Technik als Religionsersatz?

Peter Fleissner

Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung der TU-Wien

Einleitung

Vom Standpunkt der Heutigen scheint die Frage, ob Technik die Religion ersetzt, müßig zu sein. Die Technik, womit hier die zeitgenössische, auf industrieller Basis entfaltete, gemeint ist, hat ihren Siegeszug überall hin angetreten, in die Fabriken, in die Büros, in die Wohnungen. Auch die Religionsgemeinschaften sind mit Technik infiziert. Der Papst läßt sich ein spezielles Fahrzeug bauen und benützt Flugzeuge für seine häufigen Reisen. In den USA sind Fernsehkirchen mit charismatischen Predigern eine alltägliche Erscheinung. Die Gotteshäuser kommen nicht ohne elektronische Verstärkeranlagen aus, die großen Religionsgemeinschaften sind in Hörfunk und Fernsehen, die kleineren immerhin im Internet präsent.

Ist das Verhältnis von Religion und Technik heute daher als Symbiose zu charakterisieren? Oder gibt es unüberwindliche Antagonismen zwischen ihnen? Eine Beantwortung solcher Fragen wird natürlich immer von der Auffassung abhängen, die den Begriffen unterlegt wird. Sollen Religion und Technik jeweils als Ganzheiten aufgefaßt werden oder muß man von ihnen eher im Plural sprechen? Soll unter Religion das lebendige Geflecht von Weltsicht, Wertungen, Glaubensinhalten und einer daraus resultierenden Lebenspraxis verstanden werden, oder eher die institutionell verankerte Form als Kirchen? Soll Technik als bloße Sammlung von Artefakten gesehen, oder soll auch der kulturelle Hintergrund der sie begründenden Naturwissenschaften mitgedacht werden?

Umschreibungsversuch

Um eine Ausgangsbasis für die weitere Diskussion zu schaffen, ist eine Entscheidung notwendig, die den Untersuchungsgegenstand festlegt. Ich tue das allerdings nicht in der Art einer mathematisch präzisen Definition, sondern versuche mich den Begriffsinhalten in einer bestimmten Weise anzunähern, oder genauer gesagt, ich konstruiere sie als Formen von Weltaneignung, allerdings nicht beliebig und willkürlich, sondern unter Berücksichtigung eigener praktischer und theoretischer Erfahrungen und Interpretationen. Religion figuriert in meiner privaten Weltsicht als vorwiegend gefühlsorientierte, erst in zweiter Linie kognitiv vermittelte menschliche Grundhaltung, der ein impliziter (durch Familientradition) oder expliziter (etwa als persönliches Erweckungserlebnis) Glaubensakt vorausgeht, während Technik eine vorwiegend praktische Form der Weltaneignung darstellt. Der mit Technikgebrauch ebenfalls notwendigerweise verbundene Glaubensakt ist wesentlich kurzfristiger als der religiöse. Ersterer beschränkt sich auf die Erwartung der Funktionstüchtigkeit und der praktischen Wirksamkeit der Artefakte oder Fertigkeiten. Der Glaube an die Funktionstüchtigkeit einzelner technischer Artefakte kann und muß - im Gegensatz zum religiösen - immer wieder revidiert werden. Der Glaube an die Technik als Ganze hingegen hat als Fortschrittsglaube ähnliche Züge wie der religiöse, allerdings ist er auf das Diesseits gerichtet. Aber genauso wie der religiöse Glaube ist er langfristig kaum widerlegbar, weil kein letzter Zeitpunkt gesetzt wird, ab dem die Glaubensentscheidung widerrufen werden muß. Der Glaubende wird, solange er lebt, auf die Erfüllung seiner Glaubenserwartung hoffen.

