DER MERKER STELLT SICH VOR
„Ein saures Amt - und heut’ zumal ...!“
Leitartikel, 1. Jahrgang, Heft 1
Es ist derzeit auf dem Wiener Boden im Besonderen und im Opernleben im Allgemeinen fast unmöglich geworden, über ein Thema dieses Bereiches zu diskutieren, ohne dabei einen neuralgischen Punkt zu berühren, wodurch sofort ein nervöser Aufschrei von irgendeiner Seite her ausgelöst wird. Um so notwendiger ist es für den Opernfreund, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, zu ihnen Stellung zu nehmen und einen klaren Überblick zu bekommen.
Diese Aufgabe hat sich das Mitteilungsblatt des Vereines der Opernfreunde gestellt. Der Sinn unserer kleinen Zeitung kann natürlich nicht darin liegen, mit Theater und Kunstzeitschriften oder den Kritikern der Tagespresse zu konkurrieren. Wir referieren nur, was uns wissenswert und beachtlich erscheint, sei es im positiven oder negativen Sinne, immer von der Galerie her gesehen.
Die Stimme und Meinung der Galerie war bis jetzt nur in privaten Diskussionen und aus Beifalls- und Mißfallenskundgebungen zu entnehmen, die dann zu richtigen und noch öfter zu falschen Deutungen Anlaß gegeben haben. Wir wollen innerhalb des Vereines der Opernfreunde und mittels unseres Blattes ein Forum schaffen, das aus den Informationen und kritischen Betrachtungen heraus einen Weg zum Verständnis sucht.
Niemand, natürlich auch nicht der Verein der Opernfreunde, kann von sich sagen: „Wir sind die Galerie“; wir beabsichtigen daher im Rahmen unseres Blattes eine ständige Pro- und Kontra-Seite für die an unsere Redaktion gerichteten Einsendungen offen zu halten. Soweit es in diesem Rahmen möglich ist, werden wir jeden zu Wort kommen lassen, der sich an gewisse Grundregeln hält. Denn der wirkliche Opernfreund wird sich weder zu einem Gefolgsmann vor irgend einem berühmten Namen hergeben, noch wird er gegen einen anderen, eventuell umstrittenen Künstler polemisieren, nur um so seine eigenen Sympathien durchzusetzen. Er wird aber immer eines respektieren: Unbedingte Achtung vor der Würde und dem Ansehen unserer Oper. Aber wir werden uns nicht scheuen, eben um dieser Achtung willen, alles was unserer Meinung nach dem Range dieses Institutes abträglich erscheint, strikt abzulehnen. Unsere Meinung erhebt nicht Anspruch auf absolute Objektivität, aber sie will und wird ein ehrliches Bemühen sein, der Sache der Wiener Oper zu dienen.
Die kommende Saison verspricht bewegt zu werden, gerade deshalb müßte es allen Seiten klar sein, daß es keine Machtkämpfe geben darf, denn der Verlierer wäre die Wiener Oper und mit ihr alle an ihr alle wirklich interessierten Kreise und Personen.
Daß die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, nicht leicht ist, daß sie mitunter auch Irrtümern unterworfen sein kann, das wissen wir. Und darum, bevor Sie sich mit knirschendem Griffel hinsetzen, um unsere Mitarbeiter „in der Luft zu zerreißen“, vergessen Sie nicht, sich an Herrn Beckmesser zu erinnern: „Ein saures Amt, und heut zumal ...“ nicht wahr ?
Ein Wort zum Beginn
1. Jahrgang, Heft 1
Es sei vorweggenommen: wir dürfen nicht in den grundlegenden Fehler verfallen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das mag in der augenblicklichen Situation nicht ganz leicht sein, aber um so mehr müssen wir uns darum bemühen.
Die Direktion Böhm wurde damals enthusiastisch begrüßt, hochgespannter Jubel - hochgespannte Erwartungen. Die Erfahrungen und Enttäuschungen waren um so bitterer, man ist pessimistisch geworden, die Skepsis hat die Oberhand gewonnen. Man kann es niemand verdenken, wenn er abwartend der neuen künstlerischen Leitung des Hauses gegenübersteht, aber dieses Abwarten soll zumindest ein wohlwollendes sein, es muß verbunden sein mit dem Wunsch auf ein Gelingen. Es war damals falsch - das wissen wir heute - von vornherein in einen Freudenschrei auszubrechen, es wäre ebenso falsch, jetzt ins extreme Gegenteil zu verfallen.
