DER NOVEMBER 1956

1. Jahrgang, Heft 4

 

DIE „VIERTE“ UND IHRE SENDUNG

„Jetzt haben Sie die Vierte gehört, meine Damen und Herren, und haben sicher gleich gemerkt, daß da ein scharfer Wind weht ... Vielleicht waren sie Ihnen zu heftig, diese Besucher der Vierten, aber brauchen die Künstler nicht ein Publikum, das in fanatischer Liebe an dem Institut hängt, an dem sie wirken, ein Publikum, das nicht nur etwas von den Aufführungen versteht, sondern sich auch brennend für die ganze Arbeit des Hauses interessiert? Und wo fänden sie dieses Publikum, wenn nicht auf der Vierten? Dort wo noch Jugend steht, die davon überzeugt ist, daß man ein Opfer bringen muß, um würdig zu sein, eine schöne Aufführung zu sehen; ein doppeltes Opfer durch stundenlanges Anstellen und Bezahlung der Karten. Die Vierte hat immer eine Rolle gespielt im Leben unserer Oper. Es wäre falsch, die Stimmen ihrer treuesten Besucher nicht zu beachten, auch wenn sie etwas ungemütlich klingen ... In der Oper müssen Menschen sein, die alle wichtigen Vorstellungen sehen und fähig sind, sich zu begeistern und zu kritisieren, sonst verliert sie ihre Atmosphäre. In der neuen Oper so wie im Alten Haus: Man braucht das Publikum der Vierten.“

Diesen Kommentar gab am 5. Oktober 1956 der Ravag-Reporter Heinz Fischer-Karwin zu einem Interview auf der Vierten.

Was ist die Vierte eigentlich, warum ist gerade sie immer so besonders kritisch, wer gehört ihr heute an, ist sie noch dieselbe, die sie immer war, oder hat sie sich gar in den letzten Wochen verändert?

Der Wiener Stehplatz ist aus dem österreichischem, ja seien wir einmal unbescheiden - aus dem europäischem Kulturleben nicht mehr wegzudenken. Seit Jahrzehnten setzt er sich aus jungen, musikbegeisterten Menschen der verschiedensten Berufsgruppen zusammen. Natürlich nimmt gerade die Jugend immer eine besondere Stellung ein, doch kann man eine altersmäßige Begrenzung nicht genau fixieren. Die Galerie, immer kurz als die Vierte bezeichnet, besteht natürlich aus vielen, in ihren speziellen Interessen nicht immer gleichgerichteten Einzelpersonen. Allen ist aber eines gemeinsam: die Liebe zur Musik und damit zur Wiener Oper! In ihrer Gesamtheit stellt die Vierte als lebendiges Ganzes jenes kunstverständige Publikum dar, von dem Bruno Walter sagt, daß es das beste der Welt sei. Manchen von denen, die einst zu diesem Publikum gehörten, gelang später selbst der Sprung auf die Bühne oder auf das Podium. Noch heute sprechen sie in seliger Erinnerung von der Zeit ihrer Jugend, die sie auf der Vierten verbrachten. Aber gerade sie wissen am besten, wie fanatisch in ihrer Musikbegeisterung und wie unbestechlich scharf im Tadel die Jugend der Vierten sein kann. Vor wenigen Wochen bestätigte dies kein Geringerer als Kammersänger Julius Patzak, als er in einem Rundfunkinterview folgenden Satz prägte:

„Ich glaube, daß, Gott sei Dank, heute die Begeisterungsfähigkeit und auch die wahre Begeisterung der jungen Leute, die oben auf der Vierten stehen genau die gleiche ist, genau die selbe Intensität hat, wie wir sie damals gehabt haben.“ Und er fügt weiter hinzu: „Ich erinnere mich, wie ich so alt war wie diese jungen Leute, habe ich mindestens genau so scharf, wenn nicht noch schärfer geurteilt!“

Es ist also eine feststehende Tatsache: Die Galerie ändert sich nicht von heute auf morgen, sie wächst organisch, sie formt sich mit den Geschehnissen des künstlerischen Lebens, sie ist ein Spiegel, der peinlich genau auf künstlerische aber ebenso genau auf unkünstlerische Belange reagiert!

