DER SEPTEMBER 1958

3. Jahrgang, Heft 10

 

Es Ist ein Brauch von alters her – an der Wiener Staatsoper, meinen wir – daß die neue Saison nicht beginnt, sondern einfach anfängt. Alle Opernhäuser, die etwas auf sich halten, versuchen, den Saisonbeginn so weit als möglich festlich zu gestalten. In der Wiener Oper dauert es eine Woche, bis der Betrieb wieder läuft. Das Orchester startet noch schnell eine kleine Sommertour, die Künstler gehen nach einem anstrengenden Festspielsommer noch geschwinde auf Urlaub – und der Hörer wird, noch randvoll von musikalischen Erlebnissen des Sommers, kopfüber ins Repertoiregetriebe hineingestoßen. An der Wiener Oper hat sich im letzten Jahr schon manches zum Besseren gewendet. Nun sollte endlich auch mit der flauen Anspielzeit aufgeräumt werden. Eine große Oper – die erste Sängergarnitur – der Chef am Pult – das Orchester im Lande – es wär’ zu schön, um wahr zu sein. Große Sänger und Dirigenten gaben diesem Monat sein Gesicht. Giuseppe Verdi führte mit elf Abenden, vor Wolfgang Amadeus Mozart mit sieben, Giacomo Puccini mit sechs, Richard Wagner und Richard Strauss mit je zwei Abenden, Carl Orff und George Bizet mit je einer Aufführung.

 

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG am 1. September

Armer Rudolf Kempe! Er hatte wahrscheinlich nichts zu lachen. Im Orchesterraum saß eine Mischung aus Wiener Symphonikern, Bühnenmusik, Philharmonia Hungarica und ganz Unbekannten; und der Abend hätte unter einem weniger starken Dirigenten zu einem Desaster werden können. Nicht so bei Rudolf Kempe. Er zwingt selbst den Unroutiniertesten seinen Willen auf. Er bringt die Konzentration und die Kraft auf, die Gehaltsempfänger zu Musikern zu machen; und die Meistersinger erhielten durch seine musikantischen, raschen Tempi, Farbe und Leben. Am meisten beeindruckte wohl der tänzerische Schwung der Prügelfuge. Nachdem er das Orchester einmal in die Hand bekommen hatte, leistete es ihm willig Gefolgschaft und bemühte sich. Im Stich ließ es ihn nur bei ganz exponierten Stellen, die, über die Kräfte von Substituten gehend, schon zu Standardschmissen geworden sind. Sena Jurinac sang das Evchen, ausgezeichnet im ersten und zweiten Akt, während sich im dritten durch allzu viel Stimmegeben einige Schärfen in der Höhe einstellten. Walter Kreppel, der neuengagierte Bassist, stellte sich als Pogner vor und ließ eine schöne, starke, junge, frei strömende Stimme hören, die freilich ziemlich baritonal gefärbt ist – möglicherweise wird auch er einmal ins Heldenbariton-Fach übergehen. Murray Dickie, der David schlechthin, erfreute wieder durch die vollendete Beherrschung seiner Stammpartie. Karl Dönch schrie sich an diesem Abend heiser. Mit notengetreuem Singen hat das, was er produzierte, kaum mehr etwas zu tun. Karl Liebl ist eine starke Zumutung. Man hat ja ohnedies nichts mehr dagegen, wenn der Stolzing von einem mehr lyrischen Tenor interpretiert wird, nur muß dieser ihn wenigstens passabel singen. Aber sein an sich nicht sehr ergiebige Material wird in den höheren Lagen (von Höhe selbst kann man überhaupt nicht reden!) stumpf und spröde, ja manchmal bleibt ihm die Stimme überhaupt weg. Er hat die vielen Gelegenheiten, sich an Wien zu gewöhnen, nicht genützt. Otto Edelmann gab den Schuster Sachs. Den „Poet dazu“ blieb er schuldig, wie gewohnt. Bedauerlich ist, was er mit seiner an sich schönen Stimme treibt. Nicht genug damit, daß er sie ab E abdeckt und abwürgt, singt er auch minutenlang um den Bruchteil eines Tones zu tief, was einen völlig rasend machen kann. Und er ist so bieder!

DON GIOVANNI am 2. September

In dieser Vorstellung bescherte uns das so geförderte, einheimische Ensemble einen mehr, respektive weniger als mäßigen Abend. Schade, daß die wackeren Streiter Löbl, Schneiber, Basil, Ulrich und wie sie sonst noch heißen mögen, durch Abwesenheit glänzten, denn sonst hätten sie vielleicht ihr Urteil über die Grundpfeiler unserer Opernkultur etwas revidieren müssen. Jedenfalls erteilte die „böse Italienerin“ Graziella Sciutti unserem Ensemble eine Lektion in Mozartgesang und strahlte dabei soviel Charme aus, daß sie ein Quentchen davon auch noch an ihren Kollegen George London hätte abgeben können, dessen Don Giovanni nicht eben seine stärkste Partie ist. Er spielt ihn zu sehr auf gewollt dämonisch und seiner herrlichen Stimme fehlt das weiche Legato, das ein Mozartsänger nun einmal braucht. Erich Kunz hatte den meisten Applaus für sich, was aber wahrscheinlich auf das Konto seiner schauspielerischen Einlagen zu buchen ist, denn stimmlich hatte er keinen guten Tag. Waldemar Kmentt kann der an sich nicht dankbaren Partie des Ottavio darstellerisch kein Profil geben. Auch seine Stimme klingt manchmal zu trocken und – in der Höhe – resonanzarm. Dirigent Rudolf Moralt litt unter allgemeiner Lustlosigkeit und zerdehnte den ersten Akt, was er durch Hetzen im zweiten zeitmäßig wieder hereinbrachte. Leidtragende seines Unternehmens waren außer den Ausführenden die Zuhörer, denen Hilde Zadek als Anna sowieso keine Freude bereitete. Ihre Stimme wird immer schärfer, schriller und verliert auch an Volumen. Auch Gerda Scheyrer war der Arie nicht gewachsen, obwohl sie sonst eine zufriedenstellende Elvira sang. Ludwig Weber und Ljubomir Pantscheff vervollständigten die Besetzung.

ZAUBERFLÖTE am 3. September

geschlossene Vorstellung

TURANDOT am 4. September

An die Böhm-Ära erinnerte diese Vorstellung mit den dafür typischen Sängern. Gertrude Grob-Prandl und Karl Terkal verfügten noch vor einiger Zeit über beachtliches Material. Beide sind jedoch derzeit im Absteigen begriffen, und da ihre Leistungen immer nur aus dem puren stimmlichen Rohmaterial heraus entstanden, sieht es jetzt ein wenig kläglich damit aus. Sänger waren sie ja beide nie. Emmy Loose wirkte als Liu wie eine jener unechten chinesischen Nippesfiguren, die man in dem Kiosk Ecke Mariahilferstraße-Getreidemarkt um zehn Schilling kaufen kann. Die Figur wird durch sie ins Kitschige gezerrt. Zu den Pluspunkten dieses Abends gehörten neben dem vorzüglichen Minister-Terzett (Peter Klein, Murray Dickie, Eberhard Wächter) nur noch Ludwig Webers Timur. Denn Berislav Klobucar am Pult konnte das Substitutenorchester nicht aus seiner Lethargie reißen.

DIE ZAUBERFLÖTE am 5. September

geschlossene Vorstellung

TOSCA am 6. September

Wenn Rudolf Kempe die Wiener Philharmoniker gehabt hätte, dann wäre es zweifellos sogar ein großer Abend geworden. Leider stand ihm wie so oft ein reines Substitutenorchester zur Verfügung. Trotzdem oder gerade deshalb war seine Leistung imponierend. Er schleppte die Last geduldig durch den ersten Akt, er kämpfte den zweiten unermüdlich durch und dann, anstatt müde, verärgert und resigniert nur mehr auf das Finale zu warten, bot er geradezu ein Exempel – denn gerade dieser dritte Akt war neuerlich ein Musterbeispiel dafür, daß die Dirigentenpersönlichkeit stärker sein kann als die Schwächen des Orchesters. Dem musikalischen Leiter gebührt daher ein ganz besonderes Lob.