Einbettung in die Gesellschaft

Als soziale Phänomene betrachtet sind weder Religion noch Technik denkbar ohne ihre Einbettung in die Gesellschaft. Jenseits ihrer Verstrickungen in die jeweiligen kulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnisse können wir ihnen nicht gerecht werden. Zeitweise waren und sind Religion und Technik bestimmende Faktoren und Träger der gesellschaftlichen Verhältnisse, teilweise werden sie umgekehrt von den Umgebungsbedingungen mitgeprägt. Die Kirche verkörperte zeitweilig wesentliche militärische und wirtschaftliche Kräfte: Im Mittelalter trat sie als das wichtigste Zentrum des Feudalsystems in Erscheinung, das Westeuropa gegen die Mauren und gegen Ostrom vereinigte. Gleichzeitig stellte sie selbst als Spiegel der ökonomischen Bedingungen mit einem Drittel des katholischen Grundbesitzes den größten Feudalherrn in Europa dar. Für die Technik gilt Analoges: Die neuen Informationstechnologien verändern unsere Wissensorganisation und schaffen neue soziale und kulturelle Räume menschlicher Begegnung. Umgekehrt ist die Ausbreitung der jeweils modernsten Technik in den letzten zweihundert Jahren ohne die ökonomischen Kräfte des Marktes und das Konkurrenz- und Profitmotiv nicht verständlich.

Formen der Weltaneignung

Nach dieser Kurzcharakteristik der Einbettung von Religion und Technik in die Gesellschaft sollen die beiden von ihrer Funktion her als Weltaneignungsformen beleuchtet werden. Ich möchte Religion, im speziellen die christliche, als ein gesellschaftliches Subsystem von theologischen Inhalten und tradierten Ritualen auffassen, das von kollektiven Phantasmen getragen wird. Der katholische Katechismus und die Theologie vermitteln auf quasi-rationale Weise eine ganzheitliche Interpretation der Welt, in der sich Wünsche, Phantasien, Ängste und Hoffnungen der Menschen ausdrücken. Der Gottesdienst ermöglicht die Erfahrung von Gemeinschaft und dadurch die wechselseitige Rückversicherung der Richtigkeit des Glaubens. Das Gebet bietet eine unwiderlegliche Praxis religiöser Betätigung von hoher Suggestivkraft und Selbstbestätigung. Entweder Gott erhört mein Flehen (dann gibt es ihn), oder er erhört es (noch) nicht (dann muß ich weiterbeten). Glaubenszweifel werden durch persönliche Zuwendung und Gespräche gedämpft. Ein breiter Formenkreis von Emotionen kann im kirchlichen Raum ausgelebt werden. Die Beichte stellt einen Entschuldungsmechanismus von hoher Wirksamkeit zur Verfügung und hält dadurch gleichzeitig die Gläubigen in Abhängigkeit von der Institution. Durch den historischen Verlust der katholischen Kirche an materiellen Ressourcen und damit an gesellschaftlicher Macht treten in den letzten Jahrzehnten Widersprüche zu den persönlichen Bedürfnissen der Gläubigen stärker in Erscheinung. Die Aufrechterhaltung einer leibfeindlichen, sexualitätsfeindlichen und zum Teil frauenfeindlichen Lebenspraxis wird immer prekärer, zumal gerade die kirchlichen Würdenträger selbst immer weniger als Vorbilder geeignet sind. Andererseits bringen die verstärkten Forderungen der Gläubigen nach Partizipation in den religiösen Institutionen die Kirche mit ihrer traditionellen Feudalverfassung in Konflikt.

Während die großen Religionen mit wenigen Ausnahmen (z.B. der Buddhismus) eine feste, oft zentrale institutionelle Form und Verfassung, ein Sprachrohr, die dazugehörige schriftliche Überlieferung und ein Sanktionensystem besitzen, ist Technik nicht an eine einheitliche Institution gebunden, die sie verwalten würde oder für sie zuständig wäre. Am nächsten kämen auf der Technikseite den religiösen Institutionen die naturwissenschaftlich ausgerichteten Gesellschaften, Akademien und Einrichtungen des mittleren und höheren Bildungswesens. Die österreichische Akademie der Wissenschaften hat sich etwa seit ihrer Gründung im Jahre 1947 im Gegensatz zu den theologisch gegängelten Universitäten als ausschließlich weltlich orientierte Wissenschaftlergemeinschaft verstanden. Theologen hatten und haben bis heute keinen Zutritt.