Wir erinnern uns sehr gut, wie wir vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren begonnen haben, die Aufführungen der Wiener Staatsoper auf der Galerie mitzuerleben. Wir bemühten uns damals aufrichtig und mit Eifer in die Welt der Vierten hineinzuwachsen und die Ansichten und Erfahrungen der Älteren vom Stehplatz kennen bzw. verstehen zu lernen. So wurden wir bald selbst ein Teil dieser Vierten. Wir fühlten es auch sehr bald: Dieser Galerie wirklich dazugehören, ist eine Ehre, die nicht verliehen, sondern erworben wird, erworben durch einen grenzenlosen Idealismus, durch Ehrfurcht vor den großen Meistern und den großen Interpreten durch eine mehrjährige Beziehung zur Wiener Oper und durch die stets aufs neue bewiesene echte Begeisterungsfähigkeit des Herzens.

Wie traurig müssen nun gerade diesen Kreis junger Musikenthusiasten die unbestreitbaren Verfallserscheinungen des Opernlebens stimmen! Verliert doch damit das stets so hochgehaltene Ideal der Vierte“ seine alte Leuchtkraft. Ist es dann zu verwundern, wenn die Galerie von einer früher kaum gekannten Erbitterung erfaßt wird? Natürlich nimmt man von der Vierten lieber

Anerkennung als kritische Ablehnung entgegen. Aber ist es nicht gerade jetzt sogar notwendig, daß die Galerie ihre Mission erfüllt und alle Schwächen des gegenwärtigen Opernbetriebes registriert und ein klares offenes Wort dazu sagt? Wenn aber das künstlerische Niveau der Staatsoper endlich wieder jene Höhe erreicht haben wird, die ihrer Tradition und ihrer Sendung entspricht, dann wird es landaus, landein niemand geben, der ein freudigeres Halleluja anstimmen wird als die Vierte.

Die Leiter des noch immer vom Ruhm der Vergangenheit erfüllten weltberühmten Instituts müssen aber mit einem fanatischen künstlerischen Aufbauwillen an die Arbeit gehen und endlich – das sei in aller Offenheit ausgesprochen – den verderblichen Einfluß außerkünstlerischer Elemente, wie Geschäftemacher und Zwischenhändler ein für allemal ausschalten!

Die Galerie aber ist die alte geblieben, sie steht unverändert in den Stürmen der Zeit, sie hält nichts von Schmeicheleien und läßt sich nie und nimmer Sand in die Augen streuen. Kompromißlos wird sie, wie stets in der Vergangenheit, ihren geraden Weg gehen und nicht erlahmen, die wunden Stellen im Opernbetrieb aufzuzeigen, gleichgültig ob es dem einen oder anderen paßt oder nicht!

Denn erst wenn die Diagnose gestellt ist, ist eine Therapie möglich!

 

Der November litt unter der Abwesenheit der Wiener Philharmoniker, die sich auf einer Amerika-Tournee befanden und erst im Dezember wiederkehrten.

 

BALLETTABEND am 1. November

Der erste Tag des neuen Monats, ein ernster Festtag, war einem Ballettabend vorbehalten, was für uns eine schwere Pietätlosigkeit darstellt, daß man uns statt Parsifal nicht einen akzeptierten Ersatzes wie Palestrina angeboten hat.

FIDELIO am 2. November

Christl Goltz gestaltete die Leonore mit ihrer reifen Künstlerschaft und sicheren Spitzentönen in der großen Arie. Teresa Stich-Randal kam als Marzelline über den Durchschnitt nicht hinaus. Wolfgang Windgassen sang den Florestan mit einer sehr schönen Arie. Edmond Hurshell (Pizarro) war in gewohnter Weise beim dritten Ton heiser, Ludwig Webers war ein recht lauter Rocco und konzentrierte sich vor allem auf den „grandiosen Brüller“ in der Kerkerszene: „Gelobt sei Gott …“ (daß er den Abend bald überstanden hat?). Rudolf Schock war als Jacquino fast nicht zu hören. Karl Kamann mußte sich diesmal mit der Partie des Minister begnügen.

Rudolf Moralt dirigierte zum ersten Mal die zurückgebliebenen Restbestände des Philharmonischen Orchesters, die durch Substituten aus allen Stadt- bzw. Vorstadtrichtungen ergänzt wurden. Der versierte Dirigent hatte eine solche Freude mit dem provisorischen Staatsorchester, daß er sogleich die Leitung der Meistersinger-Aufführung des übernächsten Tages in die Hände des Generalsekretariats zurücklegte.

