Vom Standpunkt der Heutigen scheint die Frage, ob
Technik die Religion ersetzt, müßig zu sein. Die Technik,
womit hier die zeitgenössische, auf industrieller Basis entfaltete,
gemeint ist, hat ihren Siegeszug überall hin angetreten,
in die Fabriken, in die Büros, in die Wohnungen. Auch die
Religionsgemeinschaften sind mit Technik infiziert. Der Papst
läßt sich ein spezielles Fahrzeug bauen und benützt
Flugzeuge für seine häufigen Reisen. In den USA sind
Fernsehkirchen mit charismatischen Predigern eine alltägliche
Erscheinung. Die Gotteshäuser kommen nicht ohne elektronische
Verstärkeranlagen aus, die großen Religionsgemeinschaften
sind in Hörfunk und Fernsehen, die kleineren immerhin im
Internet präsent.
Ist das Verhältnis von Religion und Technik
heute daher als Symbiose zu charakterisieren? Oder gibt es unüberwindliche
Antagonismen zwischen ihnen? Eine Beantwortung solcher Fragen
wird natürlich immer von der Auffassung abhängen, die
den Begriffen unterlegt wird. Sollen Religion und Technik jeweils
als Ganzheiten aufgefaßt werden oder muß man von ihnen
eher im Plural sprechen? Soll unter Religion das lebendige Geflecht
von Weltsicht, Wertungen, Glaubensinhalten und einer daraus resultierenden
Lebenspraxis verstanden werden, oder eher die institutionell verankerte
Form als Kirchen? Soll Technik als bloße Sammlung von Artefakten
gesehen, oder soll auch der kulturelle Hintergrund der sie begründenden
Naturwissenschaften mitgedacht werden?
Um eine Ausgangsbasis für die weitere Diskussion
zu schaffen, ist eine Entscheidung notwendig, die den Untersuchungsgegenstand
festlegt. Ich tue das allerdings nicht in der Art einer mathematisch
präzisen Definition, sondern versuche mich den Begriffsinhalten
in einer bestimmten Weise anzunähern, oder genauer gesagt,
ich konstruiere sie als Formen von Weltaneignung, allerdings nicht
beliebig und willkürlich, sondern unter Berücksichtigung
eigener praktischer und theoretischer Erfahrungen und Interpretationen.
Religion figuriert in meiner privaten Weltsicht als vorwiegend
gefühlsorientierte, erst in zweiter Linie kognitiv vermittelte
menschliche Grundhaltung, der ein impliziter (durch Familientradition)
oder expliziter (etwa als persönliches Erweckungserlebnis)
Glaubensakt vorausgeht, während Technik eine vorwiegend praktische
Form der Weltaneignung darstellt. Der mit Technikgebrauch ebenfalls
notwendigerweise verbundene Glaubensakt ist wesentlich kurzfristiger
als der religiöse. Ersterer beschränkt sich auf die
Erwartung der Funktionstüchtigkeit und der praktischen Wirksamkeit
der Artefakte oder Fertigkeiten. Der Glaube an die Funktionstüchtigkeit
einzelner technischer Artefakte kann und muß - im Gegensatz
zum religiösen - immer wieder revidiert werden. Der Glaube
an die Technik als Ganze hingegen hat als Fortschrittsglaube ähnliche
Züge wie der religiöse, allerdings ist er auf das Diesseits
gerichtet. Aber genauso wie der religiöse Glaube ist er langfristig
kaum widerlegbar, weil kein letzter Zeitpunkt gesetzt wird, ab
dem die Glaubensentscheidung widerrufen werden muß. Der
Glaubende wird, solange er lebt, auf die Erfüllung seiner
Glaubenserwartung hoffen.
Als soziale Phänomene betrachtet sind weder
Religion noch Technik denkbar ohne ihre Einbettung in die Gesellschaft.
Jenseits ihrer Verstrickungen in die jeweiligen kulturellen, politischen
und ökonomischen Verhältnisse können wir ihnen
nicht gerecht werden. Zeitweise waren und sind Religion und Technik
bestimmende Faktoren und Träger der gesellschaftlichen Verhältnisse,
teilweise werden sie umgekehrt von den Umgebungsbedingungen mitgeprägt.