Was unser Haus jetzt meistens, von der Bühne her, an einem simplen Repertoireabend zu bieten hat, ist Grund zum Jubel. Wien nennt bereits im Opernalltag Besetzungen sein eigen, die an ausländischen Bühnen als Gala-Abende gefeiert würden. Trotz der großen und anerkannten Namen gab es (bei strengstem Maßstab) natürlich auch auf der Bühne Schwächen. Giuseppe Zampieri hörten wir schon besser, erst beim ausgezeichneten „Vittoria“ erreichte er seine volle Form und brachte dann einen makellosen dritten Akt zustande. Birgit Nilsson ist keine ideale Tosca. Dazu fehlen die schwelgenden Piani, das typisch italienische Mezzavoce. Dort aber, wo sie sozusagen loslegen kann, ist ihre Leistung hinreißend. Sie spielt eine sogar sehr temperamentvolle Tosca, aber sie spielt eben, sie ist es nicht. Das ändert nichts daran, daß ihr Wiener Tosca-Debüt, dessen ungeachtet, als großer Erfolg anzusprechen ist. George London war in ausgezeichneter Verfassung. Beim Auftritt etwas belegt, sang er sich sehr schnell frei und brachte einen wirklich guten Scarpia zu Gehör. Sein völlig triebhaft angelegter Polizeichef ist unbeeinflußt von der Gestaltung seiner großen Vorbilder und Konkurrenten. Sicher, auch so kann man einen Scarpia spielen.

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG am 7. September

An diesem Abend sang Otto Wiener den Sachs. Man braucht nur im ersten Akt einige Zeit, bis man sich an das für einen Helden-Bariton ungewöhnlich helle Timbre gewöhnt hat. Doch dann ist man froh, wieder einen Sachs zu hören, der weiß, was er singt, der den Ausdruck mitbringt, die Klugheit und den Humor, einen Sachs, der immer ganz da ist, die Partie stimmlich voll und ganz ausfüllt und vor allem in der Höhe, wo andere Sachse vorsichtig werden, glänzt. Otto Wiener, der Bayreuther, muß sich in dieser Aufführung sehr merkwürdig vorgekommen sein. Denn hier, in Herbert Grafs Super-Inszenierung, gibt es keinen Menschen, keine Charakterisierung, hier stolpern und watscheln nur Kasperln, Wursteln und alte Thaddädln über die Bühne. Es werden so krampfhafte Blödelversuche gemacht, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben machen. Karl Dönch hielt diesen Abend wenigstens durch. Und das alles ist umgeben von dem berühmten Holzgerüste, an dem Robert Kautsky seine Bühnenbilder aufhängt und damit die Bühne verbaut. Diese Inszenierung ist ein Alptraum. Derjenige, der es unternehmen will, sie zu verbessern, wird es nicht leicht haben.

RIGOLETTO am 8. September

Hilde Güden sang die Gilda. Mit in jeder Lage völlig ausgeglichener Silberstimme, zarter Erscheinung und elegant und sicher ausgeführten Koloraturen ist sie für die Partie bestens geeignet. Jean Madeira war als Maddalena zu hören. Die Partie liegt ihr vorzüglich. Sie bringt alle Vorzüge ihrer schweren, dunklen Stimme zur Geltung und hat dabei genug Zeit und Muße, mit einer Musterkollektion von Carmen-Blicken und –Gesten aufzuwarten, die zu diesem Renaissance-Callgirl fast besser passen, als zur aus Leidenschaft liebenden und hassenden Zigeunerin. Bleibt nur zu hoffen, daß unsere Herzog-Darsteller keine zu eifersüchtigen Gemahlinnen haben. Giuseppe Zampieri sang den Herzog. Hier konnte man hören, wo unserem jungen Hausitaliener, der uns mit so viel Fleiß und Talent die Tenorkrise in seinem Fach vergessen macht, Grenzen gesetzt sind. Die Produktion von Spitzentönen am laufenden Band ist eigentlich nicht seine Sache. Er überanstrengt sich dabei. Durch die starke Beanspruchung ist seine Stimme gewachsen und in der Mittellage breiter geworden, so daß die vollkommene, schöne Ausgeglichenheit seines Organs, mit der er anfangs so überraschte, bedroht erscheint. Wenn seine Abendform, wie im Rigoletto, nun nicht die beste ist, neigt er dazu, in der Höhe etwas zu stemmen und zu pressen. Hoffentlich gehen diese Erscheinungen wieder vorüber. Sein volles Können zeigte er in den lyrischen Phrasen der Partie. Zum großen Verführer fehlt ihm die Persönlichkeit. Man fürchtet eher, er könne von Maddalena verdorben werden. Aldo Protti sang die Titelpartie leider ausschließlich forte, ohne Differenzierung, ohne Formung, ohne Steigerung. Wir haben ihn in Wien schon besser gehört. Mario Petri sang den Sparafucile, wobei er trotz Rauheit des Organs gefiel. Katastrophal ist der neuengagierte Norman Foster, der als Monterone unhörbar blieb und bei dem der Hörer wohl nie darauf kommen wird, was er überhaupt sein will: Baß oder Bariton. Er hat weder Tiefe noch Höhe und mit seiner Mittellage ist es auch nicht weit her. Er hat schon typisches „Ensemble-Niveau“, wie das katastrophale Ehepaar Ceprano (Dorothea Frass und Hans Schweiger). Berislav Klobucar leitete mit einem Substitutenorchester eine Aufführung ohne Schwung und Animo.

AIDA am 9. September

Beispielhaft ist die  Rücksicht, die  Herbert von  Karajan auf seine Sänger zu nehmen pflegt. Bei dieser Aida konnte man eine ganz andere Art von Interpretation erkennen, als bei den beiden Aufführungen im Sommer mit der wesentlich lyrischeren Leontine Price. Dieser Abend hatte glutvolle Dramatik und stärksten innere Spannung, die große Linie einer  großen Oper.

Sie war somit auf die Trägerin der Titelrolle, Birgit Nilsson, zugeschnitten. Frau Nilsson hat im Wagner-Fach imponiert und wurde sehr geschätzt und geachtet. Im italienische Fach hat sie eingeschlagen wie eine Bombe. An kaum einer anderen Partie wie   an der Aida,  die sie bei ihrem ersten Wiener Gastspiel (1954) gesungen hat, konnte man Birgit Nilssons Wachsen besser beobachten. Ihr intuitives Erfassen der Phrase, die vollendete technische Durchbildung der Stimme, die sehr gewachsen und doch allen Naturgesetzen zum Trotz dabei weicher und geschmeidiger geworden ist, ein gut sitzendes, tragfähiges Piano und große Ausdrucksfähigkeit waren für die Aida ein großer Gewinn. Auch das Temperament der Künstlerin ist im gleichen Maße gewachsen und führt zu einer eindrucksvollen Rollengestaltung. Und besonders eines  muß man bei Frau Nilsson rühmen: Ungleich vielen anderen Besitzern von Riesenstimmen läßt sie sich nicht dazu verleiten, ihre Partner an die Wand zu singen, was sie sehr wohl könnte. Sie ist immer kollegial und arbeitet mit ihren Partnern vorzüglich zusammen, statt ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Giuseppe di Stefano, der mit dem Radames eindeutig überfordert ist, hatte solche Kollegialität gerade in den Duetten mit Aida nicht nötig. Nach einer enttäuschenden Arie, einer durchschnittlichen Tempelszene und einem Triumph-Finale, an dem er sich zwar tapfer beteiligte, aber wenig zu hören war, sang er den Nil-Akt prachtvoll, hatte in der Gerichtsszene nur einige schwache Momente (Intonation!) und war in Schluß-Duett herrlich. Die beiden Prachtstimmen zeigten wetteifernd im Forte und Piano und in wunderschönen Schwelltönen ihren Glanz.

Giulietta Simionato haben wir schon besser gehört als in diesem Herbst – sie brauchte einige Zeit, um sich einzusingen, doch in ihren großen Szenen war sie hervorragend.

George London sang den Amonasro in der Form seines Lebens – noch nie haben wir diese herrliche Stimme so kraftvoll, so ausgeglichen und so dramatisch erlebt.

Nicola Zaccaria beeindruckte als Ramphis vor allem durch seine schöne satte Tiefe, der er in der Höhe jedoch nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hat. Edre Koréh und Anny Felbermayer konnten sich in den kleinen Partien gerade nicht mit Ruhm bedecken. Es wird mit der Zeit wirklich problematisch, wie man solche „Bäume“ zufriedenstellend besetzen soll. Gute Sänger singen sie nicht, denn das haben  sie nicht nötig. Selbst die Jüngsten bekommen bald große Rollen, wenn sie Format haben. Aber die kleinen Rollen sind wesentlich für den Eindruck eines Abends, und je mehr kleine Rollen es in einer Oper gibt, desto tristen wird die Besetzung (siehe Erich Majkut).