Das Mißtrauensvotum wurzelt vor allem darin, daß im Generalsekretariat des Hauses am Ring die gleichen Männer sitzen, die unter der Direktion Böhm versagt haben, denn sie tragen absolut die gleiche Schuld wie der Direktor, der mit seinem Namen für die Entwicklung einstehen und daraus die Konsequenzen ziehen mußte. Das wurde im Sturm der Ereignisse vielfach übersehen und übergangen. Diesmal hat der neue Chef Karajan ausdrücklich betont, daß er für die gesamte künstlerische Leitung in allen Belangen verantwortlich zeichnet, das ist immerhin ein Wort und vielleicht verpflichtet es nicht nur arbeitsmäßig, sondern auch moralisch die vertretenden Personen am alten Platz zu einer Leistung, die die üblen Erinnerungen vergangener Tage vergessen macht. Wir werden uns nur freuen darüber und gerne unsere Meinung revidieren.
Das Programm für September ist festgelegt, es verspricht keine großen Sensationen, aber vielleicht bringt es - doch durch gutes Niveau, für Wien neue Gäste auf Bühne und am Dirigentenpult und vor allem intensive Probenarbeit - etwas vom alten Geist ins neue Haus zurück „den wir so ungern lang vermißten.“
Gleich von Saisonbeginn an wird die Redaktion des „Merker“ sehr aufmerksam die Entwicklungen verfolgen. Wir werden uns dabei nicht darauf beschränken besonders renommierte Vorstellungen oder Premieren einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, vielmehr wird an jedem Abend, auch in der simpelsten Repertoireaufführung, ein Mitarbeiter unseres Blattes anwesend sein. Wir sind, der Meinung,
daß man die Geltung eines Hauses nicht nach Glanzvorstellungen beurteilen darf, sondern nach dem Niveau ihrer Durchschnittsaufführungen. Dort beginnen sich auch deutlich die Anzeichen hervorzuheben, welche Richtungen der Spielbetrieb einschlägt und welchen Weg die Direktion geht. Daß es ein guter und erfolgreicher sein möge, ist unser ehrlicher Wunsch.
Rückblick auf die Saison 1955/1956
1. Jahrgang, Heft 1
Die beiden Sommermonate trennen uns zeitlich von den Ereignissen der vergangenen Spielzeit, und es ist nützlich, erst diesen gewissen Abstand gewonnen zu haben, um eben einmal darüber zu reden. Denn wenn die ersten acht Monate in dem neuen Haus auch nicht erfüllt haben, was wir erwarteten oder wünschten, so waren sie doch reichlich bewegt. Leider sogar zu bewegt, um der Arbeit des Hauses dienlich und nützlich zu sein.
Nach Wochen fieberhafter Vorbereitungen, aufregender Vorfreuden, bis zu letzten ausgeschöpften Presseberichten des In‑ und Auslandes, kam also das Opernfest
Nun, es war keine vollkommene Erfüllung und keine reine Freude, darüber können wir uns nicht hinwegtäuschen.
Die Eröffnungsvorstellung Fidelio war kein gutes Omen, denn der Glanz kam nicht von dem Niveau der Bühne her, sondern vom Zuschauerraum, der auf seinen Plätzen in Parkett und Logen alles vereinigte, was Geltung und Geld besaß, während mit wenigen Ausnahmen schwache Sängerleistungen, leichte Unsicherheit im Musikalischen, eine sehr strittige Inszenierung und eine scheinbar vom Eröffnungsfieber irregeleitete Regie, die Aufführung beeinträchtigten.
Don Giovanni, wesentlich höher im Gesamtniveau einzuschätzen als die Eröffnungspremiere, litt wohl auch unter der Inszenierung und gab in der Besetzung gleichfalls zu Diskussionen Anlaß. Trotzdem, hier war Niveau, man atmete erleichtert auf.
Die Frau ohne Schatten, unter dem Dirigenten Karl Böhm musikalisch sehr geglückt, stimmlich zum Großteil hervorragend, konnte mit der Inszenierung nicht befriedigen, die überdies nicht ganz neu erschien (Berlin 1942, München 1955).