Technik und ihre Herstellung ist in historischen Dimensionen gesellschaftlich immer bedeutender geworden. Naturwissenschaftliche Forschung ist keine Frage des Privatgelehrtentums mehr, sondern zu einem wichtigen Zweig im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aufgerückt, der sowohl von privaten Unternehmen als auch von staatlicher Seite (wenn auch derzeit abnehmend) gepflegt und betreut wird. Dafür gibt es gute Gründe. Die Globalisierung und Internationalisierung, die zunehmende Konkurrenz durch Schwellenländer, durch Niedriglöhne in Osteuropa und durch die Marktöffnung im Rahmen der Europäischen Union machen technische Innovationen zu strategischen Parametern wirtschaftlichen Überlebens.

Anfänglich war (und ist teilweise bis heute) moderne Technologie mit pathetischen Zügen befrachtet. Sie wurde, sei es in den Spekulationen des Bürgertums im Zuge der Französischen Revolution, sei es in Lenins Vorstellungen über die Entwicklung des revolutionären Rußland: "Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" (Lenin 1920: 513), als Grundlage für die Selbsterlösung der Menschheit angesehen. Heute hat sich das Pathos des Fortschrittsglaubens auf der theoretischen Ebene abgeschwächt und ist einer kritischeren Haltung gewichen, die technische Entwicklung geht jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Hatte die mechanische Technologie im vorigen Jahrhundert mit der Werkzeugmaschine die Stufe der Mechanisierung der Industrie ermöglicht, so befinden wir uns heute auf dem Übergang zur Automatisierung, nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft, im Bergbau und in den Dienstleistungen. Stürmische Entwicklungen im Bereich der Biologie, Gentechnik und Computertechnologie verändern nicht nur die Art der Erzeugung von Waren und Diensten und schlagen sich in Veränderungen unserer äußeren Umwelt nieder, sondern betreffen in ungeahntem Ausmaß direkt die Stellung und Identität des Individuums. Die Artificial Intelligence fordert die als einmalig angesehenen menschlichen Denkleistungen heraus und reduziert sie auf künstlich erzeugbare Eigenschaften, die auch anorganischer Materie abverlangt werden können. Die Bio- und Gentechnologie gibt die Macht der biologischen Selbstgestaltung in menschliche Hände. Beide Tendenzen verraten Handlungsmöglichkeiten, die bisher nur einem Schöpfergott zugesprochen wurden. Gleichzeitig treten die vereinzelten Individuen durch neuartige Kommunikationsinfrastrukturen im Prinzip in ein neues globales Verhältnis ein. Neue soziale Handlungsräume werden in der virtuellen Realität, z. B. im Internet, geschaffen und harren der Gestaltung.

Das Alte Testament und die Technik

Die Reaktion der jüdischen Religion (dokumentiert im Alten Testament) auf technische Neuerungen war ambivalent. Dort, wo der Glaube an Gott durch menschliche Selbsttätigkeit und Unabhängigkeit herausgefordert wird, greift Gott aktiv verhindernd ein, dort, wo es darum geht, daß Gottes Wille durchgeführt wird, hilft er schon mal mit einer technischen Bauanleitung aus. Gott versteht seine eigenen Interessen als Bewertungsmaßstab für die Technik.

Zum Beleg lese man im Ersten Buch Moses nach (1. Mose 4.17.-24.). Adams erster Sohn, Kain, wurde Bauer, Abel, der zweitgeborene, ein Schäfer. Kain wird - nach dem Mord an Abel - die Gründung der ersten Stadt zugeschrieben, die er nach seinem Sohn Henoch benannte. Was blieb ihm auch anderes übrig, da Gott zu ihm also gesprochen hatte: "Wenn Du den Acker bauen wirst, soll er Dir hinfort sein Vermögen nicht geben" (1. Mose 4.12.). Kains Nachkommenschaft, also die "böse" Seite von Adam und Evas Kindern, umfaßte die ersten Viehzüchter, Schmiede und Musikanten, also jene, "die in Hütten wohnten und Vieh zogen", wie auch "die Geiger und Pfeiffer", und den Thubalkain, "den Meister in allerlei Erz- und Eisenwerk", eine Art Hephaistos des Alten Testaments. Ihre Fähigkeiten werden vom Text des Alten Testaments explizit nicht weiter bewertet, weder positiv noch negativ.