Die jedem musikalischen Gefühl hohnsprechende Inszenierung Adolf Rotts geht einem bei einer Spitzenaufführung besonders  auf die Nerven. Wo steht es geschrieben, daß die Priesterin so weit rückwärts (offenbar im Sacherstüberl) postiert sein muß, daß man sie kaum mehr hört? Wo steht es geschrieben, daß sie mit solch geisterhaft schwebendem Timbre singen muß? Wo steht es geschrieben, daß der Messagero auf solch schmierenhafte Art einen präklassischen Marathonläufer mimen und nach Hervorstoßen seiner Botschaft erschöpft zu Boden sinken muß? Wo steht es geschrieben, daß man sich noch länger dieses entsetzliche „Perchten-Ballett“ ansehen muß, nur weil Adolf  Rott, der Unmusikalisch, diese Musik so dämonisch findet? Das Ballett hat bereits das Mohrenballett aus der alten Inszenierung wieder einstudiert, blieb aber auf seinen Protest bei den „schiachen“ Perchten, da Herr Rott drohte, die Staatsoper nie wieder zu betreten, wenn man seine Ideen eliminiere. Ein Grund mehr, das Mohrenballett wieder einzuführen, das würde uns des Bangens um den Holländer enthebenden, den Rott trotz seines heurigen Bayreuth-Besuches sicher in Grund und Boden inszenieren wird.

DON GIOVANNI am 10. September

Karl Böhm stand am Pult und hatte (trotz manchmal sehr langsamer Tempi) doch Stil und Format in die Aufführung gebracht. Sena Jurinac muß sicherlich die Donna Anna noch öfter singen, um sich in ihr ganz zu Hause zu fühlen, denn manchmal forciert sie unnötig. Hervorragend gelangen jedoch die zweite Arie und die exponierten Lagen in den Ensembles. Elisabeth Schwarzkopfs Elvira ist ein Erlebnis. Soviel Vollendung im Stimmlichen und Darstellerischen fesselt immer wieder aufs Neue. Dabei ist die Künstlerin fast übertrieben selbstkritisch – denn ein einziger, nicht hundertprozentig gelungener Pianoton in der großen Arie hatte zur Folge, daß sie trotz des stürmischen Beifalls nicht mehr herauskam. Vielen kleinen Geistern diene die Disziplin und Bescheidenheit dieser Künstlerin von Format als Beispiel! Irmgard Seefried sang die Arien sehr schön und stilvoll, war aber im übrigen keiner Zerlina mehr (es wurde schon oft darüber gesprochen!). Eberhard Wächter bewies auch mit diesem Giovanni, daß er sich das ehrenvolle Engagement nach Salzburg zur Eröffnung des neuen Festspielhauses ehrlich verdient hat. Seine Stimme hat Kraft und Eleganz, Weichheit und Klangschönheit und sein Spiel vereint in gleicher weise Temperament und die große Geste des spanischen Granden. Erich Kunz, Ludwig Weber, Waldemar Kmentt und Harald Pröglhöf waren in ihren Stammpartien zufriedenstellend.

CARMEN am 11. September

Diese Aufführung mit dem Standard-Star-Ensemble Madeira-Güden-di Stefano-London unter Karajans Leitung ist stets ein Paradestück der Staatsoper Wien und war es auch diesmal, obwohl Jean Madeira immer davon bedroht ist, in die schon abgelegten Hollywood-Mätzchen zurückzufallen, und erst im zweiten Teil des Abends eine wirklich starke Leistung bot. Giuseppe di Stefano steigerte sich erst ab der ausgezeichnet gesungenen Blumenarie in große Form, die besonders im vierten Akt zu einer Demonstration des Ausdrucks, der Kraft und der Schönheit der menschlichen Stimme wurde. Hilde Güden und George London waren in ihren Glanzpartien wieder große Klasse und die Comprimarii hielten Niveau. Der Chor sang – wie üblich – deutsch. Es ist zum verzweifeln. Entweder wir haben einen Staatsopernchor, der doch dazu imstande sein müßte, in einigen anderen Sprachen als deutsch zu singen, oder desinteressierte Gehaltsempfänger? Vielleicht liegt es auch an der Leitung des Chores?

Herbert von Karajans Carmen hat Atmosphäre, Farbe, Feuer und Temperament. Er wird doch aber nicht was den Chor betrifft schon resigniert haben?

MADAMA BUTTERFLY am 12. September in der Staatsoper

Sena Jurinac, mit Herz, Seele, Gefühl und einer siegreich das Orchester überstrahlenden Stimme und Dimitri Mitropoulos mit geballter Energie, dramatischer Wucht und zarter Tonmalerei drückten dieser Aufführung ihren Stempel auf. Giuseppe Zampieri, Eberhard Wächter und Hilde Rössel-Majdan waren in den weniger bedeutenden Partien erstklassig und verhalfen der Aufführung zu einem ausgeglichenen, hervorragenden Niveau.

COSÌ FAN TUTTE am 12. September im Redoutensaal

Dieses Werk war in einer Glanzaufführung zu hören und zu sehen. Trotz einiger italienischer Einspringer, die doch angeblich die Zerstörung unseres Ensembles bedeuten, wirkte die Aufführung wie eine geschlossene Einheit. An der Spitze des prachtvoll musizierenden Orchesters stand Karl Böhm, der äußerst konzentriert dirigierte. Sein Mozart war subtil, elegant und spritzig, dabei führte er die Ensembleszenen mit größter Souveränität und begleitete die Singstimmen mit äußerster Behutsamkeit. Kein Zweifel darüber, daß er zu den ersten Mozartdirigenten unserer Tage zählt (doch muß erst die Konkurrenz vor der Türe stehen?). Von den drei an Charme sich überbietenden Damen gebührt an diesem Abend Elisabeth Schwarzkopf als Fiordiligi die Krone. Mit unüberbietbarer technischer Beherrschung ihres herrlichen Soprans gab sie Feinheiten zum Besten, die wir noch nie gehört hatten. So faszinierte sie mit psychologischem Ausdrucksvermögen in ihren Arien und man war von ihren dramatischen Phrasen, die sie einzulegen wußte, einfach hingerissen. Mit ihr verdienen aber auch die beiden anderen Damen Christa Ludwig (Dorabella) und Graziella Sciutti (Despina) nur Worte höchster Bewunderung. Neu für Wien war Luigi Alva, der sich als quicklebendiger Ferrando erwies und sich mit seiner sympathischen knabenhaften Stimme sehr gut in den Rahmen fügte. Seine Arie sang er sehr weich und empfindungsreich. Erich Kunz war der zweite verliebte Eifersüchtige, der diesmal dankenswerterweise seinen Hang zum Possenreißen vermied und sehr schön sang. Nicht ganz Schritt mit diesen Künstlern konnte Mario Boriello halten, der, abgesehen von den ersten danebengegangenen Einsätzen, eine brave Durchschnittsleistung bot. Seine Stimme ist nichts Außergewöhnliches, doch er weiß sie kultiviert einzusetzen. In seiner Darstellung betonte er weniger den zynischen Drahtzieher von Marionettenfiguren, wie wir es von Paul Schöffler gewöhnt sind, als vielmehr den liebenswürdigen italienischen Adeligen, der an diesem Spiel der Verwicklungen selbst seine größte Freude hat. Der Abend fand auch in der neuen Zusammensetzung größte Zustimmung beim Publikum, das ja schließlich Abwechslung und Vergleichsmöglichkeiten in allen Opern will und liebt.

TOSCA am 13. September

Diese Aufführung dirigierte Dimitri Mitropoulos. Vielleicht noch stärker als bei der Butterfly erkennt man eine beachtliche Intensivierung der dramatischen Funktion der Musik. Verglichen mit der Tosca unter Herbert von Karajan – wie nützlich ist doch gerade in diesem Falle ein Vergleich, der zeigt, daß diese Musik, durchaus verschieden aufgefaßt, höchst lebendig ist und zu ernsthafter Betrachtung anregt; ein Vergleich, bei dem die Auffassungen beider, nebeneinander gestellt, jede absolut im Rahmen der Absichten des Komponisten, jedes Versuches, etwa eine Reihung vorzunehmen, spotten – zeigt sich sofort, daß die harten, mächtigen Züge stärker hervortreten. Im Bestreben, dramatisch zusammenzuballen, ist Dimitri Mitropoulos von keinerlei Hemmungen den Singstimmen gegenüber belastet und in diesem Punkt gleichfalls um vieles härter als der „symphonische, sängermordende“ Karajan. Er konnte sich’s allerdings auch leisten, denn er hatte Sänger auf der Bühne stehen, die sich rückhaltlos einsetzten, auch, als das Äußerste von ihnen verlangt wurde. Birgit Nilsson die Wagner-Heldin hatte, weit stärker als bei der ersten Tosca, von der Partie Besitz ergriffen. Giuseppe di Stefano, ein Vollblutkünstler, dem die Gestalt eines Künstlers besonders zu liegen scheint, dem ein herrlicher Schmelz und, wenn er gut disponiert ist, auch eine strahlende Kraft der Stimme eignet, ist einer der wenigen Partner, die der Nilsson gewachsen sind. George London faszinierte durch restlosen Einsatz seiner Prachtstimme und man hatte den Eindruck, daß er bestrebt sei, aus der Schablone des Theaterbösewichtes zu lösen (auszusteigen?). Die weitere Besetzung war die übliche und es fiel niemand aus dem Rahmen. Schlechthin vollendet war schließlich der Grund, auf dem das kunstvolle Gebäude der Aufführung stand: Der Klang des Orchesters.