Die Kirche verkörperte zeitweilig wesentliche militärische
und wirtschaftliche Kräfte: Im Mittelalter trat sie als das
wichtigste Zentrum des Feudalsystems in Erscheinung, das Westeuropa
gegen die Mauren und gegen Ostrom vereinigte. Gleichzeitig stellte
sie selbst als Spiegel der ökonomischen Bedingungen mit einem
Drittel des katholischen Grundbesitzes den größten
Feudalherrn in Europa dar. Für die Technik gilt Analoges:
Die neuen Informationstechnologien verändern unsere Wissensorganisation
und schaffen neue soziale und kulturelle Räume menschlicher
Begegnung. Umgekehrt ist die Ausbreitung der jeweils modernsten
Technik in den letzten zweihundert Jahren ohne die ökonomischen
Kräfte des Marktes und das Konkurrenz- und Profitmotiv nicht
verständlich.
Nach dieser Kurzcharakteristik der Einbettung von
Religion und Technik in die Gesellschaft sollen die beiden von
ihrer Funktion her als Weltaneignungsformen beleuchtet werden.
Ich möchte Religion, im speziellen die christliche, als ein
gesellschaftliches Subsystem von theologischen Inhalten und tradierten
Ritualen auffassen, das von kollektiven Phantasmen getragen wird.
Der katholische Katechismus und die Theologie vermitteln auf quasi-rationale
Weise eine ganzheitliche Interpretation der Welt, in der sich
Wünsche, Phantasien, Ängste und Hoffnungen der Menschen
ausdrücken. Der Gottesdienst ermöglicht die Erfahrung
von Gemeinschaft und dadurch die wechselseitige Rückversicherung
der Richtigkeit des Glaubens. Das Gebet bietet eine unwiderlegliche
Praxis religiöser Betätigung von hoher Suggestivkraft
und Selbstbestätigung. Entweder Gott erhört mein Flehen
(dann gibt es ihn), oder er erhört es (noch) nicht (dann
muß ich weiterbeten). Glaubenszweifel werden durch persönliche
Zuwendung und Gespräche gedämpft. Ein breiter Formenkreis
von Emotionen kann im kirchlichen Raum ausgelebt werden. Die Beichte
stellt einen Entschuldungsmechanismus von hoher Wirksamkeit zur
Verfügung und hält dadurch gleichzeitig die Gläubigen
in Abhängigkeit von der Institution. Durch den historischen
Verlust der katholischen Kirche an materiellen Ressourcen und
damit an gesellschaftlicher Macht treten in den letzten Jahrzehnten
Widersprüche zu den persönlichen Bedürfnissen der
Gläubigen stärker in Erscheinung. Die Aufrechterhaltung
einer leibfeindlichen, sexualitätsfeindlichen und zum Teil
frauenfeindlichen Lebenspraxis wird immer prekärer, zumal
gerade die kirchlichen Würdenträger selbst immer weniger
als Vorbilder geeignet sind. Andererseits bringen die verstärkten
Forderungen der Gläubigen nach Partizipation in den religiösen
Institutionen die Kirche mit ihrer traditionellen Feudalverfassung
in Konflikt.
Während die großen Religionen mit wenigen
Ausnahmen (z.B. der Buddhismus) eine feste, oft zentrale institutionelle
Form und Verfassung, ein Sprachrohr, die dazugehörige schriftliche
Überlieferung und ein Sanktionensystem besitzen, ist Technik
nicht an eine einheitliche Institution gebunden, die sie verwalten
würde oder für sie zuständig wäre. Am nächsten
kämen auf der Technikseite den religiösen Institutionen
die naturwissenschaftlich ausgerichteten Gesellschaften, Akademien
und Einrichtungen des mittleren und höheren Bildungswesens.
Die österreichische Akademie der Wissenschaften hat sich
etwa seit ihrer Gründung im Jahre 1947 im Gegensatz zu den
theologisch gegängelten Universitäten als ausschließlich
weltlich orientierte Wissenschaftlergemeinschaft verstanden. Theologen
hatten und haben bis heute keinen Zutritt.