In der Linie von Seth, dem dritten Sohn von Adam und Eva, fand nur Noah "Gnade vor Gott", alle anderen waren "verderbt vor Gottes Augen und voll Frevels" (1. Mose 6.11.), da sie sich von Gottes Geist "nicht mehr strafen lassen wollten". Auch nach einer Galgenfrist von "hundertzwanzig Jahren" blieb "der Menschen Bosheit groß" und "alles Dichten und Trachten ihres Herzens war nur böse immerdar." Und Gott sprach: "Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe." (1. Mose 6.7.) Allein Noah fand Gnade vor dem Herrn. Der Bauplan der Arche zur Rettung Noahs und seiner unmittelbaren Umwelt wird zur Chefsache. Gott verrät als Schiffskonstrukteur im Originalton durchaus technisches Vorstellungsvermögen: "Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig. Und mache ihn also: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Weite und dreißig Ellen die Höhe..." (1. Mose 6.14. und 15.). Und Noah tat alles, was ihm Gott gebot, und rettete sich und seine Nachkommenschaft interessanterweise nicht durch ein übernatürliches Wunder, wie es im Alten Testament durchaus denkbar gewesen wäre, sondern mit technischen Mitteln unter Gottes Anleitung. Mit ähnlicher Akribie wie bei der Arche gibt Gott an Moses (2. Mose 24ff.) die Anleitung zum Bau des Tempels, der Bundeslade und aller damit in Verbindung stehenden Gerätschaften.

In der Nachfolge Noahs tritt der große Jäger Nimrod auf, dessen Reich mit den Städten Babel, Erech, Akkad und Chalne im Lande Sinear begonnen hat, und dem die Gründung von Assur, Ninive, Rehoboth-Ir, Kalath und Resen zugeschrieben wird. Gottes Neugier wurde in Babel von einer technischen Errungenschaft der Menschen, von einem Turmbau, "des Spitze bis an den Himmel reiche", erweckt, sodaß er herniederfuhr, "daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten". Um den Bau in technikfeindlicher Manier zu verhindern, verwirrt er ihre bisher einheitliche Sprache, "daß keiner des anderen Sprache verstehe! Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, daß sie mußten aufhören, die Stadt zu bauen" (1. Mose 11.8.). Obwohl wir kaum explizite textliche Hinweise besitzen, kann angenommen werden, daß die moderne Bautechnik nach dem Alten Testament von Gott als Auflehnung der Menschen gegen ihn empfunden wird, als Frevel gegen sein Schöpfungsmonopol.

Das Neue Testament scheint sich übrigens im Pfingstereignis auf den mißglückten Turmbau zu beziehen. In einem Akt der Wiedergutmachung vollbringt Gott nach der Himmelfahrt Christi das umgekehrte Wunder zur babylonischen Sprachverwirrung. Von den anwesenden Vertretern der damaligen bekannten Welt, von Parthern und Medern, Ägyptern und Libyern, den Kretern und Arabern "hörte ein jeglicher, daß sie (Männer aus Galiläa) mit seiner Sprache redeten" (Apostelgeschichte 2.6). Damit zeichnet sich meiner Meinung nach der Übergang von einer Stammesreligion zu einer Weltreligion ab, die nicht durch Sprachgrenzen beschränkt bleiben sollte.




Ein Zusammenhang zwischen Religion und Technik

Man würde der tatsächlichen Rolle von Technik und Religion nicht gerecht, teilte man etwa wie Jakob Burkhardt, der berühmte Historiker des vorigen Jahrhunderts, der Technik, Kunst und Literatur die schöpferische, dem Staat und der Religion die repressive Funktion in der Kultur zu. Genauso wenig stimmig scheint mir die technikpessimistische Sicht, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts - legitimiert durch den Nuklearwaffeneinsatz in Hiroshima und Nagasaki, Kernreaktorkatastrophen, Treibhauseffekt, Umweltzerstörung etc. - Technik generell verteufelt.