FALSTAFF am 14. und 17. September

Sir John Falstaff und mit ihm Tito Gobbi hielt wieder Einzug in die Wiener Oper und dieser musikalische Leckerbissen, dieser Idealfall von Ensemblekultur läßt es besonders bedauern, daß Gobbi und Simionato erst im Juni nächsten Jahres wieder nach Wien kommen können und daß wir bis dahin ohne Falstaff auskommen müssen. Gobbi ist in dieser Partie einmalig. Man entdeckt immer neue Züge in seiner Charakterisierung, immer andere Feinheiten in seinem Gesang.

Es ist nicht Jedermanns Sache, mit diesem kraft- und geistvollen Sänger ein großes Duett zu singen, doch Eberhard Wächter bestand auch diese Probe auf Herz und Nieren bestens. Sicher in den Ensembles, mit einen ausgezeichneten Italienisch, sehr gescheiter Phrasierung und dem metallischen Glanz seiner jungen, schönen Stimme, stellte er auch einen Mann von Bedeutung, einen Herrn mit Format auf die Bühne. Ford muß in Windsor sehr geachtet gewesen sein. Eberhard Wächter hat in jungen Jahren schon einen ganz typischen eigenen Stil – sein Fond war eben typisch Wächter.

Auch Aaureliana Beltrami unternahm das Wagnis, in diese Glanzaufführung einzusteigen und erwies sich als Nanetta sogar besser als die Stammbesetzung mit Anna Moffo. Sie hatte nämlich neben sicherer Höhe, gepflegtem Piano und jugendlichem Charme noch eine beachtlich schöne Mittellage aufzuweisen. Wir würden die junge Sängerin auch gerne in anderen Partien hören.

Elisabeth Schwarzkopf und Giulietta Simionato, ideal für die Alice und Mrs. Quickly passend und großartig singend, Anna Maria Canali, Luigi Alva, Mario Petri, Renato Ercolani und Tomaso Spartaro stellten die übrigen Akteure in diesem wunderbar eingespielten Ensemble.

Herbert von Karajan am Pult gewährleistete einen glanzvollen Abend. Man ist froh, einmal auf der Bühne nicht Blut und Tränen fließen zu sehen, auch die Sänger sind wahrscheinlich glücklich, einmal richtige Menschen auf die Bühne stellen zu können, nicht schwarze Bösewichte oder edle Seelen. Man merkt, daß ihnen die Aufführung wohl selbst am meisten Spaß macht. Und so unterhält man sich, über das Bewundern der musikalischen Vollkommenheit der Aufführung hinaus, sehr gut und wartet gespannt auf die netten Regieeinfälle, die die Akteure mit größtem Genuß ausspielen.

RIGOLETTO am 15. September

Giuseppe di Stefano schien mit seinem Herzog dem Kritiker eines Boulevardblattes, der bekanntlich dem Künstler die zur Absage der Tosca-Premiere führende Stimmbänderentzündung absolut nicht glaubte, beweisen zu wollen, daß er doch ernstlich krank war. Die Stimme klang im ersten Teil dieses Abends so, ohne Kern, angegriffen, matt und es stellten sich auch Intonationsunsicherheiten ein. Nur in der Phrasierung und im Spiel war er jeden Augenblick der Sänger von Format. Im dritten Bild verschwand die Indisposition plötzlich völlig („Ella mi fù rapita!), die Arie gelang hervorragend! Und zum allergrößten Erstaunen des Auditoriums ließ er sich vor dem Schlußbild wegen plötzlich aufgetretener Indisposition entschuldigen. Das schien ihn einer gewissen seelischen Belastung enthoben zu haben, denn er sang sowohl die Arie als auch zwei Drittel des Quartetts so, wie man sich es von einem Mann seines Namens erwartet hatte, elegant, sicher und draufgängerisch. Erst am Ende der Partie merkte man, daß er sich dabei völlig verausgabt hatte und stimmlich total erschöpft war. Dieser Herzog, dessen Idealinterpretation in jeder Hinsicht er in gesunden Tagen zweifellos ist, war für ihn und die Zuhörer gleicherweise abenteuerlich.

Ettore Bastianini stand als Rigoletto zum ersten Mal auf der Bühne, was im Verein mit seiner Jugend und seinen bekanntlich nicht übermäßig großen schauspielerischen Talenten dazu führte, daß man sich von seinem Rigoletto nicht allzu viel erwartete. Doch erstaunlicherweise spielte er zwar konventionell, doch wirkungsvoll. Seine einmalig schöne Stimme kam in den Duetten mit Gilda herrlich zur Geltung und seine Höhe wirft einen einfach um. (Großartig war der Schluß der Stretta, mit einem Es der Hilde Güden und eines As Ettore Bastianinis – wir haben die Szene noch nie so eindruckvoll gehört.) Überfordert war er in der großen Arie, wo er gezwungenermaßen forcierte und das mit bösen Intonationsschwankungen bezahlen mußte. Er ist ein Sänger, brüllen kann er nicht. Da sind ihm andere weit überlegen. Hilde Güden war wieder eine hervorragende Gilda. Nicola Zaccaria gab den Sparafucile.

Alberto Erede hatte bei seinem Erstauftreten am Ring einen großen Erfolg. Seine Interpretation spannte die lyrischen Phrasen in breiten Bogen, die dramatischen Passagen hatten federnde Eleganz und Temperament und sein Rigoletto zeigte den genauen Kontrast zu den Aufführungen Gianandrea Gavazzenis in der vorigen Saison. Gab es dort mit Renate Scotto, Fiorenza Cossotto, Gianni Raimondi und Aldo Protti explosive Dramatik und knalliges Zur-Schau-Stellen von Riesenstimmen, so hörte man nun die andere Seite des italienischen Gesangsstils: in diesem auf ‚Linie’ gesungenen Rigoletto triumphierte die vollendete Phrase, das blühende Belcanto.

DIE ZAUBERFLÖTE am 16. September

geschlossene Vorstellung

FALSTAFF am 17. September

unter Herbert von Karajan wurde zusammen mit der Aufführung vom 14. September besprochen.

SALOME am 18. September

Dieses Werk ist heute zu einer Publikumszugnummer geworden, wo es doch noch während des Krieges stets mangelhaft besucht war. Das Wiener Publikum scheint wirklich aufgeschlossener geworden zu sein. Ein ähnliches Steigen in der Gunst des Publikums wäre auch etwa der Ariadne, Arabella und Capriccio zu wünschen. Das große Format erhielt der erste Strauss-Abend der Saison durch Karl Böhm und Christl Goltz. Karl Böhm ließ den Orchesterklang in allen Farben funkeln und wußte die Klangmassen klug zu bändigen. Daß er die Zügel in den Jochanaan-Szenen etwas lockerte, dürfte auf den statt Josef Metternich singenden Carlos Alexander zurückzuführen gewesen sein, dessen einziger Vorzug in deutlicher Diktion bestand. Seine in der Höhe wenig ergiebige Stimme wird noch durch Pressen und Stemmen beeinträchtigt. Manchmal konnte er sich in den Orchesterfluten nicht behaupten. Christl Goltz war die Persönlichkeit auf der Bühne. Ihre metallische Stimme hatte große Durchschlagskraft und mit Recht stand sie im Mittelpunkt des Jubels, der dieser Aufführung folgte. Jean Madeira konzentrierte sich auf das Stimmliche, Julius Patzak lieferte eine ausgefeilte schauspielerische Studie und Karl Terkal lispelte sich durch den Narraboth und konnte in keiner Hinsicht befriedigen.

DON CARLOS am 19. September

In dieser Vorstellung gastierte Alberto Erede, hinterließ jedoch, obwohl er alle Wiener Carlos-Dirigenten turmhoch überragte, nicht den gleichen starken Eindruck wie im Rigoletto (vor allem bei jenen, die die heurige Salzburger Festspielaufführung gehört haben!). Deprimierend erschien uns auch (nach Gründgens) das völlige Fehlen einer sichtbaren Regie. Die Sänger beschränkten sich darauf, auf- und abzutreten. Haben sie selbst Persönlichkeit, wie Sena Jurinac, die rührende, aber stimmlich etwas überanstrengt wirkende Königin, oder die großartige Giulietta Simionato als Eboli, so stört das ja weniger, weil sie aus Eigenem etwas geben können.

