DER NOVEMBER 1963
8. Jahrgang, Heft 12
Herbert von Karajan bemüht sich geduldig, seine Ansichten über ein kombiniertes Ensemble-Stagione-System in Pressekonferenzen und Interviews unter die Leute zu bringen. Praktisch erhebt sich jedoch die Frage, was man bei einem solchen System mit den fix engagierten 39 Damen und 51 Herren machen soll, die ja, wie bekannt und öfters betont, durchaus nicht alle imstande sind, neben Sängern der Spitzenklasse auf der Bühne zu stehen. Diejenigen. die es können, sind aber dann auch nicht in der Lage, eine ansonsten schwach besetzte Aufführung zu beleben. So lagen zwischen den beiden Superaufführungen des Troubadour und der Boheme Aufführungen wie Carmen, Bajazzo usw., die zweifellos nicht im Sinne des Erfinders waren. Auch der Umstand, daß die Hosenrollen dieses Monats fast durchwegs mit Gästen besetzt waren, ist bedenklich. Die Repertoiregestaltung dürfte bei einer zukünftigen Ensemblestagione ein ernstes Problem werden. „Ziehen“ soll alles, gut soll es sein – und kosten soll es möglichst wenig. Etwas zu viel verlangt scheint uns! Wie den Schwankungen der Qualität abzuhelfen ist, bleibt ein tiefes Geheimnis, dessen Lösung in nebelhafter Ferne liegt. Erfreulich fanden wir es, daß eine Verkaufte Braut mit mäßiger Besetzung zu Preisen IV einem Kongreß verkauft wurde. Viel Verständnis bringt ein Kongreßpublikum ohnehin nicht auf, so soll es wenigstens zahlen! Das ist der erste Beweis von Geschäftstüchtigkeit, den wir von den zuständigen Stellen erlebt haben.
DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 1. November
Drei Akte lang dirigierte Heinz Wallberg den Figaro sehr schön, lebendig und klar. Die Gartenszene ging dann aber leider vollständig daneben. Hier verlor der Dirigent den Kontakt mit der Bühne, und beim Versuch, ihn wiederzufinden, war auch der mit dem Orchester zum Teil dahin. Nur aufgehört wurde wieder gemeinsam. Von den auftretenden Damen sang Olivera Miljakovic den Cherubino sehr hübsch, hatte aber im Spiel eine zu feminine und etwas zu persönliche Auffassung zu bieten. Persönlichkeit zeigte Lucia Popp in der Partie der Barbarina, die sie entzückend sang und spielte. Persönlichkeit zeigte auch wie gewohnt Elisabeth Höngen als Marzelline. Die anderen Damen sangen nur. Gerda Scheyrer war die farblose Gräfin, die nach der Cavatine matten Höflichkeitsapplaus hatte, nach der zweiten Arie aber lautstarkes Bravogeschrei, das durch die Leistung keineswegs gerechtfertigt war. Adriana Martino sang die Susanne sehr hübsch, war aber im Spiel zum Großteil uninteressant. Im letzten Akt, wo sie mit Erich Kunz, dem gut singenden Figaro der Aufführung, auf die typische Art des „Wiener Enembles“ outrierte (mehr als es Frau Seefried je tat), sogar unangenehm. Eberhard Wächter war als Graf stimmlich ausgezeichnet, im Spiel fast zu gut aufgelegt und beanspruchte den Souffleur über Gebühr. Ludwig Welter ist schon ein recht guter Bartolo geworden. Peter Klein, Erich Majkut und Ljubomir Pantscheff komplettierten auf gewohnte Weise.
TURANDOT am 2. November
Giuseppe Patané ist der charakteristische Vertreter des „unbequemen“ italienischen Dirigententyps, einer Gruppe, deren prominentester unzweifelhaft Toscanini war und deren bedeutendster zeitgenössische Vertreter, Molinari-Pradelli und Santi, wir Gott sei Dank auch gelegentlich hier haben. Patané wäre auch ohne unfreiwillige Hilfe der Gewerkschaft in die Höhe gekommen, aber so ging’s eben rascher. Rasch ist er überhaupt, besonders im Tempo. Er vertreibt die Beamten im Orchesterraum und auf der Bühne (wo sie in der Turandot weniger unter den Solisten, als im Chor zu finden sind) sehr rasch die Schläfrigkeit und beginnt dann, wenn er das Heft in der Hand hat, das Werk aufzubauen. (Eine Methode, die auch Karajan anwendet – siehe seine „eingesprungenen“ Meistersinger vor vier Jahren). Dann leuchten die Farben und die Melodie beginnt zu blühen. Wenn ein Sänger gerechtfertigten Beifall bekommt, könnte er allerdings stoppen. So unbequem müßte er wieder nicht sein. Franco Corelli sang einen geradezu sagenhaften Kalaf. Es fällt wirklich schwer, Worte für die Kraft und Schönheit der Stimme und den Bau der weitgeschwungenen Legatophrasen zu finden. Da er noch dazu die stimmliche Intensität und die Idealerscheinung für den unbekannten Prinzen hat, blieb kein Wunsch offen. Amy Shuard sang wieder mit prächtiger Stimme und viel Einfühlungsvermögen die Turandot, selbst einem Partner wie Corelli durchaus gewachsen. Als Liu war Felicia Weathers zu hören, bombensicher und gewandt im Gesang und auf der Bühne (sie kann die Rolle kaum schon irgendwo gesungen haben), mit aparter Stimme, deren Größe für die Partie auch ausreichte, mit rührender Geste und zierlicher Gestalt. Ivo Vinco war ein Timur mit kraftvoller Stimme. Die Minister sangen ausgezeichnet. (Erich Majkut, vor dem uns etwas bange war, überraschte durch weise Zurückhaltung, sodaß die weit angenehmeren Stimmen der Kollegen Ermanno Lorenzi und Kostas Paskalis gut zur Wirkung kamen).
