Solidarität in Zeiten von COVID 19

je n’étais pas très bon èlève
et je suis mauvais citoyen
mais j’ai ma chambre rue de rêve
et mon bureau rue de copain
Serge Reggiani – Rue de Rêve (Claude Lemesle/Alice Dona)

Unter der Beschwörung von Solidarität wird, was das Coronavirus betrifft, heute alles mögliche verhandelt. Sowohl die Proponeten der Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Virus, also Regierung und öffentliche Meinung einer in dieser Sache einigen Presse, als auch die so genannten Coronagegner, also ein Teil der parlamentarischen Opposition und andere Trittbrettfahrer einer Bewegung gesundheitlich verunsicherter und wirtschaftlich gefährdeter Bevölkerung, führen das Wort von der Solidarität im Mund.

Was aber macht Soldarität aus? Zunächst einmal nicht unmittelbare Betroffenheit derer, die sich für solidarisch mit anderen erklären. Ihre Solidarität entsteht aus moralischer Einsicht oder politischer Empörung, nicht aber, weil sie die Angegriffenen sind. Die Angegriffenen, mit denen sich jemand solidarisch erklärt, sind andere. Das heißt, Solidarität hat nichts mit eigenem Leiden zu tun, sondern mit dem Leiden anderer, die von einem selbst entfernt sind. Man ist solidarisch mit Oppositionellen eines bestimmten Regimes nicht, weil man selbst von diesem Regime bedroht ist, sondern weil man dieses Regime für verbrecherisch, autokratisch oder sonstwie verwerflich hält.

Man ist also nicht mit Frauen solidarisch, die gegen die Kriminalisierung der Abtreibung kämpfen, weil man diese Frauen für besonders unterstützenswert hält, sondern weil diese etwas verlangen, die Straffreiheit und noch mehr die Entkriminalisierung von Abtreibungen, das bei uns schon gang und gäbe ist oder wenigstens in Ansätzen vorhanden. Das Gleiche gilt für Homosexuelle, die für ein Recht auf Eheschließung kämpfen, oder für unterdrückte Völker und deren antiimperialistischen Kämpfe. Die Solidarität mit ihnen wird sich auch daran messen, wieweit sie dabei unsere Werte und Vorstellungen vertreten. Wer etwa gegen die Ehe als bürgerliche Institution kämpft, wird möglicherweise kein glühender Befürworter der Homosexuellenehe sein, eher für andere Aspekte der Gleichstellung von Homosexuellen mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft sich einsetzen.

Und Solidarität mit einer politischen Opposition zeigt dieses Verhältnis am deutlichsten, je nachdem ob diese Opposition einst gegen ein so genanntes kommunistisches Regime gerichtet war und von einer bürgerlichen Partei in einem kapitalistischen Land ausgeübt wurde (es sei hier an die ÖVP Buseks und ihre Unterstützung einer nationalen, liberal-demokratischen Bewegung erinnert) oder ob antiimperialistische Opposition sich nicht mehr auf marxistische oder wenigstens säkulare und demokratische Vorstellungen stützt, sondern auf religiös fundierte Ideologien, die in ihren Antiimperialismus auch die Ablehnung der Trennung von Kirche und Staat nach revolutionär-demokratischem Vorbild mit einschließen.

Solidarität ist also keine Einbahnstraße, sondern setzt stets eine politische Übereinstimmung in der Vorstellung von gesellschaftlichen Ordnungen voraus. Die USA oder der „Westen“ allgemein ist gegenüber China nicht solidarisch, nicht weil eine liberal-demokratische Tradition der Menschenrechte gegen die konfuzianische Tradition hierarchischer Beziehungen ins Spiel gebracht wüde, sondern weil China als kapitalistischer Konkurrent betrachtet wird, der sich anmaßt, auf Augenhöhe seinen Mitbewerbern gegenüberzutreten. Wo dies nicht geschieht, etwa bei Saudi-Arabien oder Taiwan, spielen konfuzianische oder islamische Traditionen keine Rolle und der Verweis auf die westlichen Menschenrechte ist kein ideologischer Vorwand als Kampfmittel; Verstöße gegen sie gelten als normale Kriminalität, die kein konstitutiver Teil des Sytems ist – anders als angeblich in Russland oder China.

Wenn wir nun wieder den Blick auf die Solidarität richten, die angesichts des Coronavirus eingefordert wird, dann können wir feststellen, dass sie nicht mehr diesem quid pro quo entspricht, sondern identitäre Züge annimmt. Allerdings ist da nicht so neu. Das erste Mal ist mir diese etwas abartige Solidarität aufgefallen, als in Europa nach dem Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo überall der Slogan „Je suis Charlie“ auftauchte. Nun kann und muss man den Mordanschlag verurteilen, aber das geht auch ohne Identifikation mit einer postmodernen Humorauffassung, der nichts heilig ist.