DIE ZAUBERFLÖTE am 3. November

wurde von Michael Gielen dirigiert. Es sangen Teresa Stich-Randall (Pamina), Mimi Coertse (Königin der Nacht), Kurt Böhme (Sarastro) und Anton Dermota (Tamino), sowie Walter Berry (Papageno) und Emmy Loose (Papagena).

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG am 4. November.

An diesem Tage hieß Wagners Meisterwerk bloß „DIE SINGER VON NÜRNBERG“!

Vor der Aufführung hörte man, daß alles, was in Wien einmal Violine spielen gelernt hatte, sich heute an den Pulten im Orchestergraben ergehen würde. Die musikalische Leitung hatte zu allem Überfluß Meinhard von Zallinger übernommen.  Zum Philharmoniker-Ersatz trat also noch ein Moralt-Ersatz. Er erwies sich der Spielgemeinschaft würdig.

Die Ehre des Hauses retteten Kurt Böhme als stimmgewaltiger Pogner und Traute Richter als Eva, die sich erstaunlich gut an das ihr neue Haus gewöhnt hatte. Erich Kunz als Beckmesser ließ sich die gute Laune nicht verderben. Wolfgang Windgassen hatte nicht gerade seinen besten Tag. Dennoch kam er geschickt über die Tücken der Partie des Stolzing. Schöffler- oder Kamann-Ersatz sollte Edmond Hurshell sein. Aber weder stimmlich noch darstellerisch kam er dem Hans Sachs nahe. Jean Madeira bot eine etwas merkwürdige Magdalene. Der David bereitete Peter Klein wieder Schwierigkeiten.

LA BOHEME am 5. November

war eine geschlossene Aufführung.

TOSCA am 6. November

Diese Aufführung hatte nur Kuriositätswert, da sowohl Christl Goltz und Wolfgang Windgassen in diesem Fach nicht zu Hause sind. Theo Baylé sang den Scarpia mit schöner Stimme, Berislav Klobucar hatte mit den Substituten im Orchester seine Plage.

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL am 7. November

fand diesmal im Großen Haus statt: Offenbar ist der Aufbau eines Repertoires für den Redoutensaal nicht mehr so wichtig.

Wilhelm Loibner dirigierte. Wilma Lipp  hatte leichte Schwierigkeiten mit der Konstanze. Emmy Loose, Anton Dermota, Murray Dickie und Kurt Böhme bildeten das sehr gute Ensemble.

AIDA am 8. November

Traute Richter stellte sich erstmals in einer italienischen Partie vor und bot eine ordentlich Leistung. Sie überstand einen fürchterlichen Sturz, was einen bei dieser Inszenierung und der „ägyptischen Finsternis“ nicht wundert. Allerdings könnte man sie auf aufgestellte Hindernisse aufmerksam machen. Georgine Milinkovic war nach längerer Zeit wieder in einer größeren Partie zu hören und gefiel sehr gut.

ALKESTE am 9. und 12. November

Christl Goltz und Anton Dermota waren sehr gut disponiert. Heinrich Hollreiser hatte mit einem Orchester zu kämpfen, von dem man am 9. November meinte, es wäre die erste Probe gewesen.

FIDELIO am 10. November

Der Abend stand durch das Substitutenorchester unter keinem guten Stern. Nur Leonie Rysanek war durch Stimme und Persönlichkeit ein Lichtblick. Lotte Rysanek ist leider mit der Marzelline überfordert. Auch Anton Dermota als Florestan hatte Schwierigkeiten, ebenso Edmond Hurshell.

DIE ZAUBERFLÖTE am 11. November

Von Mozarts göttlichem Funken war leider nichts zu spüren. Das Orchester unter Michael Gielen spielte lieblos. Teresa Stich-Randall als Pamina hat keine Ausdruckskraft. Rudolf Schock hingegen hatte einen sehr guten Abend. Wilma Lipp als Königin der Nacht sang mit belegter Stimme. Kurt Böhme als Sarastro hat dafür zu wenig Tiefe. Erich Kunz und Peter Klein waren gut in Form.

ALKESTE am 12. November

wurde mit der Aufführung am 9. November besprochen.