Bei den Herren sah es da nicht so gut aus. Giuseppe Zampieri sang den Carlos (zum ersten Mal und ohne Probe) mit Empfindung und Gefühl. Er war bei weitem besser als alle seine Wiener Vorgänger, beschränkte sich aber auf einige stereotype Gesten. Er sollte die Partie schon mit einem Regisseur durcharbeiten. Ettore Bastianini ist auch in Salzburg nur gestanden und hat gesungen. Doch wenn er das innerhalb einer durchdachten Inszenierung, in der auf das Wesen der Sänger eingegangen, tut, wirkt es anders, wie hier, wo alle ohne höhere Ordnung herumstehen. Außerdem wurde er an diesem Abend von Erede einige Male zugedeckt und mußte forcieren, was, wie bei ihm üblich, zur Unsicherheit im Intonieren führte, und er fand auch kaum Gelegenheit, sein Piano, mit dem er in Salzburg so geglänzt hatte, zu zeigen. Hauptanteil an der Uneinheitlichkeit des Abends hatte Otto Edelmann, der in seinem schon vom Leporello her bekannten Italienisch mit Brunn am Gebirge-Akzent sang und an einem Stabe ging. Er hatte sich noch eine Habsburgernase zu machen versucht. Das waren auch die einzigen Züge, die ihn mit Don Philipp, wie wir ihn uns seit Cesare Siepi vorstellen, verbanden. Er wurde an Persönlichkeit sogar in der Großinquisitorenszenen von Nicola Zaccaria übertroffen, der den Inquisitor mit Ausdruck sang, wenn ihm auch die Höhe fehlte. Norman Foster als Mönch konnte außer seiner Familie nur Herrn Hofrat Y vom Neuen Österreich gefallen. Kein Wunder, wenn man erfährt, daß derselbe Vorstandmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde und als solcher mit Norman Fosters Schwiegervater sehr gut zu sein scheint, der ebenfalls dort im Vorstand zu finden ist! Unser Chor, der doch in Salzburg im Carlos recht gut gefallen konnte, leistete sich im Autodafé einen geradezu einmaligen Umfaller, denn schön deutlich erklang es da, mitten ins Italienische hinein: „O Tag des Jammers, O Tag der Klage…“ wahrhaftig, die Herren haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Da kann man nur mehr klagen. Es sind schon öfters Sänger ins Deutsche gefallen, das ist auch weiter kein Malheur. Aber stur deutsch weiter zu singen, wenn man es sowieso italienisch kann, das geht denn doch zu weit. Es sieht schon fast wie Sabotage aus, den Herren von der Presse zu Gefallen, die plötzlich ihre deutsche Seele entdeckt haben und denen zu viel Italienisch gesungen wird. Sie, die doch früher nicht geringschätzig genug auf die „Wagner’schen Schinken“ herabblicken konnten. (Man sollte das Gedächtnis der Zeitungsleser nicht so beharrlich unterschätzen.)

LA TRAVIATA am 20. September

Berislav Klobucar zeigte in dieser Aufführung, was er kann. Diese schwer zu dirigierende Oper, die Künstler von Format schon verhaut haben, weil sie offenbar keine Beziehung dazu fanden, war sauber und exakt, immer dezent. Die Sänger wurden sorgsam begleitet und hatten Gelegenheit, ihre gefühlvollen Phrasen ausschwingen zu lassen und die trivialen Ballmusiken hatten charakteristische Atmosphäre. Es war für ihn offenbar sehr gut, wieder einmal anderswo dirigiert zu haben. Das Herunterleiern von schwach besetzten Repertoireaufführungen, zu dem er jahrelang verurteilt war, kann auch ein Talent mutlos und desinteressiert machen. Mit der Traviata bewies Berislav Klobucar wieder, daß er ein ausgezeichneter Musiker ist, dem nur manchmal die Kraft fehlt, das, was er sich vorstellt, auch wirklich zu erzwingen. Und gerade dazu hat er in Berlin vielleicht eher Gelegenheit, da das Orchester leichter zu beeinflussen ist und er mehr Proben hat. Drei Sänger mit ausgeglichenen, nobel geführten Stimmen standen an diesem Abend auf der Bühne. Zur hervorragend singenden Hilde Güden, die nur leider viel zu sympathisch und viel zu bürgerlich für die Violetta ist und die lebende Halbweltdame in keinem Augenblick deutlich machen kann (doch wer kann das schon, außer der Maria Callas) – dafür wird es aber auch kaum jemanden geben, der die Partie stimmlich so souverän meistert wie Hilde Güden – kam der Alfred Giuseppe Zampieris, der ihm besonders gut liegt und in dem er alle Vorzüge seines schönen, weichen Organs zeigen kann und Ettore Bastianini. Obwohl er am Abend vorher den Posa und Vormittag die Maskenball-Hauptprobe gesungen hatte, entfaltete er in der lyrischen Väterrolle die ganze Schönheit seiner Stimme, die bei aller Weichheit doch männliche Kraft, bei allem Belcanto doch starken Ausdruck hatte. Er erschien in einer Verdi-Maske, die ihm sehr gut stand und ihn väterlich-sympathisch erscheinen ließ. Ettore Bastianini singt nur, unbelastet von Stilproblemen.

TOSCA am 21. September

In dieser Vorstellung fand Hilde Zadek (bei gleicher Besetzung wie am 13. September) die Chance vor, mit Giuseppe di Stefano und George London als Primadonna auf der Bühne zu stehen, die sie denn auch prompt nicht zu nützen wußte. Der Klassenunterschied ist zu deutlich. Die Herren und der Dirigent Dimitri Mitropoulos gewährleisteten jedoch trotz dieses Handicaps einen großen Puccini-Abend.

LA TRAVIATA am 22. September

Berislav Klobucar zeigte was er kann. Eberhard Wächter war in dieser Aufführung die stärkste Persönlichkeit auf der Bühne. Er erwies sich als glänzender Schauspieler und gab der Rolle dramatische Akzente, war auch stimmlich allerbestes disponiert. Daß er mit dem Germont nicht so glücklich zu sein scheint, wie mit anderen Rollen, ist klar und wurde hier bereits festgestellt. Es liegt einfach daran, daß er (besonders für die Arie) zuviel denkt und zuviel gestaltet. Da hat es Ettore Bastianini besser – er singt nur, unbelastet von Stilproblemen. Daß jedoch Eberhard Wächter bestimmt der beste nicht-italienische Germont ist, sei hier nochmals ausdrücklich ausgesprochen – auch, daß er nur von wirklich erstrangigen Italienern übertroffen wird.

 

EIN MASKENBALL am 23. September, Neuinszenierung

Nun haben wir es wieder einmal selbst erlebt: „Mit der Wiener Oper geht es bergab, die Zerstörung ist nicht mehr aufzuhalten.“ Eine neue Maskenball-Inszenierung unter einem großen Dirigenten, prächtige Bühnenbilder und Kostüme, grandiose gesangliche Leistungen, die Beifall auf offener Szene erhielten, unzählige Hervorrufe, was könnte das Herz eines treuen Opernbesuchers mehr mit echter Begeisterung erfüllen, was aber auch die Feder so manches Wiener Kritikers wieder einmal mit einfach lächerlichen Phrasen beflügeln! Doch Papier ist geduldig! Weniger geduldig sind bestimmt alle jene Leute, die von den Rezensionen gewisser Herren Federfuchser schon lange genug und ihre Elaborate nie ernst genommen haben. Was soll z.B. ein versierter Opernbesucher denken, wenn er in einer Wiener Tageszeitung liest, daß Herr di Stefano nicht spielen könne! Was versteht Herr Y. unter einer tiefschürfenden, psychologisch wohlfundierten darstellerischen Leistung? Vielleicht den Philip oder Holländer Otto Edelmanns oder Norman Fosters gesammelte Taten? Man zeige uns unter den heutigen lyrischen Tenören nur einen vom künstlerischen Format eines di Stefano, nur einen wahrhaft großen Menschengestalter, der diesen Riccardo auf die Bühne stellt! Doch leider ist Giuseppe di Stefano Italiener und daher nicht Liebkind der Wiener Presse. Wir bedauern nur die  Leser, die diese von „Objektivität“ triefenden Ergüsse jener Berichterstatter ernst nehmen. Auf das tiefe Bedauern, daß die erste Premiere der Saison nicht z.B. mit Wagner bestritten wurde, können wir nur auf den kommenden Holländer verweisen, um dann einen strengen Vergleich mit den „Maskenball“ zu ziehen.