Und dann kam wieder ein sehr bitterer Tropfen in den Freudenbecher: Aida. Die italienische Premiere, so unitalienisch wie nur möglich, auf der Bühne verschlungen von ägyptischer Finsternis und vom Dirigentenpult her eben unbefriedigend. Auch hier ‑ mit geringen Ausnahmen: Keine großen Sängerleistungen und zugleich ein Versagen der sonst oft bewährten Regie, wie im Fidelio bei Tietjen, genau so unbegreiflich hier, bei Rott.
Die Meistersinger, die vielleicht, zumindest von der Galerie her, am freudigsten erwartete Premiere, war auch die größte Enttäuschung. Nicht einmal die Leistung eines Paul Schöffler und einer Irmgard Seefried waren in der Lage, das auszugleichen, was vom Dirigenten‑ und Regiepult her in Gemeinschaftsarbeit „versungen und vertan“ wurde.
Die Ehrenrettung unseres traditionsreichen Hauses brachte Der Rosenkavalier unter Hans Knappertsbusch, eine Vorstellung, die als vollkommen bezeichnet werden konnte. Seltsamerweise ging sie mit dem geringsten Aufwand an Zeit und Geld in Szene.
Auch Wozzeck stellte künstlerisch in allen Belangen eine großartige Leistung dar, die einen Leckerbissen für Liebhaber und Feinschmecker bot, aber immer nur einen beschränkten Kreis zu seinem Publikum gewinnen kann.
Das Ballett, das in sein Programm die Uraufführung von Blachers Othello einschloß und wunderschöne Kostüme von Wakhevitch zeigte, brachte sein gutes Durchschnittsniveau.
Nach einer gewissen Ernüchterung folgte nun der Opernalltag
Über diese Monate kreist auf der Galerie ein geflügeltes Wort, das nicht nur Sarkasmus, sondern auch eine gewisse Bitternis beinhaltet: „Saure Wochen, keine Feste, wenig Arbeit, abends ... Gäste“. Leider kein Witz, sondern offenbar der Leitsatz der Direktion während der Monate Dezember bis März.
Was während dieser Zeit über die Opernfreunde hereinbrach, war zum größten Teil einfach mit dem Namen des Hauses nicht mehr vereinbar. Die Zeit der großen Übersiedlungen aus dem Repertoire des Theaters an der Wien begann und genau wie nach einer Übersiedlung sahen diese Aufführungen auch aus. Verstaubt, verschmiert, verkratzt und unbrauchbar geworden. Es blieb den einzelnen Solisten überlassen, nach dem Grundsatz „rette sich wer kann“ das eigene Niveau zu halten und so der jeweiligen Aufführung einen einsamen Glanz früherer Zeiten zu verleihen, oder sich bei diesem Abgleiten hoffnungslos von den Trümmern vergangener Pracht begraben zu lassen. In diese Entwicklung fielen die Wiederaufführungen von Boheme, Zauberflöte, Hoffmann, Salome, Tosca, Maskenball, Troubadour, Tristan mehr oder weniger alle hinein. Am katastrophalsten vielleicht Maskenball und Troubadour, die an Niveaulosigkeit den anderen Vorstellungen noch den Rang abliefen.
Erste Neuinszenierung nach dem Opernfest war Manon Lescaut, in der Inszenierung Rennert-Hlawa, der Anerkennung gebührt. Warum man allerdings dabei gerade auf diese Puccini-Oper verfiel, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben.
Als das Theater an der Wien geschlossen wurde, versäumte man nicht, darauf hinzuweisen, daß der Spielplan für die erste Saison im neuen Haus für das ganze Jahr auf den Tag, und zwar samt den Besetzungen, fixiert sei. Nun, keiner der Stammbesucher hat das geglaubt, denn es gibt kaum einen Dilettanten, der nicht wüßte, daß ein solches Vorhaben immer an den enormen Schwierigkeiten scheitern muß. Allerdings haben wir aber nicht erwartet, daß dieses Versagen so enorm sein wird, daß die Oper am Ring gezwungen war, ein SOS an alle Bühnen zu richten, um sich von dort her mit Gästen über Wasser halten zu können. Was hätten wir wohl in dieser Zeit gemacht, wenn es in Wiesbaden kein Opernhaus gegeben hätte, Herr Direktor Schneider?
