtens ein Paradigma für die Naivität des Politikverständnisses der jungen Linken jener Zeit, unseres Politikverständnisses war. Nicht, dass wir unrecht gehabt hätten; nicht, dass es falsch gewesen wäre, die kommerzielle Reizüberflutung zu attackieren.

Aber wir hatten uns keinerlei Vorstellung von den destruktiven und repressiven Tendenzen gemacht, die mit der Produktion und Distribution unnötiger und unwillkommener Konsumgüter verbunden waren, auch wenn wir Marcuses Unterscheidung von richtigen und falschen Bedürfnissen diskutierten. Wir hatten uns damals nicht vorstellen können, dass Produkte den Markt bevölkern würden, deren vorgegebene und programmierte Lebensdauer ihre Haltbarkeit bei weitem unterbieten würde, dass Firmen Unterstützung und Service für ihre funktionsfähigen Waren einstellen würden, um sie künstlich zu Schrott zu deklarieren und Nachfolgemodelle auf den Markt zu bringen, die sich von ihren Vorgänger in nichts unterschieden außer dem Design oder dem Datum der Produktion.

Einen Begriff wie geplante Obsoleszenz hätten wir nicht uns auszudenken vermocht, auch wenn er in der Logik der von uns kritisierten kapitalistischen Produktionsweise lag. Die Ausbeutung durch Kapitalismus sahen wir nur in den lohnpolitischen Verkürzungen, wie wir sie vom Arbeiterbewegungsmarxismus gewohnt wurden, nicht aber in der Entfremdung, wie sie Marx beschrieben hatte. Und wir hatten nicht daran gedacht, neben die Entfremdung des Produzenten von seinem produzierten Produkt auch die Entfremdung des Konsumenten von seinem erworbenen Produkt zu stellen, etwas, das den vielgepriesenen Gebrauchswert und die Hoffnung, die auf ihn gegen den Tauschwert gesetzt wird, zur reinen Chimäre macht, wenn die Garantie des Gebrauchs nicht mehr gegeben ist.

Man hätte uns also den Vorwurf machen können – und mit uns oder wir meine ich meine Generation und ihre Angehörigen, die sich in der Linken tummelten, Aktivisten und Theoretikerinnen und Angehörige und MitläuferInnern von Organisationen trotzkistischer, maoistischer, spontaneistischer Ausprägung und was da mehr –, man könnte uns also den Vorwurf machen, wir wären zu lässig und vertrauensvoll gewesen, was die Entwicklung der Gesellschaft betraf. Wir hätten darauf vertraut, dass es schon gutgehen würde, dass der Gang der revolutionären Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse unumkehrbar wäre, die Geschichte auf unserer Seite sei, kurz: dass wir zu wenig radikal gewesen waren.

Ein ähnlich sorg- und sorgenloses Verhalten legten wir an den Tag, wenn es um die Umgestaltung ganz Europas ging, um die Revolution im Westen und um den Sturz der Regimes des „real existierenden Sozialismus“ im Osten. Ich erinnere mich an den ungeheuren Optimismus und die verwegenen Utopien, in einem sozialistischen, kommunistischen Europa politische Karriere zu machen und Geschichte zu schreiben. Und hatte es nicht 1974 die Revolution in Portugal gegeben, in deren Folge wir die Revolution in Spanien und Italien sahen? Dass USA und NATO für diese Fälle vorgesorgt hatten, wollten wir nicht wahrhaben. Gladio und Propaganda Due in Italien erschienen uns eher als folkloristische Überbleibsel rechtsradikaler Faschismusveteranen denn unter Anleitung imperialistischer Geheimdienste (heute würden wir von deep state sprechen) als Vorsorge und Vorbereitung von Kadern, die im Fall des Falles und im wahrsten Sinn des Worts Gewehr bei Fuß stehen würden, um unseren naiven politischen Fortschrittsglauben zurechtzustutzen.

Und als sich die ersten Anzeichen bemerkbar machten, dass die tönernen Füße, auf denen das sowjetische Regime in Russland und seinen Glacisstaaten ruhte, nachgeben und zerbrechen würde, als sich die imperialistischen Einflüsse auf diesen Vorgang immer deutlicher zeigten, ideologisch und religiös und von einer auf Linie gebrachten Presse verbreitet und zum allgemeinen Narrativ gemacht, da glaubten wir noch immer an die Unumkehrbarkeit der proletarischen Errungenschaften und meinten angesichts des Prestige- und Kontrollverlusts der Kommunistischen Parteien, die osteuropäische Arbeiterschaft würde nun eben zur Sozialdemokratie wechseln.