Technik und ihre Herstellung ist in historischen
Dimensionen gesellschaftlich immer bedeutender geworden. Naturwissenschaftliche
Forschung ist keine Frage des Privatgelehrtentums mehr, sondern
zu einem wichtigen Zweig im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
aufgerückt, der sowohl von privaten Unternehmen als auch
von staatlicher Seite (wenn auch derzeit abnehmend) gepflegt und
betreut wird. Dafür gibt es gute Gründe. Die Globalisierung
und Internationalisierung, die zunehmende Konkurrenz durch Schwellenländer,
durch Niedriglöhne in Osteuropa und durch die Marktöffnung
im Rahmen der Europäischen Union machen technische Innovationen
zu strategischen Parametern wirtschaftlichen Überlebens.
Anfänglich war (und ist teilweise bis heute)
moderne Technologie mit pathetischen Zügen befrachtet. Sie
wurde, sei es in den Spekulationen des Bürgertums im Zuge
der Französischen Revolution, sei es in Lenins Vorstellungen
über die Entwicklung des revolutionären Rußland:
"Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung
des ganzen Landes" (Lenin 1920: 513), als Grundlage für
die Selbsterlösung der Menschheit angesehen. Heute hat sich
das Pathos des Fortschrittsglaubens auf der theoretischen Ebene
abgeschwächt und ist einer kritischeren Haltung gewichen,
die technische Entwicklung geht jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit
weiter. Hatte die mechanische Technologie im vorigen Jahrhundert
mit der Werkzeugmaschine die Stufe der Mechanisierung der Industrie
ermöglicht, so befinden wir uns heute auf dem Übergang
zur Automatisierung, nicht nur in der Industrie, sondern auch
in der Landwirtschaft, im Bergbau und in den Dienstleistungen.
Stürmische Entwicklungen im Bereich der Biologie, Gentechnik
und Computertechnologie verändern nicht nur die Art der Erzeugung
von Waren und Diensten und schlagen sich in Veränderungen
unserer äußeren Umwelt nieder, sondern betreffen in
ungeahntem Ausmaß direkt die Stellung und Identität
des Individuums. Die Artificial Intelligence fordert die als einmalig
angesehenen menschlichen Denkleistungen heraus und reduziert sie
auf künstlich erzeugbare Eigenschaften, die auch anorganischer
Materie abverlangt werden können. Die Bio- und Gentechnologie
gibt die Macht der biologischen Selbstgestaltung in menschliche
Hände. Beide Tendenzen verraten Handlungsmöglichkeiten,
die bisher nur einem Schöpfergott zugesprochen wurden. Gleichzeitig
treten die vereinzelten Individuen durch neuartige Kommunikationsinfrastrukturen
im Prinzip in ein neues globales Verhältnis ein. Neue soziale
Handlungsräume werden in der virtuellen Realität, z.
B. im Internet, geschaffen und harren der Gestaltung.
Die Reaktion der jüdischen Religion (dokumentiert
im Alten Testament) auf technische Neuerungen war ambivalent.
Dort, wo der Glaube an Gott durch menschliche Selbsttätigkeit
und Unabhängigkeit herausgefordert wird, greift Gott aktiv
verhindernd ein, dort, wo es darum geht, daß Gottes Wille
durchgeführt wird, hilft er schon mal mit einer technischen
Bauanleitung aus. Gott versteht seine eigenen Interessen als Bewertungsmaßstab
für die Technik.
Zum Beleg lese man im Ersten Buch Moses nach (1.
Mose 4.17.-24.). Adams erster Sohn, Kain, wurde Bauer, Abel, der
zweitgeborene, ein Schäfer. Kain wird - nach dem Mord an
Abel - die Gründung der ersten Stadt zugeschrieben, die er
nach seinem Sohn Henoch benannte. Was blieb ihm auch anderes übrig,
da Gott zu ihm also gesprochen hatte: "Wenn Du den Acker
bauen wirst, soll er Dir hinfort sein Vermögen nicht geben"
(1. Mose 4.12.). Kains Nachkommenschaft, also die "böse"
Seite von Adam und Evas Kindern, umfaßte die ersten Viehzüchter,
Schmiede und Musikanten, also jene, "die in Hütten wohnten
und Vieh zogen", wie auch "die Geiger und Pfeiffer",
und den Thubalkain, "den Meister in allerlei Erz- und Eisenwerk",
eine Art Hephaistos des Alten Testaments. Ihre Fähigkeiten
werden vom Text des Alten Testaments explizit nicht weiter bewertet,
weder positiv noch negativ.