Betrachtet man Religion aus einer längerfristigen Perspektive, sollte man sich auch mit den Denkstrukturen und Bildern beschäftigen, die von ihr hervorgebracht wurden. Man kann in den magischen Praktiken der frühen Menschen der Handlungsstruktur und Funktion nach phantastische Vorläufer der modernen Technik sehen, ebenso wie sich die Alchimie als Keimform der modernen Chemie betrachten läßt. Diese Frühformen legten im Unbewußten jene Bahnen, auf denen die spätere Naturwissenschaft aufbauen konnte und ihre Motivation fand.

Meiner Meinung nach geht aber die Leistung der Religionen für unser heutiges Bewußtsein, unsere Wünsche, Phantasien und Inspirationen noch viel weiter. Betrachten wir etwa den von den monotheistischen Religionen geschaffenen Gottesbegriff oder die Überlieferungen vom Paradies, der Erlösung und dem Leben nach dem Tode, also vom Ursprung und vom Ende der Welt. Diese Bilder - oder vielleicht eher die dahinterliegenden Wünsche - haben eine größere Reichweite besessen als bloß den Kreis der religiösen Institutionen und der Gläubigen. Sie haben Wissenschaften und Künste inspiriert. Auf ihrem Boden sind philosophische Systeme entstanden, die sich im Bewußtsein der AutorInnen in Gegensatz zu den kirchlichen Lehren entwickelten, aber dennoch etliche Züge von ihnen übernahmen: Obwohl das Bürgertum seit der französischen Revolution den Atheismus auf seine Fahnen geheftet hat, war es nicht gegen die Versuchung gefeit, Götter zu verehren. So wurden Robespierre 1794 in einer großartigen Liturgie der Vernunft göttliche Ehren zuteil, nur wenige Tage bevor er selbst das Schicksal erlitt, das er an anderen hatte vollziehen lassen.

Was könnte der bleibende Kern der religiösen Überlieferung sein, der immer noch wirksam ist, und daher wert, daß wir uns mit ihm beschäftigen? Eine erste Antwort auf diese Frage finden wir bei Ludwig Feuerbach, der in "Das Wesen des Christentums" 1841 schrieb: "Die Religion ist der Traum des menschlichen Geistes. Aber auch im Traume befinden wir uns nicht im Nichts oder im Himmel, sondern auf der Erde - im Reiche der Wirklichkeit, nur daß wir die wirklichen Dinge nicht im Lichte der Wirklichkeit und Notwendigkeit, sondern im entzückenden Scheine der Imagination und Willkür erblicken" (S. 49). "Wir haben bewiesen, daß der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, bewiesen, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des göttlichen Wesens das menschliche Wesen ist" (S. 371). In den berühmten "Thesen über Feuerbach" kritisiert ihn Karl Marx 1845 mit den Worten: "Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx, Engels 1971: S. 27). Marx schließt daraus, daß - um die Menschen konkret zu ändern - die Welt nicht nur verschieden interpretiert, sondern auch praktisch verändert werden müsse. Heute - nach dem Absterben des Realsozialismus - hat dieser Imperativ nichts von seiner Wichtigkeit verloren, allerdings ist die Frage des Wie bisher nicht überzeugend beantwortet worden.

Wenn Religion mit Feuerbach als massenhafter Traum aufgefaßt werden kann, sollte es ergiebig sein, die speziellen Trauminhalte festzustellen. Ein Traum repräsentiert nach Freud eine Wunscherfüllung. Mittels Traumdeutung könnte daher die dahinterliegende Wunsch- und Triebstruktur aufgedeckt werden, die sich durchaus nicht nur im Traumgeschehen, sondern auch in der Alltagspraxis als zielgerichtetes Handeln der Träumer niederschlagen sollte. Diese Alltagspraxis müßte historisch-empirisch nachgewiesen und mit den Wünschen verglichen werden können, nur dann könnte sich die obige Überlegung als wissenschaftlich haltbar erweisen.