Doch zurück zur Aufführung. Ihr Glanzstück war ein Sänger, der an diesem Abend alles gab, was er geben konnte und damit einen erschütternden und bleibenden Eindruck hinterließ: Giuseppe di Stefano. Ein Menschengestalter stand auf der Bühne bei dem jede stimmliche oder darstellerische Nuance einer natürlich empfindenden Künstlerseele entsprang, kein Routinier, kein Paradesänger, sondern ein Mensch, der Riccardo war und ihn nicht zu spielen versuchte. Seine Sterbeszene hat uns wirklich erschüttert; hier fühlte man: solche Augenblicke künstlerischer Vollendung können nicht täglich vor uns abrollen, sonst verlieren sie an Einmaligkeit. Die stimmlichen Höhepunkte wollen wir nur kurz nennen: ein unnachahmlich con eleganza gesungenes „E scherzo od e follia“, ein hinreißendes Liebesduett (mit Frau Nassen) mit bestechender Höhe, die große Arie mit einer „Träne in der Stimme“ und die schon erwähnte letzte Szene in herrlichem Mezzavoce.

Gegen diese erlebte, verinnerlichte Erfüllung einer Rolle mußte Birgit Nilssons Amelia etwas kühl erscheinen, da ihr wohl nicht der Glanz in der Stimme, aber das typisch italienische sinnliche Timbre fehlt. Dennoch bot sie mit den differenzierten Schattierungen in ihrer typisch nordischen Stimme eine imponierende Leistung.

Mit dem Renato hat Ettore Bastianini wohl eine seiner besten Rollen gefunden. Sogar sein Spiel wirkte gelöst und frei, sein schöner, edler Bariton strömte mit zunehmender Höhe immer voluminöser und erreichte in den Spitzentönen beachtliche Durchschlagskraft (bei der zweiten Arie dürfte er etwas befangen gewesen sein, sie scheint ihm weniger zu liegen).

Erika Köth gab einen beweglichen, witzigen  Oscar und hellte mit Stimme und Erscheinung das düstere Geschehen auf der Bühne etwas auf.

Giulietta Simionato schien nicht in bester stimmlicher Verfassung gewesen zu sein; sie imponierte mehr im Terzett und den rezitativischen Szenen als in ihrer Arie.

Ein tiefer Rutscher unter das hochstehende Niveau gelang Norman Foster als Verschwörerhäuptling. Auf der Galerie überhaupt nur mit Spezialverstärker hörbar, erging er sich in andauernd unmotiviertem Grinsen; er war sekundiert von Ljubomir Pantscheff, dessen Stimme uns noch nie so stark vorkam. Karl Webers Stimme ist nicht unser Geschmack.

Der Chor sang diesmal durchwegs italienisch (wie nett von ihm!) und sehr schön, sicher geführt und abschattiert von Dimitri Mitropoulos, der seine Genialität auch als Operndirigent erneut unter Beweis stellte. Er nahm sich wohl einige vertretbare Freiheiten in Dynamik, Rhythmus und Tempo heraus, doch das Stimmgefüge war sehr verfeinert und durchsichtig, fast zu sensibel. An den einzelnen Stimmen des fugierten Verschwörerthemas hätte man bei Mitropoulos deren Anzahl leicht feststellen können.

Beifall erhielten auch die Bühnenbilder von Ita Maximowna, eine Seltenheit in Wien. Besonders das erste Bild, Renatos Zimmer und der Prunksaal im letzten Bild, waren prächtig und in die Tiefe der Bühne wirkungsvoll ausgebaut, vielleicht zu realistisch war die Galgenszene. Das Auge freute sich auch an den farbenfrohen Kostümen, weniger an der ziemlich konventionellen Regie Josef Gielens, der die zwiespältige Stimmung am Hofe des Grafen zwischen seinen Anhängern und seinen Verschwörern nicht spürbar zu machen vermochte.

Es gab viel Beifall nach den einzelnen „Nummern“ und am Schluß der Oper. Beifall, der entgegen anderen Meinungen von Herzen kam und den Dank der Zuhörer an alle, an diesem genußreichen Abend Beteiligten darstellte.

 

DON GIOVANNI am 24. September

Diese Aufführung dirigierte Heinrich Hollreiser, der sich, abgesehen von seinen ständigen Temposchwankungen, redlich, teilweise sogar mit Erfolg, bemühte. Jedenfalls gelang es ihm diesmal, über die Schablone des Musikeintopfes hinauszukommen. Großartig sang Birgit Nilsson die Donna Anna; die dramatischen Stellen mit der ganzen Kraft ihrer stählernen Stimme, aber auch die lyrischen Passagen und Koloraturen mit Stilgefühl und einer phänomenalen Technik. Da kamen die beiden anderen Damen, Gerda Scheyrer und Emmy Loose naturgemäß nicht immer ganz mit. Besonders letztere lieferte eine etwas verkrampfte Zerlina. George London hatte seine stärksten Momente in den Komturszenen, während Otto Edelmann gar keine starken Momente hatte. Er glich einem Waldner, den man in ein spanisches Kostüm gesteckt hatte (ein Ein-Mann-Maskenball). Ivo Zidek legte als Ottavio wieder eine Talentprobe ab. Sein sauberes Singen zeigte den gesunden Ehrgeiz des jungen Sängers. Ein Abendregisseur, der den Neuen eingewiesen hätte, war offenbar nicht greifbar und so geschah es, daß dem glücklichen Paar Anna-Ottavio während des Schlußsextettes der Schleiervorhang auf die Köpfe fiel.

BALLETTABEND am 25. September

EIN MASKENBALL am 26. und 29. September

Giuseppe Zampieri hat es wirklich nicht leicht. Er wird ständig mit Giuseppe di Stefano verglichen, muß für ihn einspringen und seine Rollen übernehmen. Es spricht für ihn, daß er sich trotz dieser sicher starken Belastung so wacker hält. So war er auch schon in der der Premiere folgenden Aufführung als Riccardo zu hören. Für diese Partie ist er wohl noch etwas zu lyrisch, obgleich er etwa die große Arie sehr schön sang, wie überhaupt die rein gesangliche Gestaltung sicher und gediegen erschien. Als Schauspieler mußte er gegen Giuseppe die Stefano abfallen. Aber das ist eben sein Pech, immer mit der Spitzenklasse in Konkurrenz treten zu müssen. Mit Karl Friedrich, Karl Terkal, Josef Gostic und ähnlichen Ensemble-Mitgliedern, denen er in jeder Beziehung haushoch überlegen ist, vergleicht ihn „objektiver Weise“ niemand. Jean Madeira fühlte sich in der tief liegenden Partie der Ulrica sehr wohl. Die dunkle Kraft ihrer Stimme kam voll zur Geltung und die nicht ganz ausgeglichene Höhe fiel hier weniger ins Gewicht. Sie hat mit den in diesem Moment zum ersten Mal in Wien kreierten beiden Verdi-Partien endlich wieder ihr beschränktes Rollenfach vergrößern können. Birgit Nilsson mit dem strahlenden Glanz ihrer Helden-Sopran-Stimme, Ettore Bastianini mit edlem, weichem Organ und seiner geradezu phänomenalen Höhe und Erika Köth mit funkelnder Koloratur konnten das Niveau der bei der Premiere erreichten Leistungen noch überbieten. Es ist eine reine Freude, diesen drei Sängern zuzuhören, die stimmliche und technische Probleme nicht kennen. Wie lange haben wir das Gefühl nicht gekannt, mit Genuß auf die zahlreich vorhandenen Spitzentöne warten zu können! Hier braucht man keine Angst vor einem Schmiß zu haben. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit kommt alles, wie es kommen muß – mit Eleganz, Schönheit und Kraft. Dimitri Mitropoulos, der das, was er mit scharfem Intellekt und viel Geist durchdacht, mit genialem, musikalischem Impuls zu erfüllen weiß, stand wieder an der Spitze des traumhaft schön spielenden philharmonischen Orchesters.

DIE ZAUBERFLÖTE am 27. September

Nach drei geschlossenen Aufführungen von Mozarts letztem Bühnenwerk im September, war in dieser Aufführung erneut festzustellen, daß die Rennert-Inszenierung nach wie vor Niveau hat, daß der Beifall nach jeder Arie auf die Sänger niederprasselt und man stets zufrieden das Haus verläßt. Am Pult stand diesmal leider kein Mozartkenner, sondern Michael Gielen, der Orchester und Bühne wenigstens zusammenzuhalten vermochte. Erika Köth als Königin der Nacht setzte mit der zweiten Arie zweifellos den Glanzpunkt der Aufführung. In dieser Partie ist sie unerreicht und unübertroffen. Hilde Güden war eine süße, gesanglich tadellose Pamina, Liselotte Maikl eine Papagena mit nettem Stimmchen und die drei Damen waren mit Gerda Scheyrer, Christa Ludwig und Hilde Rössel-Majdan sehr gut besetzt. Von den Männern hinterließen Josef Greindl als Sarastro (stimmlich ausgezeichnet und darstellerisch sehr eindrucksvoll) und der quicklebendige Erich Kunz als Papageno den besten Eindruck. Waldemar Kmentt bemüht sich sehr als Tamino, vermochte aber nicht zu begeistern. George London ist als Sprecher fehl am Platze und als Monostatos vermißten wir sehr Peter Klein, denn Fritz Sperlbauer konnte der Partie in keiner Weise genügen. Im Priesterduett vereinigten sich zwei der häßlichsten und lästigsten Stimmen des ‚Ensembles’, Erich Majkut und Hans Schweiger, und als erster Geharnischter war Karl Friedrich nicht zu überhören! Eine Augen- und Ohrenweise sind die drei Sängerknaben.