In der Linie von Seth, dem dritten Sohn von Adam
und Eva, fand nur Noah "Gnade vor Gott", alle anderen
waren "verderbt vor Gottes Augen und voll Frevels" (1.
Mose 6.11.), da sie sich von Gottes Geist "nicht mehr strafen
lassen wollten". Auch nach einer Galgenfrist von "hundertzwanzig
Jahren" blieb "der Menschen Bosheit groß"
und "alles Dichten und Trachten ihres Herzens war nur böse
immerdar." Und Gott sprach: "Ich will die Menschen,
die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen
an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die
Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich
sie gemacht habe." (1. Mose 6.7.) Allein Noah fand Gnade
vor dem Herrn. Der Bauplan der Arche zur Rettung Noahs und seiner
unmittelbaren Umwelt wird zur Chefsache. Gott verrät als
Schiffskonstrukteur im Originalton durchaus technisches Vorstellungsvermögen:
"Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern
darin und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig. Und mache
ihn also: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen
die Weite und dreißig Ellen die Höhe..." (1. Mose
6.14. und 15.). Und Noah tat alles, was ihm Gott gebot, und rettete
sich und seine Nachkommenschaft interessanterweise nicht durch
ein übernatürliches Wunder, wie es im Alten Testament
durchaus denkbar gewesen wäre, sondern mit technischen Mitteln
unter Gottes Anleitung. Mit ähnlicher Akribie wie bei der
Arche gibt Gott an Moses (2. Mose 24ff.) die Anleitung zum Bau
des Tempels, der Bundeslade und aller damit in Verbindung stehenden
Gerätschaften.
In der Nachfolge Noahs tritt der große Jäger
Nimrod auf, dessen Reich mit den Städten Babel, Erech, Akkad
und Chalne im Lande Sinear begonnen hat, und dem die Gründung
von Assur, Ninive, Rehoboth-Ir, Kalath und Resen zugeschrieben
wird. Gottes Neugier wurde in Babel von einer technischen Errungenschaft
der Menschen, von einem Turmbau, "des Spitze bis an den Himmel
reiche", erweckt, sodaß er herniederfuhr, "daß
er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten".
Um den Bau in technikfeindlicher Manier zu verhindern, verwirrt
er ihre bisher einheitliche Sprache, "daß keiner des
anderen Sprache verstehe! Also zerstreute sie der Herr von dort
in alle Länder, daß sie mußten aufhören,
die Stadt zu bauen" (1. Mose 11.8.). Obwohl wir kaum explizite
textliche Hinweise besitzen, kann angenommen werden, daß
die moderne Bautechnik nach dem Alten Testament von Gott als Auflehnung
der Menschen gegen ihn empfunden wird, als Frevel gegen sein Schöpfungsmonopol.
Das Neue Testament scheint sich übrigens im
Pfingstereignis auf den mißglückten Turmbau zu beziehen.
In einem Akt der Wiedergutmachung vollbringt Gott nach der Himmelfahrt
Christi das umgekehrte Wunder zur babylonischen Sprachverwirrung.
Von den anwesenden Vertretern der damaligen bekannten Welt, von
Parthern und Medern, Ägyptern und Libyern, den Kretern und
Arabern "hörte ein jeglicher, daß sie (Männer
aus Galiläa) mit seiner Sprache redeten" (Apostelgeschichte
2.6). Damit zeichnet sich meiner Meinung nach der Übergang
von einer Stammesreligion zu einer Weltreligion ab, die nicht
durch Sprachgrenzen beschränkt bleiben sollte.
Man würde der tatsächlichen Rolle von Technik
und Religion nicht gerecht, teilte man etwa wie Jakob Burkhardt,
der berühmte Historiker des vorigen Jahrhunderts, der Technik,
Kunst und Literatur die schöpferische, dem Staat und der
Religion die repressive Funktion in der Kultur zu. Genauso wenig
stimmig scheint mir die technikpessimistische Sicht, die in der
zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts - legitimiert durch den
Nuklearwaffeneinsatz in Hiroshima und Nagasaki, Kernreaktorkatastrophen,
Treibhauseffekt, Umweltzerstörung etc. - Technik generell
verteufelt.