FIDELIO am 13. November

Heinrich Hollreiser am Dirigentenpult plagte sich mit dem Orchester. Leonie Rysanek überwand eine leichte Indisposition sehr bald und hatte in Max Lorenz als Florestan einen ebenso intensiven Partner. Karl Kamann war diesmal wieder ein verläßlicher Pizarro, Kurt Böhme war ein stimmgewaltiger und überzeugender Rocco. Von Rudolf Schock als Jacquino war wieder kaum etwas zu hören.

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL am 14. November

wurde wieder im Haus am Ring gespielt. Michael Gielen stand am Pult. Die Damen Wilma Lipp und Emmy Loose wurden von Rudolf Schock in sehr guter Verfassung und von Kurt Böhme übertroffen. Peter Klein war Pedrillo.

LA BOHEME am 15. November

Lore Wissmann als Mimi war ein Gast aus Stuttgart mit einer ordentlichen Leistung. Wilma Lipp liegt die Musette nicht besonders. Karl Terkal, Alfred Poell, Oskar Czerwenka und Walter Berry waren ein vorzügliches Bohemien-Quartett.

DON CARLOS am 16. November

Deszö Ernster sprang für Oscar Czerwenka als Philipp II. ein, worüber sich das Stammpublikum freute. Hans Hopf  als Don Carlos präsentierte undefinierbare Töne. Ausgezeichnet hingegen Christa Ludwig als Eboli, der der Beifall des ganzen Hauses galt. Gerda Scheyrer als Elisabeth ist bereits gut bekannt. Berislav Klobucar konnte die Stimmung im Orchester nicht heben.

BALLETTABEND am 17. November

AIDA am 18. November

Camilla Williams gastierte als Aida, deren Stimme dafür viel zu klein war. Georgine Milinkovic begann vorsichtig, konnte sich aber zu einer guten Gerichtsszene steigern. Josef Gostic sang den Radames mit teilweise unartikulierter Stimmgewalt. Karl Kamann war ein stimmgewaltiger Amonasro. Wilhelm Loibner stand am Dirigentenpult.

 

Die zweite Hälfte des November stand im Zeichen der Carmen-„Doppelpremiere“, was natürlich ein paradoxer Begriff ist. So gab es einen bedenklichen Hang zum En-suite-Theater: Sechs Carmen-Aufführungen, zwei Zauberflöte-Aufführungen, dazu noch Puccini.

 

CARMEN am 19. und 22. November, „Doppelpremieren“

Carmen, erste der „Doppelpremieren“ am 19. November

Zweifellos wäre es wichtiger gewesen, zunächst eine Reihe anderer Werke, die in den letzten Jahren nicht gespielt wurden, in den Spielplan der Staatsoper aufzunehmen, als die in der Nachkriegszeit schon dreimal neueinstudierte Carmen. Das Geschäft ging jedoch vor.

Den größten Eindruck des Abends machten Georges Wakhevitch Bühnenbilder und Kostüme. Es gab diesmal endlich eine lebendige, bunte und originelle Carmen. Besonders hervorzuheben sind die bei aller Kühnheit doch stets geschmackvollen Farbenkombinationen, die man von Wakhevitchs deutschen Kollegen leider nicht mehr gewöhnt ist. Ihnen scheint der Sinn für Farben aus lauter Stilgefühl verloren gegangen zu sein. Wir wünschen uns, Meister  Wakhevitchs Gastspiele mögen in einen fixen Staatsopernvertrag umgewandelt werden, und wir hoffen, die kommenden Neuinszenierungen von Hoffmanns Erzählungen (wenn diese Oper schon unbedingt gespielt werden muß!) und Othello mit seinen Bühnenbildern zu sehen. Josef Gielen konnte den Schaden, den er mit der Inszenierung des Tannhäuser angerichtet hat, durch eine ausgesprochen gute Inszenierungen einigermaßen ausgleichen. Obwohl ganz naturalistisch, war sie doch nie verstaubt,  nie konventionell.

Dem Ersatz-Orchester, das ziemlich laut spielte, fehlte die für Carmen nötige Eleganz und Subtilität vollständig. Ebenso  dem Dirigenten Heinrich Hollreiser,  dem man aber immerhin konzedieren muß, daß er nach einer beträchtlichen Anzahl von Proben eine wesentlich bessere Leistung als sonst bieten konnte. Das Wiener Publikum ist allerdings im Fall Carmen durch Josef Krips, André Cluytens und Herbert von Karajan stark verwöhnt.

