Vorwort

Der Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus wird als epochale Zäsur betrachtet, die der – wiederum so genannten – freien Marktwirtschaft zum globalen Durchbruch verholfen und in ihrem Gefolge die Demokratie und die Menschenrechte als Leitbilder und Legitimation gesellschaftlicher Ordnung etabliert haben soll. Gleichzeitig war damit nicht nur ein evidenter politischer und organisatorischer Niedergang der radikalen Linken verbunden – das hatte in Wirklichkeit schon früher begonnen und die Frage ist nur, ob dies schon in den 1930er Jahren geschehen war oder erst Ende der 1970er, als die revolutionäre Welle von 1968 verebbt war –, sondern auch die Diskreditierung der Vorstellungen von Kommunismus, ungeachtet der Tatsache, dass Kommunismus ein Versprechen der bürgerlichen Revolution war, und ebenso die Diskreditierung des Marxismus, der Marx’schen Methode der Analyse, ungeachtet der Tatsache, das Marxismus bislang das präziseste Werkzeug zur Beschreibung bürgerlicher Verhältnisse ist.


Marxismus war immer mit einer radikalen Linken in Zusammenhang gebracht worden, die sich ihrerseits, auch wenn der physische Ort Marx’scher Analyse nicht selten (und in den letzten Jahrzehnten immer stärker) die Akademien, Universitäten und Lehrstätten der bürgerlichen Ausbildung wurden, lange auf die Arbeiterbewegung bezog. Der Kollaps des staatlichen Ausdrucks des Erfolgs dieser Arbeiterbewegung in Ost und West, also der Abbau des Sozialstaats und des Klassenkompromisses im Westen, der Wechsel einer wie vorgeblich auch immer am Proletariat orientierten Klassenbasis des Regimes im Osten, hat diese Zusammenhänge zerstört, damit aber paradoxerweise auch die Frage nach der Art dieses Zusammenhangs auf eine Weise beantwortet, die nun den Bezug von Marxismus und Arbeiterbewegung auf die bürgerliche Gesellschaft negiert. Dieser Bezug bestand seitens der Arbeiterbewegung in der erfolgreichen Integration der Klasse und anderer ausgebeuteter Subjekte in die bürgerliche Nationalstaatlichkeit (oft oder eher immer verbunden mit der Aufgabe kommunistischer Prinzipien), seitens der Marx’schen Methode, dass ihr unterstellt wurde, für eben diese Nationalstaatlichkeit und den mit ihr verbundenen Terrorismus der Modernisierung und dessen Opfer verantwortlich zu sein. Dass es sich hier um politische und ideologische Kindesweglegung durch die bürgerlichen Gesellschaft selbst handelt, sollte klar sein.


Nach 1989 war eine Phase von Triumphalismus zu beobachten, die blühende Landschaften, wachsende Nationalökonomien und grassierende bürgerliche Freiheiten versprach. Bald darauf gab es business as usual, was die Übernahme und Konkurrenz von Betrieben und Industrien bedeutete, normale kapitalistische Betriebsamkeit, die den Startvorteil des Westens gegenüber den Wirtschaften im ehemaligen Ostblock ausnutzte, und neben dem Export von Menschenrechten den Export von Politikverdrossenheit. Die blühenden Landschaften, die mit dem Versprechen der EU-Mitgliedschaft gedüngt worden waren, stellten sich bald als die Schlachtfelder der Wirtschaftskriege, aber auch konventioneller militärischer Auseinandersetzungen heraus, die die Herstellung der gar nicht so neuen Ordnung begleiteten. Neu aber war, dass diese brave new world nun ohne Opposition auskommen musste.


Der vorliegende Band mit Essays von G. M. Tamás trägt dieser Situation Rechnung. Es wird hier versucht, die Zäsur von 1989 historisch, politisch und gesellschaftlich einzuordnen, und es lässt sich eine ruhige Sachlichkeit in den Beiträgen von G. M. Tamás’ bemerken, die auch das Entstehen und Wirken von Opposition weder ausschließt, noch in Illusionen und Fantasien als stark und mächtig heraufbeschwört. Das Ereignis von 1989 wird korrekt analysiert, ohne einem Katastrophismus zu frönen oder einer Indifferenz nachzugeben, die mit ihrer Realitätsverweigerung, dass ohnehin alles beim alten geblieben wäre, fast noch schädlicher ist als die Einschätzung, dass die Niederlage so vernichtend gewesen sei, dass man nur noch die Gewalt bürgerlicher Verhältnisse freudig und freiwillig begrüßen könne. G. M. Tamás hat die Auswahl seiner Beiträge nach diesen Kriterien getroffen, er zeigt und analysiert die Geschichte der Umwälzung von 1989, aber auch die Entstehung einer historischen Gemengelage, die von der Aufgeklärtheit absolutistischer Monarchien über bürgerliche Revolutionen und ihre flankierende Arbeiterbewegung (und andere Emanzipationen) zu den aktuellen postfaschistischen Zuständen geführt hat. Es lässt sich in den Essays auch die politische und philosophische Entwicklung des Autors nachvollziehen.