Betrachtet man Religion aus einer längerfristigen
Perspektive, sollte man sich auch mit den Denkstrukturen und Bildern
beschäftigen, die von ihr hervorgebracht wurden. Man kann
in den magischen Praktiken der frühen Menschen der Handlungsstruktur
und Funktion nach phantastische Vorläufer der modernen Technik
sehen, ebenso wie sich die Alchimie als Keimform der modernen
Chemie betrachten läßt. Diese Frühformen legten
im Unbewußten jene Bahnen, auf denen die spätere Naturwissenschaft
aufbauen konnte und ihre Motivation fand.
Meiner Meinung nach geht aber die Leistung der Religionen
für unser heutiges Bewußtsein, unsere Wünsche,
Phantasien und Inspirationen noch viel weiter. Betrachten wir
etwa den von den monotheistischen Religionen geschaffenen Gottesbegriff
oder die Überlieferungen vom Paradies, der Erlösung
und dem Leben nach dem Tode, also vom Ursprung und vom Ende der
Welt. Diese Bilder - oder vielleicht eher die dahinterliegenden
Wünsche - haben eine größere Reichweite besessen
als bloß den Kreis der religiösen Institutionen und
der Gläubigen. Sie haben Wissenschaften und Künste inspiriert.
Auf ihrem Boden sind philosophische Systeme entstanden, die sich
im Bewußtsein der AutorInnen in Gegensatz zu den kirchlichen
Lehren entwickelten, aber dennoch etliche Züge von ihnen
übernahmen: Obwohl das Bürgertum seit der französischen
Revolution den Atheismus auf seine Fahnen geheftet hat, war es
nicht gegen die Versuchung gefeit, Götter zu verehren. So
wurden Robespierre 1794 in einer großartigen Liturgie der
Vernunft göttliche Ehren zuteil, nur wenige Tage bevor er
selbst das Schicksal erlitt, das er an anderen hatte vollziehen
lassen.
Was könnte der bleibende Kern der religiösen
Überlieferung sein, der immer noch wirksam ist, und daher
wert, daß wir uns mit ihm beschäftigen? Eine erste
Antwort auf diese Frage finden wir bei Ludwig Feuerbach, der in
"Das Wesen des Christentums" 1841 schrieb: "Die
Religion ist der Traum des menschlichen Geistes. Aber auch im
Traume befinden wir uns nicht im Nichts oder im Himmel, sondern
auf der Erde - im Reiche der Wirklichkeit, nur daß wir die
wirklichen Dinge nicht im Lichte der Wirklichkeit und Notwendigkeit,
sondern im entzückenden Scheine der Imagination und Willkür
erblicken" (S. 49). "Wir haben bewiesen, daß der
Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher
ist, bewiesen, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie,
des göttlichen Wesens das menschliche Wesen ist" (S.
371). In den berühmten "Thesen über Feuerbach"
kritisiert ihn Karl Marx 1845 mit den Worten: "Feuerbach
löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen
auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum
innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble
der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx, Engels 1971:
S. 27). Marx schließt daraus, daß - um die Menschen
konkret zu ändern - die Welt nicht nur verschieden interpretiert,
sondern auch praktisch verändert werden müsse. Heute
- nach dem Absterben des Realsozialismus - hat dieser Imperativ
nichts von seiner Wichtigkeit verloren, allerdings ist die Frage
des Wie bisher nicht überzeugend beantwortet worden.
Wenn Religion mit Feuerbach als massenhafter Traum
aufgefaßt werden kann, sollte es ergiebig sein, die speziellen
Trauminhalte festzustellen. Ein Traum repräsentiert nach
Freud eine Wunscherfüllung. Mittels Traumdeutung könnte
daher die dahinterliegende Wunsch- und Triebstruktur aufgedeckt
werden, die sich durchaus nicht nur im Traumgeschehen, sondern
auch in der Alltagspraxis als zielgerichtetes Handeln der Träumer
niederschlagen sollte. Diese Alltagspraxis müßte historisch-empirisch
nachgewiesen und mit den Wünschen verglichen werden können,
nur dann könnte sich die obige Überlegung als wissenschaftlich
haltbar erweisen.