LA BOHEME am 3. November, die Premiere wurde abgesagt! Keine Vorstellung!
Siehe DAS PHANTOM DER OPER im Monat Oktober (Leitartikel, 8. Jahrgang Heft 11)
Ergänzung der Herausgeberin:
Natürlich hatten wir alle die Gerüchte über Spannungen mit dem Betriebsrat gehört, sie aber nicht ernst genommen. Als aber in der so pünktlichen Wiener Staatsoper die Lichter nicht ausgehen wollten, brach plötzlich der Angstschweiß aus. Und dann geschah es, daß Egon Hilbert mit rotem Kopf und Herbert von Karajan mit sehr weißem Gesicht vor den Vorhang kamen. Egon Hilbert hielt folgende Ansprache, die im Radio – da man die Premiere übertragen wollte – gesendet wurde, und deren Originalaufnahme mir vorliegt:
„Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Direktion dieses Hauses, also der künstlerische Leiter Herbert von Karajan und ich als Direktor müssen ihnen leider die Mitteilung machen, daß die heutige Premiere La Boheme nicht stattfinden kann,
Buh, Pfui, Wirbel, Geschrei, Ruhe, Pfui
da …
Warum gibt es keinen Anschlag draußen? Kommt gleich! Pfui Karajan! Ruhe! Bravo Karajan! Großer Wirbel!
Da das Personal in den Str..
Wirbel, Ruhe, Hoch Karajan!
Meine Herren, ich bin kein Tenor, ich kann nicht so laut singen.
Gelächter
Da das Personal in Streik getreten ist.
Na das ist doch! Pfui, Buh, Randalieren
Lassen’s mich ein bisserl fertigreden.
Die Öffentlichkeit wurde durch die Nachrichten alarmiert, daß der künstlerische Betriebsrat des Hauses die Tätigkeit eines italienischen Souffleurs nicht duldet
Beifall, Wirbel, Ruhe
und deswegen ein Verfahren beim Arbeitsamt eingeleitet wurde, bzw. noch schwebend ist.
In Wirklichkeit handelt es sich um den Einsatz eines Maestro Suggeritore, Subdirigent
Haut’s ab nach Mailand – Protestgeschrei – Hilberts Ausführung zum Subdirigent geht im Lärm unter
Meine Damen und meine Herren auch in einer Demokratie erlauben Sie, daß Sie mich doch wenigstens anhören!
Langer Beifall, Jawohl usw.
Die Direktion
Pfui Karajan-Diktatur, Geschrei, Bravo Karajan!
Bitte meine Damen und Herren! Sogar im Parlament darf jemand fertigreden. Sind Sie so lieb.
Jawohl, Beifall
Die Direktion vertritt mit Recht den Standpunkt, daß es sich hier um eine rein künstlerische Entscheidung handelt, die nur die Direktion zu lösen in der Lage ist. Sie hat aber, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, einen Prestigestandpunkt einnehmen zu wollen, sich bereiterklärt, nach dieser Premiere unverzüglich in Verhandlungen mit den zuständigen Stellen zu treten, um auf dem Verhandlungswege die Frage der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in der Wiener Staatsoper generell zu regeln, selbstverständlich bei voller Aufrechterhaltung der künstlerischen Freiheit der Direktion.
Meine Damen und meine Herren, dieser schon vor einigen Tagen schriftlich einem Vertreter der Gewerkschaft übergebene Vorschlag wurde nicht akzeptiert.