DER ROSENKAVALIER am 28. September

Einen besonderen Reiz dieser Aufführung hatte die Besetzung der drei weiblichen Hauptrollen. Hilde Konetzni, Hilde Güden und Christa Ludwig verkörpern praktisch drei Epochen unserer Oper. Die Marschallin fand in Hilde Konetzni, deren große, schöne Stimme uns unvergeßliche Abende im alten Haus in Erinnerung zurückrief, eine Interpretation voll Seele und Gefühl. Nach dem Ende des ersten Akts standen nicht nur ihr, sondern auch vielen ihrer treuen Anhänger Tränen in den Augen. Christa Ludwig als Oktavian, jung und vorwärts strebend, weiß jeder Rolle ihre persönliche Note zu verleihen. Hilde Güdens silbriger, unvergleichlich sicher geführter Sopran ist die Idealstimme für die Sophie. Man identifiziert sie mit der Rolle, und alle anderen Sophien haben es nach ihr sehr schwer. Schade, daß am Pult ein einfacher Handwerker des Dirigentenfaches stand, Meinhard von Zallinger, der seine bevorstehende Berufung als Chef des Salzburger Mozarteumorchesters doch hoffentlich nicht zum Anlaß wird nehmen wollen, uns öfters heimzusuchen! Die Damen hätten in diesem Rosenkavalier wahrhaftig einen schöneren Orchesterteppich verdient! Meinhard von Zallinger taugte lediglich zur Begleitung des groben, plumpen, aufdringlichen Ochs Kurt Böhmes. Erfreulich hat sich Ivo Zidek verbessert. Er trug seine Arie zwar nicht gerade im italienischen Stil, aber doch recht gepflegt vor. Der Beifall galt an diesem Abend vor allen den Damen, die Herren waren eindeutig das schwächere Geschlecht.

EIN MASKENBALL am 29. September

wurde mit der Aufführung am 26. September besprochen.

TURANDOT am 30. September

Alle paar Jahre wieder nimmt Frances Yeend einen großen Anlauf und versucht, von massivem Presse-Trommelfeuer unterstützt, den alten Kontinent zu erobern. Im Zuge dieses Unternehmens sang sie in dieser Vorstellung auch in Wien die Titelpartie, nachdem wir sie im Theater an der Wien als Violetta und Micaela kennen gelernt und trotz ihrer knielangen blonden Haare wieder vergessen hatten. Sie hat indessen grundlos das Fach gewechselt. Als Liu wäre sie wenigstens besser gewesen als die unerträgliche Emmy Loose. Joao Gibin bewies aufs Neue, daß er eine sehr schöne Stimme hat und geschmackvoll zu singen versteht, was jedoch nicht dazu verleiten soll, ihn anzusetzen. Er müßte Hofmann, Faust, Alfred, Cassio oder Pinkerton singen und zwar öfters. Entweder man fördert einen jungen, viel versprechenden Sänger und gibt ihm Rollen, oder man schickt ihn an eine kleine Bühne zur Routinegewinnung. Ihn alle heiligen Zeiten einmal in einer für ihn zu schweren Rolle anzusetzen, wird Joao Gibin höchstens ruinieren. Die Lebensjahre der Sänger, die sonst auf der Bühne versammelt waren, hätten, addiert, eine sehr hohe Ziffer ergeben. Die Leistungen waren dementsprechend. Nur Eberhard Wächter wahrte, obzwar seine Ministerkollegen es ihm schwer machten, unerbittlich das Niveau und sang die kleine Partie genau so sorgsam, als wäre er Wolfram. Für die Mentalität des Chores ist es bezeichnend, daß ein Herr den ihn offenbar drückenden Kulihut samt Zopf abnahm und sich unbekümmert darum, daß es 2000 Leute sehen könnten, die Privat-Frisur zurechtlegte. Berislav Klobucar hatte diesmal ein besser besetztes Orchester und tat sich leichter.

 

Der Gesamteindruck des Monats September? Programmzusammenstellung durchschnittlich, Ausführung größtenteils hervorragend. Kein Opernhaus der Welt hat in einer Woche Herbert von Karajan, Dimitri Mitropoulos, Karl Böhm und Rudolf Kempe am Pult, Elisabeth Schwarzkopf, Irmgard Seefried, Sena Jurinac, Christl Goltz, Birgit Nilsson, Giulietta Simionato und Christa Ludwig, Tito Gobbi, Eberhard Wächter, George London, Ettore Bastianini, Giuseppe die Stefano und Giuseppe Zampieri auf der Bühne. Wenn es ebenso viele Sänger für das Wagnerfach wie für das italienische Fach gäbe, könnte man sogar den Spielplan abwechslungsreicher gestalten, obwohl wir auch schon diesbezüglich schlechtere Monate als diesen erlebt haben.

 

DER SCHREI NACH DER ZWEITEN GARNITUR

Leitartikel

Die Musikliebhaber Wiens, die genug gehört haben, um sich selbst eine Meinung bilden zu können, nehmen nichts mehr ernst, was da so am Morgen und am Mittag (am Abend beschränkt man sich auf Filmklatsch) in der Zeitung steht. Wie oft man sich schon gesagt hat, daß es zwecklos ist, sich auch nur im geringsten darüber zu ärgern, dürfte kaum mehr abzuschätzen sein. Trotzdem kann man manchmal nicht umhin, diese ewige Brunnenvergifterei anzuprangern, zunächst weil es anscheinend doch noch gutmütige, naive Naturen gibt, die sich durch die Presse beeinflussen lassen – wir reden hier, das sei ausdrücklich festgehalten, nur vom kulturellen  Sektor –, so dann, weil bestehende Spannungen, die unter Künstlern bekanntlich nie ganz ausbleiben, unnötig verschärft und vor allem völlig verzerrt werden, und  schließlich, weil die Schreiber, wenn sie nicht gerade persönlich mit einem Kollegen verfeindet sind (an dem sie dann allerdings kein gutes Haar lassen) einander nie sonderlich weh tun und etwaige blamable Pleiten, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich selber unsicher fühlen, „taktvoll“ übersehen, was aber die einzige Gelegenheit ist, bei der sie Takt an den Tag legen. Jedenfalls hat man Grund genug, mißtrauisch zu sein, wenn aus den verschiedensten Richtungen des Blätterwaldes die gleichen Mißtöne rauschen.

Anlaß für diese unerfreuliche Betrachtung sind die Kritiken der italienischen Staatsopernaufführungen im September, eine Glosse im „Express“ vom 16. und ein Leitartikel im „Neuen Österreich“ am 20. September. Wenn man zunächst die Überschriften einiger Rezensionen anblickt, könnte man zu dem falschen Schluß kommen, die Wiener Staatsoper müßte heute schon eingestürzt sein – wozu die Rigoletto-Aufführung jedenfalls keinen Anlaß gab – oder es habe dort Sonntag abends eine Schlagerparade stattgefunden. Und eine ärgere Geschmacklosigkeit im Zusammenhang mit dem jedem Musikfreund heiligen Falstaff läßt sich wohl nicht leicht finden. Aber um des Bonmots willen ist einem offenbar nichts zu geschmacklos. Worauf die Andeutungen und Spitzen hinauswollen weiß man zwar schon lang, man wird aber ein paar Zeilen weiter unten nochmals darauf gestoßen: Es geht natürlich wieder gegen die – in erster Linie italienische – Originalsprache, und alles, was drum und dran hängt. Denn gegen das Italienische zu sein, ist heute in Wien in manchen Zeitungen das Wichtigste. Und alles, was die Kulturseite ziert, wird daraufhin ausgerichtet – allerdings erst, seitdem für die italienische Oper in Wien etwas geschieht, so viel übrigens, daß man sich als objektiver Zuhörer hier und da beschämt sagen muß, daß man die angeblich abgespielten  Werke zuvor sehr zu Unrecht von oben herab beurteilt hatte.