Wir hatten den imperialistischen Apparaten natürlich nichts entgegenzusetzen außer machtlosen Demonstrationen und Aufmärschen, wir setzten der ganzen Veranstaltung aber auch keine schneidende, klare, alles auf den Punkt bringende Analyse gegenüber; waren eher von den Ereignissen überrascht und von unserer Nostalgie, die sich dann mit den Gegebenheiten abfinden sollte. Darüber hinaus war meine Linke schon vor 1989 bereit, sich von revolutionär zu liberal und demokratisch zu entwickeln, natürlich – wie heißt die wohlfeile, altbekannte, gut abgehangene Ausrede? – nur um Schlimmeres zu verhindern, auch um die Welt zu retten, das heißt die bürgerliche Gesellschaft vor sich selbst.

So wie revolutionäre Arbeiterparteien und -organisationen sich, um den Faschismus zu bekämpfen, ihres Internationalismus begaben und die globalen, kommunistischen, weltrevolutionären Ziele verschoben und hintanstellten, so stellten sich die Genossen und Genossinnen von eben in den Dienst von Naturschutz und Tierrechten, um schlicht den Planet zu erhalten durch einen brüchigen Status quo statt durch eine neue stabile Unordnung, die ohne Schutz, Recht und Gesetz auskommt, sondern einfach mit Achtung und Loyalität ihrer Wege zieht. Auch hier wurden also die utopischen, anarchistischen, kommunistischen Vorstellungen einer Zukunft der Fortschreibung der traurigen Gegenwart geopfert.

Dass die portugiesische Revolution nicht unter einem konterrevolutionären Staatsstreich zerbrach, sondern nach einem durchaus üblichen Wechseln von „rechten“ und „linken“ Regierungen sich zu einem EU-Mitglied entwickelte, um Absatzmarkt für billige Kredite und billige Produkte der reichen EU-Exportmeister zu werden, schien auch nicht mehr besonders aufregend, war es doch Allgemeingut geworden, in der EU eine Garantie gegen Nationalismus, kleingeistiges Duodezfürstentum und gegen hinterwäldlerische Rückständigkeit zu sehen.

Ich gestehe, dass auch ich Österreichs Beitritt zur EU gerade mit diesem Argument begrüßt hatte, dass die strukturelle Zurückgebliebenheit dieses Lands unter internationalem Druck gemildert würde – nolens volens. Weitere positive Vorstellungen zur EU konnte ich nicht aufbringen, wenngleich ich mit einem Großteil der EU-Kritik meiner linken GenossInnen nicht konform gehen konnte. Sehr oft beschränkte sich die routiniert heruntergebetete politische Kritik darauf, ein Europa der Konzerne zu sehen, als ob es diese supranationale Verständigung ohne europäischen politischen Zusammenschluss in der EU nicht gegeben hätte. Was ich an dieser Kritik hingegen schmerzlich vermisste, war die Attacke gegen die EU als Kriegspartei. Dass die EU aktiv Kriegspolitik betrieb und damit imperialistische Ziele verfocht, wurde vor allem bei der Zerschlagung Jugoslawiens mehr als deutlich.

Nichts und niemand hat die EU daran gehindert, nach Titos Tod und dem folgenden Jahrzehnt politischer Instabilität Jugoslawien den EU-Beitritt als Perspektive und wohl auch Ausweg anzubieten, aber eben nur als Gesamtstaat. Stattdessen wurden die Sezessionen mitsamt ihren rechtsradikalen Führern und Milizen ermutigt und ein Vorgehen gegen diese als Verletzung des Völkerrechts gebrandmarkt, gegen das es mit aller Waffengewalt vorzugehen gelte.

Dies war nun gültiges Narrativ und dagegen zu verstoßen, wurde mit den verschiedensten Mitteln der Ehrabschneidung geahndet. Das musste Rudolf Burger ebenso erleben wie Peter Handke, dem noch die späte Unehre zuteil wurde, von Ulrike Lunacek ausgerechnet in ihrer Funktion als Staatssekretärin für Kultur und Kunst – quasi als erste Amtshandlung in der grünen Regierungsbeteiligung – mit der Äußerung bedacht zu werden, sie könne die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Dichter nicht nachvollziehen. Wenn ich ihn aber nun verteidige (http://members.chello.at/~geroldwallner/legi/handke.htm), bin ich auch und grade in der oben skizzierten und kritisierten Position, Bürgerlichkeit gegen Bürgerlichkeit hochzuhalten.