Bei Jean Madeira, welche die Titelrolle übernahm, mußten wir leider feststellen, daß ihre Leistung im Theater  an der Wien eigentlich einen größeren Eindruck gemacht hatte. Während man damals nur Ansätze zu einer „made in Hollywood“-Darstellung merkte, brachte die Künstlerin diese amerikanische Auffassung  der Carmen nun noch konsequenter  zum Ausdruck. Ihre dunkle Stimme ist für  allerdings sehr geeignet, wenn auch die exponierten Spitzentöne bisweilen etwas angestrengt klingen.

Traute Richter als Micaela erreichte erst im dritten Akt ihr gewohntes Format. Für den ersten Akt schien ihre Stimme etwas zu schwer zu sein. Die Darstellung war zu betont naiv.

Rudolf Schock als Don José konnte in seinem Rahmen diesmal überzeugen. Besonders gut gelangen ihm die lyrischen Stellen dieser schwierigen Tenorpartie. Die kluge Phrasierung wurde noch durch eine natürliche Darstellung unterstrichen.

Die Beweggründe des Escamillo-Importes - Przemysl Koci heißt der Mann! - sind und bleiben ein Rätsel. Kocis Stimme ist für die Wiener Staatsoper viel zu unreif und durch technische Mängel den Anforderungen der Partie nicht gewachsen. Trotz einiger auf den Stehplatz delegierter Kriminalbeamter, die sich wie stets langweilten, konnte eine der üblichen „ferngesteuerten“ Aktionen nicht verhindert werden: Nach dem Torrerolied rührte sich keine  Hand, das Haus verharrte in würdevollem Schweigen. Das gab es bisher in der Staatsoper an dieser Stelle, unseres Wissens, noch nicht! Wieso kann man einen in Wien völlig Unbekannten überhaupt mit einer Premiere betrauen? Neuengagements dürften - so wie dies der Tradition des Hauses entspricht - erst nach Bewährung vor dem Publikum und nicht allein auf die Versprechen der Manager (gleichgültig ob sie Gruder-Guntram, Vladarsky, Horowitz oder wie immer sie heißen mögen getätigt werden. Es ist noch nicht ganz klar, ob in der Direktionskanzlei noch immer oder schon wieder die Manager herrschen.

Wilma Lipp und Hilde Rössel-Majdan in den beiden kleineren weiblichen Partien und das  Schmugglerduo mit dem vortrefflichen Komikerpaar (Erich Kunz und Peter Klein) waren ausgezeichnet. Ebenso boten Alfred Poell als Morales und Frederick Guthrie als Zuniga sehr gute Leistungen.

Die Gestaltung des Ballettes im zweiten Akt war zu musicalmäßig ( die Sängerinnen tanzten und Willy Dirtl spielte einen abgewiesenen Carmen-Verehrer.), im vierten Akt sind die schönen Leistungen von Brexner, Dirtl und Adama, sowie des Corps, sehr eindrucksvoll, aber sie leiden unter einfallsloser und nicht sinngemäßer Choreographie.

Trotz einiger Schönheitsfehler war es also doch ein anregender Abend. Das Abonnementpublikum (wieder einmal eine Premiere im Abonnement!!) sparte nicht mit dem Beifall.

Carmen, zweite der „Doppelpremieren“  am 22. November

Diese Aufführung hinterließ einen durchaus positiven Eindruck. Dies ist vor allem Christa Ludwig und Walter Berry zu danken.

Man wird gewiß mit Recht einwenden können, daß Christa Ludwig keine restlos ideale Carmen auf die Bühne stellt, denn sie überlegt etwas zu viel dabei und faßt die Partie von der intellektuellen Seite her auf, aber ihre Auffassung ist durchaus glaubwürdig. Dazu kommt, daß sich die Künstlerin stimmlich in ausgezeichneter Disposition befindet. Ihre Phrasierung vor allem bei den ausdrucksmäßig schwierigen Stellen, so bei der Seguidilla und der Kartenszene ist hervorragend. Allerdings sollte sie mit ihren Einlagen an exponierten Höhen etwas sparsamer umgehen, denn manche der Spitzentöne klangen etwas flach.

Walter Berry als Escamillo gelang es, den schlechten Eindruck des Torero durch seinen Vorgänger total vergessen zu machen. Er sang die Partie sehr schön und außerdem stellte er das Pathetische des spanischen Stierkämpfers mit viel Noblesse  dar.