Anstelle eines ausführlichen Beweises, der in
der hier gebotenen Kürze unmöglich erbracht werden kann,
möchte ich mit einigen Beispielen meine Überlegungen
illustrieren: Eine schöne Sammlung von Wunschbildern stellt
im Katholizismus die Eschatologie dar, die theologische Lehre
von den "Letzten Dingen". Nach den Theologen Karl Rahner
und Herbert Vorgrimler "pflegt man die verschiedenen Teilmomente
der einen radikalen Endgültigkeit ... des einen Menschen"
wie folgt aufzuzählen: Tod, individuelles Gericht, Fegfeuer,
Anschauung Gottes, Himmel, Hölle, Auferstehung des Fleisches,
allgemeines Gericht, neuer Himmel und neue Erde (Rahner, Vorgrimler
1961: S. 225). Diese "Letzten Dinge" sind "nicht
eine vorwegnehmende Reportage 'später' erfolgender Ereignisse,
sondern der für den Menschen in seiner geistigen Freiheitsentscheidung
notwendige Vorblick aus seiner durch das Ereignis Christi bestimmten
heilsgeschichtlichen Situation auf die endgültige Vollendung
dieser eigenen, schon eschatologisch bestimmten Daseinssituation."
(Rahner, Vorgrimler 1961: S. 100). Ich sehe hier Elemente einer
Erlösungsreligion, die auf eine bessere Zukunft orientiert.
Die Suche nach dem Wie dieser Zukunft blieb nicht nur dem Christentum
vorbehalten, sondern wurde zum Zentrum aller Sozialutopien. Nicht
zuletzt war die Vision einer klassenlosen Gesellschaft als Perspektive
des Sozialismus von ähnlichen Wünschen getragen.
Eines dieser angeführten "Letzten Dinge"
soll näher untersucht werden, namentlich das "Jüngste
Gericht". In meiner Interpretation kommt darin die Sehnsucht
der Menschen nach Gerechtigkeit zum Ausdruck, allerdings einer
Gerechtigkeit, die nicht von den Menschen selbst hergestellt werden
kann (wie etwa durch Salomons Weisheit), sondern die von Gott
kommt, einer Kraft von außen, die unabhängig von den
Menschen wirkt, aber dennoch die Menschen nach deren Werken beurteilt,
"gleich als ein Hirte die Schafe und Böcke scheidet"
(Mt. 25, 32; Offenb. 20,11ff). Eine dem Jüngsten Gericht
analoge Struktur finden wir im Markt.. Er belohnt in unpersönlicher
Form die "Guten" und bestraft die "Bösen",
er gewährt tatsächlich eine Art von Gerechtigkeit, und
setzt an den Werken der Menschen an. Die Transformation vom Himmel
auf die Erde hat allerdings ihre Spuren hinterlassen. Sie hat
auch das Wertsystem mittransformiert, während die Struktur
invariant bleibt. "Gut" wird zu "profitabel",
"schlecht" wird gleichbedeutend mit "verlustträchtig".
Von Karl Marx wird die Verschiebung des Wertsystems wie folgt
charakterisiert: "Sie (die Bourgeoisie P.F.) hat die persönliche
Würde in Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der
zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine
gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort,
an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen
verhüllten Ausbeutung die offen, unverschämte, direkte,
dürre Ausbeutung gesetzt." (Marx, Engels 1961: S. 37).
Die Guten erben das Himmelreich, d.h. sie können
mit Profit versehen weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen,
während die Bösen die ökonomische Arena verlassen
müssen und vom Markt vertrieben werden. Dem Markt wie Gott
gegenüber sind alle Menschen gleich. Es kommt nicht auf das
Geschlecht, die Hautfarbe, das Alter an. Es zählen einzig
die Werke. Kein Mensch verliest den Richterspruch, das Urteil
erfolgt durch eine vom einzelnen Menschen unabhängigen Instanz,
ist aber nicht weniger bindend und schicksalsträchtig. Letztlich
- so auch der heute noch weitverbreitete Glaube an die Marktwirtschaft
- werde die lokale Dynamik des Marktes und seine effektivierende
Funktion ins Paradies führen, in dem Glück und Wohlstand
für alle herrscht.