Bei Jugoslawien, ebenso übrigens wie im ersten Irakkrieg, zeigte sich, dass die EU uneinheitliche Positionen vertrat, aber die Politik Deutschlands im einen Fall, Großbritanniens im anderen, trieb die „Gemeinschaft“ zwar in keine gemeinsame Politik, aber in ein nachhinkendes Anerkenntnis des Faktischen. Es zeigte sich dabei auch eine eklatante Schwäche der Linken in ihrer EU-Kritik, sofern sie nicht ohnehin die Kriegstreiberpolitik mittrug: Nicht nur die Position als Kriegspartei wurde nicht thematisiert, auch das Überwiegen nationalstaatlicher Politikinteressen wurde nicht beachtet. Stattdessen wurde an einem Traum festgehalten, der in keiner Weise unehrenhaft ist und für bürgerliche Verhältnisse sympathisch erscheinen mag: an der Illusion der Vereinigten Staaten von Europa. Die Bequemlichkeit des Reiseverkehrs in Europa und die verschwundene Notwendigkeit des Geldumtauschs täuschte über die Zerbrechlichkeit dieser als Errungenschaft wahrgenommenen Maßnahmen hinweg. Grenzkontrollen wieder einzuführen stellte bis jetzt noch keinen Staat vor größere Probleme.

Und eine weitere Facette der politischen Diskussion wurde an Hand der EU-Kritik sichtbar. In der Zeit der Staatsableitungsdebatte in den späten 1970ern wurde auch die Frage einer Weltregierung angeschnitten. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass der Gedanke daran, die Vorstellung davon, als mit dem bürgerlichen Nationalstaatsgefüge unvereinbar angesehen wurde, eine Weltregierung nur unter den Vorzeichen einer geglückten internationalen sozialistischen Umwälzung denkbar wäre. Heute wird das schon etwas differenzierter betrachtet, supranationales Recht ebenso als Gegebenheit anerkannt wie supranationale Institutionen und Organisationen, wenn auch deren Geschichte länger und in die Zeit vor der UNO zurückreicht. Denken wir nur an den Weltpostverein (1874 gegründet) oder die Internationale Meridiankonferenz (1884 zur Notwendigkeit der Festlegung von Zeitzonen).

Womit aber niemand gerechnet hat, oder schärfer ausgedrückt: was wir in unsere Überlegungen und Politikansätze nie aufgenommen haben, was wir der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Kapitalismus nie zugetraut haben, war die Verbindung der Politik von UNO-Organisationen mit den Interessen großer Industriebereiche (obwohl es mit der Fernmeldeunion, gegründet 1865 als Internationaler Telegraphenverein und als private internationale Organisation, schon ein altehrwürdiges Vorbild und Beispiel gab). Oder wieder schärfer ausgedrückt: Wir sahen zwar, dass Konzerne sich Staaten dienstbar machten, dachten aber nicht daran, dass sie auch supranationale Einrichtungen kapern könnten. Aber genau das geschah. Ich möchte hier nicht auf die Verflechtungen etwa der UNO-Blauhelmtruppen mit Schwarzhandel und Prostitution eingehen; hier könnte zynischerweise geantwortet werden, dass dies in Kriegsgebieten und im Hinterland immer vorkomme, woher die Truppen auch stammen mögen.

Aber die Verflechtungen der WHO mit der Pharmaindustrie oder der UNESCO mit der Tourismusindustrie sprechen hier eine eigene Sprache, die sich in den entsprechenden Kampagnen zu flächendeckenden Zwangsimpfungen und Bevölkerungsplanungen oder zum Schutz des so genannten Weltkulturerbes mehr als deutlich Gehör verschafft. Hier wird nationalstaatliche Aktion nur unter Anleitung und Regelung durch die UN-Organisationen möglich, und dies auf fragwürdigen Grundlagen. Die WHO wird zu 80 % von privaten Spendern und Stiftungen finanziert, die UNESCO nur zu etwa der Hälfte aus Mitgliedsbeiträgen. Dass hier andere Interessen als nationalstaatliche vertreten werden, dieser Verdacht drängt sich durchaus auf.