Das „heilig“ betone ich im Zusammenhang mit der antiklerikalen Ausrichtung des Magazins besonders, denn es mag erlaubt sein, als Christ antikatholische Witze zu reißen oder sich über bierernsten Protestantismus zu mokieren. Wie es auch für Juden kein Problem sein kann, sich über spezifische jüdische Gewohnheiten, auch religiöse, lustig zu machen, wie es etwa Woody Allen, Philip Roth oder Groucho Marx getan haben, wiewohl dies als antsemitisch verstanden werden könnte, käme es von einem Goi. Also mögen über den Propheten und die Huris des Paradieses jene spotten, die damit aufgewachsen sind und sich mit ihrer eigenen Tradition – auch schmerzhaft – auseinandersetzen müssen.

Es geht hier auch gar nicht darum, ob diese Werke oder Witze nun von hohem künstlerischen oder religionskritischen Wert sind oder nicht. Panizzas „Liebeskonzil“ etwa könnte man getrost unter dem Rubrum Altmännerphantasien einordnen. Aber ausschlaggebend ist, dass der Angriff auf religiöse Traditionen aus den eigenen Reihen kommt und in den eigenen Reihen verhandelt wird. Und das kann auch bedeuten, dass eine quid pro quo Solidarität geübt werden kann, die sich für die Freigabe von Achternbuschs Film „Das Gespenst“ in Österreich oder Schutz für Salman Rushdie einsetzt, auch wenn man die Stoßrichtung dieser Werke mit guten Argumenten ablehnt oder kritisiert. Aber eine Solidarität mit Charlie Hebdo, die alles gutheißt, das in dieser Zeitung publiziert wird und simple bürgerliche Höflichkeit oder schlichten Respekt vor anderen einer Freiheit der Satire, die angeblich alles darf, zum Fraß vorwirft, zeitigt dann auch ihre identitären Verwerfungen und sieht bloß, was sie sehen will, nicht, was geschieht.

Dann kann auch Charlie Hebdo ungestraft mit einer Karikatur aufmachen, die den am Strand von Bodrum liegenden ertrunkenen Bub Alan Kurdi zeigt und die Frage stellt, was aus ihm geworden wäre, hätte er überlebt, und die Antwort gibt: „Ein Frauenbelästiger in Deutschland“. Ein Kommentar dazu in Zusammenhang mit der Sylvesternacht 2015/2016 in Köln (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/charlie-hebdo-provoziert-mit-karikatur-zu-koeln-alan-kurdi-ein-hinterngrapscher-in-deutschland/12830970.html) schafft es dann noch, diese Geschmacklosigkeit als Kritik am alltäglichen Rassismus auszuzeichnen. Identitärer Zusammenschluss ist aber das Gegenteil von Solidarität.

Wenn mit dem Aufruf zu Solidarität darum geworben wird, dass die Leute akzeptieren sollen, dass sie nicht mehr zusammenkommen dürfen, dass die Vereinsamung in Spitälern und Altersheimen mit gesundheitlicher Fürsorge, Genesung oder Verhütung von Krankheit gleichgesetzt wird, dass soziale Kontakte unterbunden werden und das alles noch mit der Erregung von Panik und Erzeugung von Angst unterfuttert wird, dann haben wir es mit Orwells newspeak zu tun. Was Vereinsamung mit Gesundheitsförderung und gutem Leben (möglicherweise ohnehin in den schon letzten Jahren, die nicht in Isolierung und Deprivation verbracht werden wollen) zu tun haben soll, weiß der Teufel. Aber auch dazu gibt es Vorentwicklungen und Prototypen im Rahmen des political correctness. Wenn etwa nicht mehr negro gesagt werden darf, sondern statt dessen von people of colour zu sprechen ist, ändert das an rassistischen Zuschreibungen und Aufmerksamkeiten genau nichts, notabene diese Bezeichnung ja nicht einmal von der in Frage stehenden Bevölkerungsgruppe kommt.

In diesem Fall wird Solidarität zum paternalistisch korrekten Verhalten umgemodelt und der Bevölkerung ganz im Sinn von newspeak eine semantische Gleichschaltung eingetrichtert, die sogar rückwirkend angewandt wird. Aus Efraim Långstrump (Langstrumpf), dem Vater Pippis, wird dann in den 2010er Jahren ein Südseekönig, weil der Negerkönig der 1940er nicht politisch korrekt ist – wobei man sich an Neger stößt, nicht an König, und die kolonialen Vorstellungen weißer Überlegenheit weiterhin im Kinderbuch transportiert werden.