Anstelle eines ausführlichen Beweises, der in der hier gebotenen Kürze unmöglich erbracht werden kann, möchte ich mit einigen Beispielen meine Überlegungen illustrieren: Eine schöne Sammlung von Wunschbildern stellt im Katholizismus die Eschatologie dar, die theologische Lehre von den "Letzten Dingen". Nach den Theologen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler "pflegt man die verschiedenen Teilmomente der einen radikalen Endgültigkeit ... des einen Menschen" wie folgt aufzuzählen: Tod, individuelles Gericht, Fegfeuer, Anschauung Gottes, Himmel, Hölle, Auferstehung des Fleisches, allgemeines Gericht, neuer Himmel und neue Erde (Rahner, Vorgrimler 1961: S. 225). Diese "Letzten Dinge" sind "nicht eine vorwegnehmende Reportage 'später' erfolgender Ereignisse, sondern der für den Menschen in seiner geistigen Freiheitsentscheidung notwendige Vorblick aus seiner durch das Ereignis Christi bestimmten heilsgeschichtlichen Situation auf die endgültige Vollendung dieser eigenen, schon eschatologisch bestimmten Daseinssituation." (Rahner, Vorgrimler 1961: S. 100). Ich sehe hier Elemente einer Erlösungsreligion, die auf eine bessere Zukunft orientiert. Die Suche nach dem Wie dieser Zukunft blieb nicht nur dem Christentum vorbehalten, sondern wurde zum Zentrum aller Sozialutopien. Nicht zuletzt war die Vision einer klassenlosen Gesellschaft als Perspektive des Sozialismus von ähnlichen Wünschen getragen.

Das "Jüngste Gericht" und der Markt

Eines dieser angeführten "Letzten Dinge" soll näher untersucht werden, namentlich das "Jüngste Gericht". In meiner Interpretation kommt darin die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit zum Ausdruck, allerdings einer Gerechtigkeit, die nicht von den Menschen selbst hergestellt werden kann (wie etwa durch Salomons Weisheit), sondern die von Gott kommt, einer Kraft von außen, die unabhängig von den Menschen wirkt, aber dennoch die Menschen nach deren Werken beurteilt, "gleich als ein Hirte die Schafe und Böcke scheidet" (Mt. 25, 32; Offenb. 20,11ff). Eine dem Jüngsten Gericht analoge Struktur finden wir im Markt.. Er belohnt in unpersönlicher Form die "Guten" und bestraft die "Bösen", er gewährt tatsächlich eine Art von Gerechtigkeit, und setzt an den Werken der Menschen an. Die Transformation vom Himmel auf die Erde hat allerdings ihre Spuren hinterlassen. Sie hat auch das Wertsystem mittransformiert, während die Struktur invariant bleibt. "Gut" wird zu "profitabel", "schlecht" wird gleichbedeutend mit "verlustträchtig". Von Karl Marx wird die Verschiebung des Wertsystems wie folgt charakterisiert: "Sie (die Bourgeoisie P.F.) hat die persönliche Würde in Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offen, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." (Marx, Engels 1961: S. 37).

Die Guten erben das Himmelreich, d.h. sie können mit Profit versehen weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen, während die Bösen die ökonomische Arena verlassen müssen und vom Markt vertrieben werden. Dem Markt wie Gott gegenüber sind alle Menschen gleich. Es kommt nicht auf das Geschlecht, die Hautfarbe, das Alter an. Es zählen einzig die Werke. Kein Mensch verliest den Richterspruch, das Urteil erfolgt durch eine vom einzelnen Menschen unabhängigen Instanz, ist aber nicht weniger bindend und schicksalsträchtig. Letztlich - so auch der heute noch weitverbreitete Glaube an die Marktwirtschaft - werde die lokale Dynamik des Marktes und seine effektivierende Funktion ins Paradies führen, in dem Glück und Wohlstand für alle herrscht.