Aber die Form des Nationalstaats steht keineswegs im Widerspruch zur Tatsache, dass in ihn von außerhalb hineinregiert wird. Betrachten wir Staaten als Großsubjekte, wobei wir Subjektivität mit der Form öffentlichen gesellschaftlichen Handels identifizieren, so finden wir Staaten mit ihren subjektiven Merkmalen ausgestattet: mit eigenen Interessen, also eigenen Unternehmungen einerseits, mit dem dazugehörigen konkurrenten Verhalten gegenüber den anderen gleichen Subjekten andrerseits. Wenn wir also früher nur den Konkurrenzcharakter gesehen haben, der eine Weltregierung unmöglich zu machen scheint, dann haben wir gleichzeitig den Aspekt der aufklärerischen Vernunft unterschätzt, der Staaten sehr wohl dazu zu bringen vermag, sich einem äußerlichen Regime zu unterwerfen.

Dieses Regime definiert dann, ab wann eine Krankheit eine Pandemie ist, ab wann Antiquitätenhandel kriminell ist, ab wann von Armut oder Überbevölkerung zu sprechen ist, ab wann museale Residuen oder Ruinen in Städten und Landschaften Planung und Bebauung verhindern müssen, und so weiter. Dabei sind diese Kriterien einerseits flexibel genug, um die sich ändernden jeweiligen Interessen bedienen zu können, wenn es Entwicklungen in Forschung, Architektur oder sonst einem lohnenden Projekt wie die Herstellung und Anwendung eines Medikaments zu fördern gilt. Andrerseits sind die Kriterien starr genug, um die Leute und ihre Staaten festlegen zu können, wenn es darum geht, was denn nun Grundlagen der planetaren Zivilisation seien, ob es sich um Geschichte, um Kultur, um Essgewohnheiten oder sonstiges handle.

Wir dürfen die Kraft dieses Regimes nicht geringschätzen und Globalisierung nicht auf die Auslagerungen von Produktionsstätten in Billiglohnländer und auf Hotlines oder Einkaufsplattformen in Tausende von Kilometern entfernten Ländern reduzieren. Es gibt auch eine Globalisierung politischen und gesellschaftlichen Verhaltens, das schon längst wirksam ist (wohl über 150 Jahre, wenn wir mit Funk und Eisenbahn beginnen). Politische Parteien und Nichtregierungsorganisationen übernehmen die Anweisungen des supranationalen Regimes und reden sie sich und uns schön als vernünftig im Namen des Fortschritts oder der Bewahrung der Menschheit und des Planeten. Naturschutz, Tierschutz, Bevölkerungspolitik oder Gedächtnispolitik haben dabei nichts mit Natur, Tieren, Leuten oder Erfahrungen zu tun, sondern nur mit der Internalisierung des weltweiten Regimes.

Die Begriffe von Ausbeutung, Macht und Herrschaft müssen unter diesen Gesichtspunkten und bei Anwendung einer fundierten Subjektkritik neu theoretisiert und zum Gegenstand von neuen Strategien gemacht werden – Subjektivität ist nicht Individualismus, sondern das Gegenteil davon: die Aufgabe der persönlichen Eigenarten, um zu einer abstrakten Form gesellschaftlichen Handelns zu finden. Wir müssen uns über das gesellschaftliche Regime klar werden, das die Welt beherrscht, ohne dass wir dabei den Ausweg einer Zuflucht zum Nationalstaat nehmen. Über den Nationalstaat hinaus ist bis jetzt noch keine politische Strömung – revolutionär oder nicht – gelangt. Wir müssen jetzt zumindest anfangen, darüber hinaus zu denken.

Emanzipation ist dabei keine Perspektive. Sie bedeutet nur die Konstituierung als Subjekt in der bürgerlichen Geselligkeit: Emanzipation der Frauen, der Arbeiterklasse, der unterdrückten Völker – als dies ist nichts als Eintritt in die bürgerlich-gesellschaftliche, kapitalistische Ordnung. Ich will aber hier nicht mit adornitischer Resignation schließen, die da postuliert, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Ich möchte daran festhalten, dass es sehr wohl ein richtiges Leben im falschen gibt. Es bestimmt sich durch klare unhintergehbare Analyse und Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und durch die gelassene Bereitschaft, sie zu bekämpfen und umzustürzen.