Eine rationale Erklärung der Zusammenhänge
zwischen menschlicher Grundbefindlichkeit, religiösen Vorstellungen
und gesellschaftlichen bzw. technischen Innovationen läßt
sich meines Erachtens wie folgt skizzieren: Die individuellen
Allmachtsphantasien der frühen Kindheit und die Vorahnungen
von der Macht der Gesellschaft bringen in bestimmten sozialen
Systemen der frühen Menschheit die Phantasie einer äußerlichen,
vom Menschen unabhängigen Institution hervor, die gleichzeitig
Erklärungen für das Woher und das Wohin der Menschen
verkörpert: den Schöpfergott, der allmächtig ist,
der den Seinen im Kampf gegen ihre Feinden zur Seite steht und
sie aus ihrem Elend erlöst. Gott trägt im Alten Testament
die Züge eines eifersüchtigen, manchmal brutalen viehzüchtenden
Stammeshäuptlings, also des damaligen Kristallisationspunktes
gesellschaftlicher Macht. Im Neuen Testament erweitert sich angesichts
des Römischen Weltreichs der Gesichtskreis der Gesellschaft
- wie in der Praxis also in der Phantasie: Gott steigt vom Gott
Israels zum Gott aller Menschen auf. Nicht mehr das Prinzip der
Rache, sondern der Liebe und Vergebung bestimmt seine Handlungen.
Gott weist sich in der Geheimen Offenbarung des Johannes als Stifter
eines Neuen Reiches aus, der alle Tränen abwischt (allerdings
nur von den Augen der Gerechten), der ein Paradies schafft, das
am Ende der Welt das diesseitige Jammertal ablöst. Diese
Vorstellungen sind in der christlichen Welt über die Jahrhunderte
weitergegeben worden und waren bis heute Phantasmen, an die sich
unsere Wünsche heften können. In meiner Interpretation
sind sie aber nicht nur beliebige Hirngespinste, sondern stehen
mit den vorhandenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung
in enger Verbindung. Sie haben vorweggenommen, was einmal sein
könnte, und erzeugen ein Wunsch-, Motivations- und Gedankenfeld,
das durchaus handlungsmächtig und teilweise in Realität
umgesetzt werden kann.
Die Allmacht Gottes ließe sich danach als verhüllte
Darstellung der Macht der Gesellschaft anzusehen. Läßt
sich eine weltliche Entsprechung dieser Macht aufweisen? In welcher
Institution zeigt sich das gesellschaftliche Handlungsvermögen?
Ich möchte zwei Antworten versuchen: Die erste verweist auf
das Geld. Geld ist deshalb so faszinierend, weil es seinen Besitzern
erlaubt, gesellschaftliche Macht für sich zu nützen.
Es ist praktisch, da es jeder und jedem erlaubt, ein Stückchen
dieser "Göttlichkeit", sprich, der Macht gesellschaftlicher
Tätigkeit, über Arbeit aktualisierbar, in der Geldbörse
mit sich zu tragen und - wenn erforderlich - auszugeben, also
in einen Teil der gesellschaftlichen Kraft oder ihrer Ergebnisse
umzusetzen. Der Vorteil dabei ist, daß man dabei nicht auf
den Jüngsten Tag warten muß.
Schon im Alten Testament wurde im Tanz um das Goldene
Kalb die Konkurrenz zwischen dem lebendigen Gott und dem im Edelmetall
vergegenständlichten Reichtum der Gesellschaft deutlich.
Damals siegte noch Gott, heute sind die Verhältnisse anders
geworden.
Geld stellt ein gesellschaftliches Konstrukt dar,
das gleichzeitig als allgemeine Ware ein "objektiviertes
Zeichen" für gesellschaftliche Macht repräsentiert.
Geld besitzt eine doppelte Existenz, einerseits als stoffliche
(Münze) oder energetische (elektronisches Geld), als abstrakt-allgemeine
symbolische Form. Diese entspricht abstrakt-allgemeinen emotionalen
Zuständen der Menschen, etwa dem Geiz, dem Neid oder der
Gewinnsucht, deren Objekt der Begierde nicht am einzelnen Gebrauchswert
orientiert ist.