Diese Beiträge sind ursprünglich auf Englisch für internationale Zeitschriften entstanden und wurden von mir für diesen Band übersetzt. Ich habe schon früher einige Beiträge Tamás’ ins Deutsche übertragen, die in der österreichischen Zeitschrift „grundrisse. zeitschrift für linke theorie und debatte“ abgedruckt wurden1 . G. M. Tamás habe ich kennengelernt, als er mit den „grundrissen“ Kontakt aufgenommen hatte. Karl Reitter hatte mich damals zu einem Treffen mit einem Vortrag des marxistischen Philosophen und Oppositionellen für die Redaktion eingeladen, wobei er meinte, dies müsse mich interessieren, weil der Vortragende sich auf Autoren beziehe, die auch ich schätzte. So war es auch, aber mein Interesse wurde auch bald ein persönlicheres und aus dieser ersten Begegnung hat sich eine freundschaftliche Bekanntschaft entwickelt, die letztlich zu dieser Zusammenarbeit, die das Verlagshaus mandelbaum ermöglichte, geführt hat. Diese Veröffentlichung von einigen Schlüsseltexten G. M. Tamás’ soll aber nicht nur ein Freundschaftsdienst sein, sondern den Autor auch im deutschen Sprachraum seiner klarsichtigen und umfassenden Darstellungen wegen bekannt machen; Darstellungen, und das ist in der heutigen Zeit keineswegs selbstverständlich, die von einer fundierten theoretischen Grundlage ausgehen, die sich nicht auf schiere empirische Sozialforschung und modischen Relativismus und eitle Zitatenhuberei beschränkt, sondern einem soliden und fundierten gesellschaftlichen Engagement die Ehre erweist.


G. M. Tamás schreibt ein wunderschönes Englisch, das mich beim Übersetzen vor das Problem stellte, die Eleganz des ursprünglichen Textes im Deutschen zu erhalten und das Vergnügen am geschliffenen Stil auch in der Übersetzung dem Publikum zu bewahren. Im Text tauchen kursive Textstellen auf. Diese sind zum einen Hervorhebungen, die schon im englischen Original so dastehen, zum anderen sind Fremdworte (wiederum auch im englischen Original) kursiv gesetzt. Zum dritten stehen Ausdrücke kursiv, die im ursprünglichen Text deutsche Fremdworte sind. Wo es sich aber um Hervorhebungen oder um deutsche Fremdworte im Englischen handelt, wird sich aus dem Zusammenhang ergeben. Auf das in dieser Publikationsreihe übliche gendering wurde verzichtet, weil es auch in der englischen Vorlage nicht angewandt wurde, es sei denn in einigen besonderen Hervorhebungen, die dann auch im vorliegenden Text auftauchen. Die Texte sind mit Verweisen auf den ersten Erscheinungsort versehen sowie mit allfälligen Webadressen, auf denen die Aufsätze in der Originalsprache einsehbar sind. So können die Ergebnisse meiner Anstrengungen überprüft und eventuelle Schwächen oder mangelnde Klarheit im Ausdruck dem Übersetzer zugerechnet werden.

1 unter diesen links einsehbar:
http://www.grundrisse.net/grundrisse22/Gaspar_Miklos_Tamas.htm
(Ein ganz normaler Kapitalismus) 
http://www.grundrisse.net/grundrisse23/tamas_gaspar.htm (Konterrevolution gegen eine Konterrevolution)
http://www.grundrisse.net/grundrisse45/system_der_angst.htm (Vorläufige Thesen zu einem System der Angst)
http://www.grundrisse.net/grundrisse45/ueber_postfaschismus.htm (Über Postfaschismus. Wie Staatsbürgerschaft ein exklusives Privileg wird)