Die Opernfreunde verfolgten diesen Werdegang mit Kopfschütteln, und es scheint, daß sie die einzigen waren, die bedrückt und beschämt sich beiseite schlichen, wenn sie Ausländer, besonders Engländer und Franzosen, Bemerkungen machen hörten, die niederschmetternd waren und doch hingenommen werden mußten, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Dessen ungeachtet hatten wir überfüllte Häuser. Wo sie nicht ausverkauft waren, halfen Gewerkschaft und Jugendliche aus; auch geschäftlich konnte man zufrieden sein.
Aber was besagt das schon? Was mag ein Cluytens so still bei sich gedacht haben, als er, verfolgt von „Gästen“, mit schlechten Besetzungen den Tristan brachte? Welchen Eindruck mag er von unserem Haus mitgenommen haben?
Im März war es dann so weit, man schritt zu Taten.
Leider wieder nicht auf der Bühne sondern im Zuschauerraum. Die Ereignisse sind so allgemein bekannt, daß es müßig ist, sie zu rekapitulieren. Sie bahnten den Rücktritt Karl Böhms an und mahnten sehr deutlich: Es muß etwas geschehen! Nun, sehr viel ist nicht geschehen, zumindest ist
nicht sehr viel dabei herausgekommen.
Mario Rossi bemühte sich, Turandot und Don Carlos zu retten, die Neueinstudierungen von Elektra und Ariadne unter Karl Böhm erreichten das Ideal der Vorstellungen des alten Hauses nicht, aber immerhin hoben sie das Niveau sehr wesentlich und das soll und muß anerkannt worden. Dafür lagen Alkeste (Hollreiser) und Fürst Igor (Klobucar, dem man anerkennenswerter Weise zwei ganze Orchesterproben für diese Neueinstudierung genehmigt hatte) wieder ein Beträchtliches darunter. Und die chronischen Auslandsreisen der Philharmoniker waren nicht dazu angetan, diese Schäden zu behoben.
UND WAS SAGT DER OPERNCHEF?
1. Jahrgang, Heft 2
An der Meinung unserer Leser, betreffs unserer Neugründung lebhaft interessiert, versuchten die Mitarbeiter des Merkers einen „Galluptest“. Wenn man uns die Wahrheit gesagt hat, können wir mit dem Ergebnis zufrieden sein. Von einer etwas merkwürdigen „Erscheinung“ abgesehen, hörten wir auf der Galerie nur positive Äußerungen.
Besonders gespannt waren wir darauf, was man „oben“ dazu sagen wird. Wir baten daher Wiens Opernchef Herbert von Karajan um seine Meinung. Er sandte uns daraufhin postwendend folgendes Schreiben:
„ALS JETZIGER OPERNCHEF UND EHEMALIGER GALERIEBESUCHER BEGRÜSSE ICH DAS ERSCHEINEN DES MITTEILUNGSBLATTES „DER MERKER“, DAS DER AUSDRUCK EINER MUSIKBEGEISTERTEN , UND KUNSTVERSTÄNDIGEN JUGEND IST! ICH KENNE DIE BESONDERE ATMOSPHÄRE, DIE DORT HERRSCHT, SO SEHR AUS MEINER EIGENEN STUDIENZEIT, IN DER SCHON DAMALS DIE IDEEN GRUNDLEGEND GEFASST WAREN, DIE HEUTE DIE GESTALTUNG DER GESAMTORGANISATION DER STAATSOPER UMFASSEN: ICH GLAUBE; GEZEIGT ZU HABEN, DASS ICH FÜR BERECHTIGTE WÜNSCHE UND ANREGUNGEN JEDERZEIT EIN OFFENES OHR UND AUCH DIE NÖTIGE KRAFT ZUR DURCHFÜHRUNG HABE.
MEINEN FREUNDEN DIE HERZLICHSTEN GRÜSSE
HERBERT V. KARAJAN e.h.
Die Redaktion des „Merkers“ dankt dem Opernchef für seine freundlichen Worte, die uns in der Hoffnung auf eine große Zukunft unserer Wiener Oper bestärken.
AUS DER REDAKTION GEPLAUDERT
Im Leitartikel, 5. Jahrgang, Heft 5, findet man im April 1960 ein Resümee über die Freuden und Leiden des Merker-Teams, also etwas in „eigener Sache"