Die göttliche Allmacht, das Geld und die Technik

Eine rationale Erklärung der Zusammenhänge zwischen menschlicher Grundbefindlichkeit, religiösen Vorstellungen und gesellschaftlichen bzw. technischen Innovationen läßt sich meines Erachtens wie folgt skizzieren: Die individuellen Allmachtsphantasien der frühen Kindheit und die Vorahnungen von der Macht der Gesellschaft bringen in bestimmten sozialen Systemen der frühen Menschheit die Phantasie einer äußerlichen, vom Menschen unabhängigen Institution hervor, die gleichzeitig Erklärungen für das Woher und das Wohin der Menschen verkörpert: den Schöpfergott, der allmächtig ist, der den Seinen im Kampf gegen ihre Feinden zur Seite steht und sie aus ihrem Elend erlöst. Gott trägt im Alten Testament die Züge eines eifersüchtigen, manchmal brutalen viehzüchtenden Stammeshäuptlings, also des damaligen Kristallisationspunktes gesellschaftlicher Macht. Im Neuen Testament erweitert sich angesichts des Römischen Weltreichs der Gesichtskreis der Gesellschaft - wie in der Praxis also in der Phantasie: Gott steigt vom Gott Israels zum Gott aller Menschen auf. Nicht mehr das Prinzip der Rache, sondern der Liebe und Vergebung bestimmt seine Handlungen. Gott weist sich in der Geheimen Offenbarung des Johannes als Stifter eines Neuen Reiches aus, der alle Tränen abwischt (allerdings nur von den Augen der Gerechten), der ein Paradies schafft, das am Ende der Welt das diesseitige Jammertal ablöst. Diese Vorstellungen sind in der christlichen Welt über die Jahrhunderte weitergegeben worden und waren bis heute Phantasmen, an die sich unsere Wünsche heften können. In meiner Interpretation sind sie aber nicht nur beliebige Hirngespinste, sondern stehen mit den vorhandenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung in enger Verbindung. Sie haben vorweggenommen, was einmal sein könnte, und erzeugen ein Wunsch-, Motivations- und Gedankenfeld, das durchaus handlungsmächtig und teilweise in Realität umgesetzt werden kann.

Die Allmacht Gottes ließe sich danach als verhüllte Darstellung der Macht der Gesellschaft anzusehen. Läßt sich eine weltliche Entsprechung dieser Macht aufweisen? In welcher Institution zeigt sich das gesellschaftliche Handlungsvermögen? Ich möchte zwei Antworten versuchen: Die erste verweist auf das Geld. Geld ist deshalb so faszinierend, weil es seinen Besitzern erlaubt, gesellschaftliche Macht für sich zu nützen. Es ist praktisch, da es jeder und jedem erlaubt, ein Stückchen dieser "Göttlichkeit", sprich, der Macht gesellschaftlicher Tätigkeit, über Arbeit aktualisierbar, in der Geldbörse mit sich zu tragen und - wenn erforderlich - auszugeben, also in einen Teil der gesellschaftlichen Kraft oder ihrer Ergebnisse umzusetzen. Der Vorteil dabei ist, daß man dabei nicht auf den Jüngsten Tag warten muß.

Schon im Alten Testament wurde im Tanz um das Goldene Kalb die Konkurrenz zwischen dem lebendigen Gott und dem im Edelmetall vergegenständlichten Reichtum der Gesellschaft deutlich. Damals siegte noch Gott, heute sind die Verhältnisse anders geworden.

Geld stellt ein gesellschaftliches Konstrukt dar, das gleichzeitig als allgemeine Ware ein "objektiviertes Zeichen" für gesellschaftliche Macht repräsentiert. Geld besitzt eine doppelte Existenz, einerseits als stoffliche (Münze) oder energetische (elektronisches Geld), als abstrakt-allgemeine symbolische Form. Diese entspricht abstrakt-allgemeinen emotionalen Zuständen der Menschen, etwa dem Geiz, dem Neid oder der Gewinnsucht, deren Objekt der Begierde nicht am einzelnen Gebrauchswert orientiert ist.