Unter diesen Umständen sieht sich die Direktion – der künstlerische Leiter und der Direktor in voller Einmütigkeit (dabei umarmte Egon Hilbert Maestro Karajan!) gezwungen, die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Führung der Wiener Staatsoper so lange abzulehnen, bis die künstlerische Unabhängigkeit dieser Direktion wieder sichergestellt ist.“
Daraufhin – die vorbereiteten Zwischenrufe waren längst verstummt – brach das Auditorium in Beifall aus, während Karajan und Hilbert hinter dem Vorhang verschwanden. Als man im Zuschauerraum sehr schnell das Licht abdrehte, und sich ein Großteil des Publikum plötzlich in totaler Finsternis wiederfand, gab es wieder heftiges Geschrei. Die Finsternis dauerte allerdings nicht lange, das Licht flammte bald wieder auf. Dann standen wir alle vor der Oper und begriffen zuerst einmal gar nichts!
DER ROSENKAVALIER am 4. November
Eine sehr gute Vorstellung bei schwachem Echo. Opernkrisen wirken sich offenbar im Besuch und in der Stimmung aus, das haben wir ja schon öfter erlebt. Immerhin dirigierte Günther Wich aber einen schwungvollen und im Klang sehr schönen Strauss, wenn er gelegentlich auch ein wenig zu laut war. (Den großen Stimmen auf der Bühne schadete das allerdings nicht). Leonie Rysanek sang nach langer Pause wieder die Marschallin. Stimmlich war sie hervorragend. Sie sang schön ausgewogen. Die Piani saßen mustergültig. Nur in der unteren Mittellage bohrt sie gelegentlich die Töne etwas an, was sich aber geben dürfte, wenn sie die Partie nun hoffentlich wieder häufiger singen wird. Sie ist nämlich jetzt auch in der Zeichnung der Gestalt reifer und erfolgreicher als vor einigen Jahren. Ihre Auffassung ist die typisch wienerische – auf eine etwas modernisierte und herbere Reining-Art. Hoffentlich wird die große Stauss-Sängerin Leonie Rysanek auf diesem Gebiet in Zukunft noch mehr eingesetzt. Neben Ariadne, Kaiserin und Chrysothemis wäre sicher auch die Arabella sehr interessant. Wilma Lipp sang eine bezaubernde Sophie, stimmlich und im Aussehen in gleicher Weise wirksam. Nur der Schlußton des Duetts im dritten Akt geriet zu tief, woran aber auch die Partnerin beteiligt war. Regina Sarfaty, von der man so viel Aufhebens in Zeitungen und im Rundfunk macht (sind Amerikaner eigentlich keine Ausländer, die armen heimischen Künstlern das kärgliche Brot vor der Nase wegsingen?), verfügt zwar über eine vorzügliche Figur und ein apartes Profil, hat sich auch die Gestalt des Oktavian einigermaßen sicher angeeignet, wenn ihr auch Persönlichkeit fast gänzlich fehlt. Aber wie sie mit einer so groben und fast als unschön zu bezeichnenden Stimme an großen Opernhäusern in dieser Rolle ankommt, verstehen wir nicht. Das Timbre ist „gewöhnungsbedürftig“, Höhe hat sie überhaupt keine, und die Technik ist nicht besonders, denn die Stimme verkrampfte sich im Verlauf der langen Partie immer mehr, was sich in der Rosenüberreichung und im dritten Akt sehr störend auswirkte. Eine junge Rohs, eine neue Ludwig oder eine Jurinac in statu nascendi müßten unbedingt bald auftauchen, denn sonst gibt es in diesem Fach noch ein Malheur. Oskar Czerwenka ist derzeit sehr gut in Form. Er beherrschte die Partie des Ochs von der Höhe bis zur Tiefe gleich gut. Die Stimme klang voll und ausgeruht und daher ist er auch als Figur wieder liebenswürdig und humorvoll, wobei er den nötigen kleinen Schuß Gemeinheit sehr dezent beimischt. Ist er nämlich nicht gut bei Stimme, zerfällt ihm die Rolle in lauter Einzelgags. In dieser Verfassung ist er als Ochs schwer zu überbieten. Erich Kunz sang den Beginn des zweiten Aktes („Ein großer Tag, ein Ehrentag“) mit soviel Hingabe und innerer Freude (warum wohl?), daß er vor Glück sogar die Spitzentöne einigermaßen erwischte. Gespielt hat er auf seine herkömmliche Weise, mit Zepperlschritten und Händereiben, wirkte dabei aber immerhin sehr lustig. Luigi Alva hatte als Sänger einen rabenschwarzen Abend. Man meinte oft, er müsse im nächsten Augenblick aufhören. Da nützt ihm seine Technik und sein hübsches Timbre nicht. In dieser Partie braucht man Höhen, die knallen. Gerhard Stolze und Hilde Rössel-Majdan waren ein wüst outrierendes Intrigantenpaar.