Technische Artefakte in Form von Konsumgütern
hingegen unterstützen die individuelle Befriedigung von speziellen
Bedürfnissen. Das Auto z.B. verleiht Prestige und Mobilität,
der TV-Apparat erfüllt das Bedürfnis nach Unterhaltung
usw. Die Möglichkeiten, die von Konsumtechnologien angeboten
werden, stellen eine andere Form der Macht dar als jene, die das
Geld vermittelt. Bei Technik handelt es sich um die Macht zur
Bedürfnisbefriedigung und die Macht, sich Genüsse zu
verschaffen.
Ich denke, daß man in diesem Zusammenhang Bedürfnisse
verschiedener Kategorien unterscheiden muß. Die Grundbedürfnisse,
Nahrung, Kleidung, Wohnung sind in ihrer Minimalvariante eher
ein Reflex des Biologischen, in ihrer Alltagsausprägung ein
historisch gewachsener kultureller Akt. Bedürfnisse abstrakt-allgemeinener
Art (nach Frieden, Gerechtigkeit, Liebe usw.) werden in vielen
Fällen im religiösen Diskurs tradiert und präsent
gehalten. Sie geben Anstoß und Motive für Forschungen
und für die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen.
Dazu einige Beispiele: Die Geriatrie profitiert in diesem Sinne
vom Traum vom ewigen Leben, die Wunderheilungen des Neuen Testaments
inspirieren die Medizin, die Schöpferkraft Gottes steht Pate
bei Dolly, dem aus Zellen eines erwachsenen Tieres geklonten Schafes.
Die erstaunliche Faszination der Massenmedien wie des Publikums
durch die neuesten Konsumtechnologien wie das Internet und den
Infohighway läßt sich meiner Meinung nach nicht zur
Gänze aus kurzfristigen ökonomischen oder politischen
Motiven erklären. Hinter dieser Faszination scheint eine
längerfristig wirksame kulturhistorische Triebkraft zu stehen,
die trotz aller modernen Wissenschaft aus dem christlich geprägten
mythischen Bewußtsein der entwickelten Welt und dem der
zeitgenössischen narzistischen Persönlichkeit gespeist
wird. Diese Triebkraft konkretisiert sich in einer Phase, in der
sich die menschliche Spezies auf diesem Planeten in einer bestandsgefährdenden
Krise befindet, und daher für Veränderung (aber auch
für Polarisierungen) zugänglicher wird als zuvor. Aus
den neuen Medien leuchten göttliche Eigenschaften hervor,
die den Menschen zugänglich werden könnten: Allwissenheit
und Allgegenwart. Mit der Realisierung der "Informationsgesellschaft"
ginge - in aller zu berücksichtigenden Ambivalenz - ein weiteres
Stück des Wortes der Schlange aus dem Ersten Buch Moses in
Erfüllung, die den Menschen im Paradies verheißen hat:
"Ihr werdet sein wie Gott!" (1. Mose 3.5). Leider sind
damit noch nicht alle Eigenschaften Gottes auf die Erde herabgestiegen:
Noch immer fehlen Barmherzigkeit, Liebe und Weisheit.
Um abschließend auf die Ausgangsfrage zurückzukommen:
Nicht die Religion als solche wird durch die Technik ersetzt,
sondern die Religion formuliert in phantastischer Weise tiefliegende
Bedürfnisse der Menschen, die durch Technik praktisch und
konkret erfüllt werden können. Der Schöpfergott
wird durch den Schöpfer Mensch abgelöst, der in die
Lage kommt, sich seine Wünsche selbst zu erfüllen.
Die Bibel, Die Heilige Schrift nach der deutschen
Übersetzung D. Martin Luthers, United Bible Societies, London
und Edinbourgh 1949
Feuerbach, L., Das Wesen des Christentums, Reclam,
Leipzig 1957
Lenin, W. I., Bericht über die Tätigkeit
des Rats der Volkskommisare, 22. Dezember 1920, in: Lenin, W.
I., Werke, Band 31, Dietz Verlag, Berlin 1962:483-515
Marx, K., Engels, F., Ausgewählte Werke, Progress
Verlag, Moskau 1971
Rahner, K., H. Vorgrimler, Kleines Theologisches
Wörterbuch, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1961