Man sollte glauben, daß die Stimme von Hans Hopf für den Don José geradezu prädestiniert ist. Aber hier scheinen  das Können und das Wollen nicht im Einklang zu stehen. Vor einigen Jahren debütierte  Herr Hopf in Wien als Don José. Man erinnert sich des großen Eindrucks, den er damals hinterließ. In der Zwischenzeit hat sich seine Stimme nicht weiterentwickelt, im Gegenteil: Er singt oft unkonzentriert und mit einigen tenorale Unart. Dennoch gerieten einige Stellen im dritten und vierten Akt, recht gut. Schade, daß es ihm nicht gelang, seine großen stimmlichen Mittel ökonomisch einzusetzen!

Angenehm machte sich der Wechsel in der Besetzung der Micaela bemerkbar. Frau Gerda Scheyrer wurde zwar durch das jahrelange Operettensingen in ihrer Entwicklung gehemmt, doch ist es noch nicht zu spät, sie der Oper zu erhalten.

Auch die kleineren Partien waren recht gut mit den Damen Wilma Lipp und Margareta Sjöstedt und den Herren Alfred Poell,  Ljubomir Pantscheff, Harald Pröglhöf und Murray Dickie besetzt.

CARMEN am 25. November

war eine geschlossene Aufführung.

CARMEN am 26. November

Hier stand die Besetzung der „ersten Premiere“ auf der Bühne, allerdings mit einem großen Unterschied: Paul Schöffler war aus Amerika zurückgekehrt und übernahm die Partie des Escamillo von Herrn Koci. Seine Leistung war durch Darstellung und stimmliche Ausdruckskraft gleich packend.

CARMEN am 29. November

fand in der Besetzung der „zweiten Premiere“ statt.

CARMEN am 30. November

Wiederum in der Besetzung der „ersten Premiere“. Da man sich entschlossen hatte, auf eine weitere Mitwirkung Herrn Kocis zu verzichten, sang Theo Baylé den Escamillo mit schöner Stimme, aber ohne südländischem Temperament.

 

LA BOHEME am 20. November

Teresa Stich-Randall als Mimi war gut disponiert, aber ohne Ausdruckskraft. Karl Terkal als Rudolf hat hier seine beste Partie gefunden. Gerda Scheyrer fehlen für die Musette Leichtigkeit und Charme. Hans Braun als Marcel war farblos. MacLeod fiel wieder unangenehm auf. Kurt Böhme trug das Mantellied ergreifend vor.

DIE ZAUBERFLÖTE am 21. und 23. November

Der Tamino war am 21. mit Julius Patzak besetzt, der mit seiner reifen Künstlerschaft immer noch einen großen Eindruck hinterließ. Am 24. war mit Waldemar Kmentt ein hoffnungsvoller junger Tenor an der Reihe, war zu interessanten Vergleichen anregte.

CARMEN am 22. November

DIE ZAUBERFLÖTE am 23. November

wurde mit der Aufführung am 21. November besprochen

BALLETTABEND am 24. November

CARMEN am 25. November

CARMEN am 26. November

TOSCA am 27. November

Ljuba Welitschs Stimme klingt reiner als im Vorjahr, scheint aber an Volumen eingebüßt zu haben. Wolfgang Windgassen als Cavaradossi war wieder fehl eingesetzt. Edmond Hurshell ist überhaupt kein Scarpia.

MANON LESCAUT am 28. November

Berislav Klobucar hatte zwei Orchesterproben bekommen, was wohltuend auffiel. Carla Martinis als Manon hatte einen für ihre Verhältnisse guten Tag. Rudolf Schock als Des Grieux bemühte sich redlich, doch ohne dramatische Stimmkraft. Walter Berry war ein ausgezeichneter Lescaut.

CARMEN am 29. November

CARMEN am 30. November

 

Die letzten Aufführungen des Monats wurden vom neuen künstlerischen Leiter besucht. Sicherlich wird Herr von Karajan nun bereits ein Bild von dem derzeitigen Niveau des Wiener Opernbetriebes erhalten haben. Wir hoffen, daß die Sechser-Loge des ersten Ranges nicht lange leer bleibt. Wir bitten ihn nun nochmals, alles, was nun so dringend nötig geworden ist, im Interesse des Institutes zu tun, damit die Wiener Oper das führende Operninstitut der Welt wird, das sie so lange gewesen ist!

 

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