Zu einer Zeit, als noch gar keine Aussicht bestand, auch nur Bruchteile dessen, was heute geboten wird, in Wien zu hören, hat man nach der Originalsprache gerufen, da hat man sogar Pro und Kontra abgewogen und eine Diskussion angeregt (Merk’s Löbl!). Heute gibt man, ohne nachzudenken, nur mehr Kontra, ohne nach Gründen für getroffene Entscheidungen zu fragen, und das tatsächlich Errungene will man mit spitzen Pfeilen beschießen, meist reicht es jedoch nur zum Werfen mit Schmutz. Man hütet sich vor ehrlicher Diskussion, man ironisiert und mimt Bitterkeit, man sucht in stümperhafter Weise nach Bonmotscherln, man tut von oben herab, man verzerrt und intrigiert. Zur Klarstellung: Auch wir hätten recht gern ein etwas gemischteres Programm, können aber auch ohne weiteres ein paar Wochen z.B. auf Wagner verzichten, bevor wir seine Werke vom Ladenhüter-Ensemble hören müssen. Das tut Wagner nämlich gar nicht gut, er braucht genau wie Verdi Persönlichkeiten und Stimmen, die wir nun eben auch mit anderen teilen müssen.

Der Herr, der den Leitartikel im „Neuen Österreichisch“ verfaßte, hat, wie er beteuert, nichts gegen das Italienische und die Italiener,  aber er ist für das arme, vernachlässigte Ensemble der einheimischen Künstler, wenn er auch vom Wesen einer Künstlergemeinschaft – das Wort Ensemble weckt in uns schon seit einiger Zeit unfreundliche Assoziationen – wenig Ahnung hat. Er bedauert unter anderem die im Schatten stehende einheimische (war lacht da?) Jean Madeira und vor allem unsere armen Chargensänger, die sich in so kurzer Zeit – die immerhin schon zwei Jahre dauert – nicht umstellen konnten.

Dazu ist einiges zu sagen:

Es wurde im „Merker“ schon des öfteren festgestellt, daß wir zwei Kategorien engagierter Sänger besitzen – solche, die der ersten und solche, die der zweiten bis zehnten Garnitur angehören. Davon kann sich jeder Musikfreunde bei allen Aufführungen, die er besucht, überzeugen. Denn unbarmherzig zeigt sich auf der Bühne der Staatsoper die kleinste Schwäche und die geringste Unsicherheit. Hier offenbart sich, wer durch Fleiß und Können einerseits, durch Protektion, gute Beziehungen, Heiraten oder Ähnliches andererseits, auf die Bretter gelangte, die die Welt bedeuten. Wer von den einheimischen Sängern kann sich, wenn er wirklich Klasse repräsentiert, über Bevorzugung der Italiener, über mangelnde Beschäftigung beklagen? Bieten nicht die Güden und die Nilsson, die Schwarzkopf und die Goltz, die Jurinac und die Ludwig, die Lipp und die Della Casa, gleichgültig ob sie im deutschem oder im italienischen Fach eingesetzt werden, gleichgültig, in welcher Sprache sie singen, große, ihrem Format angemessene Leistungen? Oder haben etwa die Herren Hotter, Wächter, Berry, London darunter zu leiden, daß Tito Gobbi, die größte Persönlichkeit in seinem Fach, oder Ettore Bastianini, die schönste Stimme in dem seinen Fach, des öfteren bei uns zu hören sind? Sind  Erika Köth oder Anneliese Rothenberger durch Graziella Sciutti oder Aureliana Beltrami gefährdet oder außer Kurs gesetzt? Und  wer (außer einer einzigen Fachkollegin!) ist nicht davon überzeugt, daß die einzigartige Simionato an der Staatsoper singen muß, weil sie einfach unersetzlich ist?

Man sieht: Außer Kurs gesetzt ist nur die zweite Garnitur und möge sie noch so gute Beziehungen zur Presse haben, dem zahlenden Publikum, das die Opernaufführungen aus Interesse besucht, kann auch der witzigste Kritiker kein X für ein U vormachen.

Abgesehen von stimmlichen und technischen Mängeln der Damen Zadek, Stich-Randall, Loose, Lotte Rysanek, Rethy, Hermann, Martinis, Richter, Kenney, Grob-Prandl usw., der Herren Terkal, Friedrich, Hurshell, Braun, Baylé, Koréh, Meyer-Welfing usw. fehlt diesen vor allem noch etwas: der eiserne Fleiß der zuerst Erwähnten, das stete Bereitsein, das tatkräftige Ergreifen einer Chance, das bei einigen jungen Künstlern sogar so stark ausgeprägt ist, daß der Opernfreund, trotz aller Freude über solchen Eifer, manchmal nicht umhin kann, zu denken: „Schon wieder eine neue Rolle! Um Himmelswillen, es ist zu früh! So müssen aber Staatsopernsänger sein, die schließlich ihr Publikum jeden Abend und immer aufs Neue erobern müssen. Das Ausruhen auf Lorbeeren, die vor Jahren erworben wurden, wird weniger gern gesehen, als die Erarbeitung einer neuen Rolle. Das ständige Feilen an den Stammpartien ist genau so nötig wie das Anhören von Kollegen und Konkurrenten. Und diejenigen Sänger, denen das Arbeiten ein Bedürfnis ist, sind das Ensemble der Wiener Oper. Ob sie vom Nordkap oder vom Kap der guten Hoffnung stammen, ist für das Publikum gleichgültig.

Radikal, wie der Merker schon einmal ist, sähe er es lieber, wenn die anderen, statt mitgeschleppt und zum Einspringen verwendet, lieber gekündigt oder pensioniert würden. Sie und ihr Anhang stiften, wie man sieht, nur Unruhe.

Daß auch wir lieber einen ausgeglicheneren Spielplan hätten, in dem man in schöner Regelmäßigkeit jede Woche einen Wagner, einen Strauss, einen Mozart, einen Verdi, einen Puccini und einen Leckerbissen (von Händel bis Berg) fände, ist klar. Doch der gut informierte Opernfreund, der sich dafür interessiert, wo und mit wem anderswo Opern gespielt werden, ist sich der Sinnlosigkeit bewußt, eine gute Wagneraufführung  in Wien zusammenstellen zu wollen, wenn in London gerade die alljährlichen beiden Ring-Zyklen gespielt werden. Bevor wir den Tannhäuser mit Traute Richter, Kenney und Liebl hören, gehen wir lieben in eine Traviata mit Güden, Zampieri und Bastianini.

Das Publikum hat gar nichts gegen große Sänger in italienischen Opern einzuwenden, auch wenn diese  aus dem Süden stammen. Und die zunehmende Qualität der italienischen Aufführungen bringt nur die Operndirektion selbst  in eine Lage, die später einmal unangenehm werden kann: In eine Traviata mit Stich-Randall, in eine Tosca mit der Martinis wird kein Mensch mehr gehen, auch wenn sie Ensemblemitglieder sind.

Wir würden auf den Holländer hoffen, jene Wagner-Oper, die noch am leichtesten zu besetzten ist. Er könnte, wie dies bei der „Zauberflöte“ bereits der Fall ist, dazu beitragen, das Gleichgewicht zwischen Deutsch und Italienisch herzustellen. Wenn er gelingt! Wir kennen allerdings Edelmanns Holländer, Karl Böhms Holländer, wir kennen Adolf Rott und Professor Kautsky. Wir sind zu Pessimisten geworden und sagen eine Riesenpleite voraus. Die oben erwähnte Ensemble-Zusammensetzung hält der beste Holländer nicht aus. Dabei hätten wir Möglichkeiten genug: Keilberth, Kempe, Matacic; Hotter, London und Wiener. Und Günther Rennert. Vielleicht geschieht ein Wunder!

Vorderhand bleibt uns also nichts anderes übrig, als fleißig die so geschmähten italienischen Aufführungen zu besuchen. Wenn die Kritik damit nicht einverstanden ist, möge sie sich darauf beschränken festzustellen, daß diese und jene Aufführung stattgefunden habe und daß dieser oder jener Sänger gesungen hat. Das Publikum ist auf permanente Hetze nach dem Schema „Steter Tropfen höhlt den Stein“ absolut nicht neugierig. Und wenn – was Gott verhüten möge! – andere, schlechtere Zeiten kommen, in denen wir wieder über die Abendform von Karl Terkal, Emmy Loose und Hans Braun debattieren können und die Kritiker ihr Ensemble wieder haben, in dem alle gleichmäßig farblos, beamtenhaft und stumpf sind, dann werden wir zurückdenken: Als noch die Tebaldi bei uns sang ... Gobbi ... Simionato ... di Stefano als Riccardo ... Monaco als Othello ... Bastianini als Posa.

Was wird dann der Presse nicht recht sein?’

 

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