Technische Artefakte in Form von Konsumgütern hingegen unterstützen die individuelle Befriedigung von speziellen Bedürfnissen. Das Auto z.B. verleiht Prestige und Mobilität, der TV-Apparat erfüllt das Bedürfnis nach Unterhaltung usw. Die Möglichkeiten, die von Konsumtechnologien angeboten werden, stellen eine andere Form der Macht dar als jene, die das Geld vermittelt. Bei Technik handelt es sich um die Macht zur Bedürfnisbefriedigung und die Macht, sich Genüsse zu verschaffen.

Ich denke, daß man in diesem Zusammenhang Bedürfnisse verschiedener Kategorien unterscheiden muß. Die Grundbedürfnisse, Nahrung, Kleidung, Wohnung sind in ihrer Minimalvariante eher ein Reflex des Biologischen, in ihrer Alltagsausprägung ein historisch gewachsener kultureller Akt. Bedürfnisse abstrakt-allgemeinener Art (nach Frieden, Gerechtigkeit, Liebe usw.) werden in vielen Fällen im religiösen Diskurs tradiert und präsent gehalten. Sie geben Anstoß und Motive für Forschungen und für die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen. Dazu einige Beispiele: Die Geriatrie profitiert in diesem Sinne vom Traum vom ewigen Leben, die Wunderheilungen des Neuen Testaments inspirieren die Medizin, die Schöpferkraft Gottes steht Pate bei Dolly, dem aus Zellen eines erwachsenen Tieres geklonten Schafes. Die erstaunliche Faszination der Massenmedien wie des Publikums durch die neuesten Konsumtechnologien wie das Internet und den Infohighway läßt sich meiner Meinung nach nicht zur Gänze aus kurzfristigen ökonomischen oder politischen Motiven erklären. Hinter dieser Faszination scheint eine längerfristig wirksame kulturhistorische Triebkraft zu stehen, die trotz aller modernen Wissenschaft aus dem christlich geprägten mythischen Bewußtsein der entwickelten Welt und dem der zeitgenössischen narzistischen Persönlichkeit gespeist wird. Diese Triebkraft konkretisiert sich in einer Phase, in der sich die menschliche Spezies auf diesem Planeten in einer bestandsgefährdenden Krise befindet, und daher für Veränderung (aber auch für Polarisierungen) zugänglicher wird als zuvor. Aus den neuen Medien leuchten göttliche Eigenschaften hervor, die den Menschen zugänglich werden könnten: Allwissenheit und Allgegenwart. Mit der Realisierung der "Informationsgesellschaft" ginge - in aller zu berücksichtigenden Ambivalenz - ein weiteres Stück des Wortes der Schlange aus dem Ersten Buch Moses in Erfüllung, die den Menschen im Paradies verheißen hat: "Ihr werdet sein wie Gott!" (1. Mose 3.5). Leider sind damit noch nicht alle Eigenschaften Gottes auf die Erde herabgestiegen: Noch immer fehlen Barmherzigkeit, Liebe und Weisheit.

Um abschließend auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Nicht die Religion als solche wird durch die Technik ersetzt, sondern die Religion formuliert in phantastischer Weise tiefliegende Bedürfnisse der Menschen, die durch Technik praktisch und konkret erfüllt werden können. Der Schöpfergott wird durch den Schöpfer Mensch abgelöst, der in die Lage kommt, sich seine Wünsche selbst zu erfüllen.

Literatur

Die Bibel, Die Heilige Schrift nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, United Bible Societies, London und Edinbourgh 1949

Feuerbach, L., Das Wesen des Christentums, Reclam, Leipzig 1957

Lenin, W. I., Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommisare, 22. Dezember 1920, in: Lenin, W. I., Werke, Band 31, Dietz Verlag, Berlin 1962:483-515

Marx, K., Engels, F., Ausgewählte Werke, Progress Verlag, Moskau 1971

Rahner, K., H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1961