Aber wieder zurück zu unserer Coronasolidarität: „Schau auf dich, schau auf mich“, lautet der Slogan, der so ganz vernünftig klingt. Was sollte auch daran falsch sein, sich um sein eigenes Wohlergehen zu sorgen und damit das Wohlergehen aller zu befördern? Schließlich gilt dies ja schon seit zweieinhalb Jahrhunderten für unsere Gesellschaft, seit es Adam Smith formuliert hat. Solidarität ist hier zur Identität der vereinzelten, unternehmenden Subjekte verkommen, die auf sich schauen und damit zwangsläufig auf die anderen, ob sie wollen oder nicht. Und wollen sie nicht, folgt in identitärer Logik der Vorwurf, den unsere bürgerliche Gesellschaft des Modernen Ensembles immer schnell auszusprechen bereit ist: der Vorwurf der Unverantwortlichkeit bis hin zur Asozialität, und das Verdikt des Ausschlusses aus der Gemeinschaftlichkeit der Vernünftigen und Anständigen.

Und das führt dann zu so verstörenden Bildern, wie sie als lobendes Beispiel durch die Berichterstattungen geistern: vorgeblich linke Gegendemonstranten, die den so genannten Covidioten (als wären Idioten nicht vor allem unter den Zerocovidbefürwortern zu finden) rote Linien ziehen und deren Züge aufhalten wollen oder ihnen entgegenschreien: „Auch ihr sterbt an Covid“, oder in der etwas freundlicheren, aber gewalttätigeren Variante: „Wir werden euch impfen“. Dem steht dann eine Solidarität der so Angegriffenen gegenüber, die auch das quid pro quo aufgegeben hat und sich als – wieder identitärer – Almauftrieb der Opfer geriert.

Es ist dann ebenso geschmacklos wie verständlich, wenn Gegner der Maßnahmen auf ihren Demonstrationen sich einen Judenstern anstecken, auf dem nicht „Jud“ steht, sondern „geimpft“, womit die (faschistische) Trennung von Gesunden und Volksschädlingen angesprochen wird. Hier treffen einander die Trotteleien der Befürworter und der Gegner nicht nur im Verweigern beziehungsweise in der Obsoleterklärung der Debatte, sondern auch in der Identität der vermeintlich Solidarischen, in Wirklichkeit aber Zusammengerotteten. Und während die einen den anderen vorwerfen, sie wären Verschwörungstheoretiker, rechtsradikale Faschisten und Antisemiten, werfen die anderen den einen vor, sie würden die Menschenrechte abschaffen und seien ebenso Faschisten, wobei rechts oder links keine Rolle mehr spiele.

Dies soll jetzt nicht Äquidistanz zu den verschiedenen aktivistischen Fraktionen ausdrücken, im Gegenteil. Dass der Vorwurf des Faschismus, des Aushebelns der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheitsgarantien, des Sozialexperiments verallgemeinerter subjektiver Herrschaft erhoben wird, ist nur richtig. Dass er von unsicheren Kantonisten und unlauteren Trittbrettfahren der extremen Rechten erhoben wird, ist ein Phänomen, mit dem man sich auseinandersetzen muss, und zu gegebener Zeit auch mit angemessenen Mitteln der Militanz. Ebenso muss man aber der Verblödung in der Presse entgegentreten, die unisono davon schwadroniert, dass Rechtsradikale diese Demonstrationen organisieren und anleiten.

Wenn man sich an zurückliegende Manifestationen und Umzüge Rechtsradikaler zurückerinnert, wird man ein Häuflein von fünfzig bis hundert Recken vor dem geistigen Auge haben. Wenn am Ring in der Wiener Innenstadt zehntausend Leute demonstriert haben, dann stellt sich schon die Frage, wie Rechtsradikale diese Massen organisiert haben sollen. Jeder Identitäre, jeder Kickljünger, jede Heimatschollenliesl soll hundert Leute mobilisiert haben? Aber geh! Trotzdem wird in der Presse nur von Nazis, Esoterikern, Antisemiten und ähnlichen geredet, die diese Demonstrationen zu Wege gebracht haben sollen.

Sollte die Linke (eine radikale Linke, eine anarchistische Linke, eine marxistische Linke, eine wertabspaltungskritische Linke, eine differenzfeministische Linke, you name it) noch einen Rest von Anstand und Selbstbewusstsein haben, muss sie diese Frage offensiv diskutieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie eine Spaltung vorantreibt, die willfährige Autonome, staatstragende Schwarze Blocks oder demokratiebesoffene Arbeiterbewegte in geziemender Weise zurechtweist.

Und diese Zurechtweisung ist auch keine Frage mehr der vorgeblichen oder echten Solidarität, sondern eine Frage der rue de copain.