BALLETTABEND am 5. November
DER TROUBADOUR am 6. November
Anstellschlachten, knisternde Stimmung und ein wahrer Aufschrei der Begeisterung, als Herbert von Karajans Schuhspitzen in der Tür des Orchesterraums sichtbar wurden! Einen solchen Applaus hat das Haus am Ring noch nicht einmal bei der „Ritorna vincitor“-Aida erlebt. Mit langen Gesichtern verließen einige heimische Ensemblemitglieder, die offenbar ein Waterloo erwartet hatten, Künstlerloge und Haus und versäumten dadurch eine herrliche Aufführung. Noch selten hat man alle Beteiligten an einer Opernaufführung in einer derartigen Konzentration erlebt. Das Orchester spielte, als ginge es um sein Leben. Der Chor hielt sich – vom verwackelten ersten Bild abgesehen – sehr gut, und die Italiener auf der Bühne knieten sich in ihre Rollen, als wollten sie noch unterstreichen, daß sie in ihrem Fach nicht zu ersetzen sind – was ohnehin jeder Musikfreund weiß. Franco Corelli z. B. ist der typische Sänger für eine Stagione, denn von den sechs Troubadours, die er sang, war einer besser als der andere. In dieser Rolle kann man ihn nur mit sich selbst vergleichen. Er ist einfach hundertprozentig richtig. Er singt so intensiv und elastisch, wie er wirkt. Die herrliche, explosive Stimme federt wie eine Damaszenerklinge und wird mit einem Luftreservoir, das seinesgleichen sucht, in Phrasen und Bogen geformt, die einem tagelang nicht mehr aus dem Ohr gehen. Margarita Lilowa, die ihre zweite Wiener Azucena sang, überbot sich diesmal selbst. Die schöntimbrierte Stimme wurde mit größter Intensität und sehr musikalisch eingesetzt und auf der Bühne entwickelte die junge Sängerin konzentrierte Gestaltungskraft. Ebenfalls im Kommen ist Ilva Ligabue als Leonore, die in die Partie immer mehr hineinwächst und ihre aparte Stimme mit sicherer Technik und echtem Gefühl zu führen weiß. Ettore Bastianini, zurück aus Japan, trat leider nicht in Salzburger Form an. Doch ist er für den Luna, sowohl vom Typ als auch vom Timbre und der Art zu singen her, so ideal, daß man über eine schwächere Abendverfassung hinweghören konnte, umso mehr als er auch sehr viel Spannung und Konzentration mitbrachte, die ihm nur an einer Stelle („Più l’ami, e più terribile …“) verließ, als müßte er die Notwendigkeit des Maestro suggeritore verdeutlichen. Ivo Vinco komplettierte die Besetzung mit einem gut gesungenen Ferrando. Das Publikum ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich italienische Opernaufführungen genau so vorstellt, wie diese es war. Es holte sich das Ensemble (das war eines!!!) oftmals vor den Vorhang, und ein wagemutiges Mädchen durchbrach sogar das Verbot des Blumenwerfens. Die roten Rosen für Karajan, die vor Bastianini landeten, überreichte dieser mit obligat düsterem Blick dem Chef, der den herrlichen Abend mit der ganzen Kraft seiner Künstlerpersönlichkeit geleitet hatte und der die Huldigungen des Auditoriums erfreut – wie selten – zur Kenntnis nahm. Ein Menschenstrom wälzte sich nachher zum Bühnentürl, wo man die Künstler bis in die Autos applaudierte und Direktor Dr. Hilbert mit Beifall überschüttet wurde, nachdem er sich schon nach Fallen des „Eisernen“ in einer Loge den sprechchorbildenden „Karajan-Hilbert“-Rufen zeigen mußte. Es war ein Fest, ein wahres Fest, das sich Wiens Opernfreunde nach schweren Tagen wirklich redlich verdient hatten.
EIN SOMMERNACHTSTRAUM am 7. November
Diese Aufführung stand im Zeichen des heimischen Ensembles und zeigte neben deren Gutpunkten auch sehr schön dessen Mängel. Gerhard Stolze meisterte die Rolle des Oberon mit gewohnter Sicherheit. Aber selbst seine Gestaltung vermag nicht über die sehr dürre Musik hinwegzutäuschen. Liselotte Maikl als Titania bot eine sehr schwache Leistung, an der wir nicht die Feile der weiteren Kritik ansetzen wollen. Wozu auch? Peter Busse als Puck konnte nicht recht überzeugen. Das verliebte Quartett sangen Margareta Sjöstedt, Gundula Janowitz, Ermanno Lorenzi und Robert Kerns, wobei Frau Janowitz einen guten Abend hatte. Sehr gut im Spiel und sicher als Handwerker: Erich Kunz, Ludwig Welter, Ferry Gruber, Ljubomir Pantscheff, Peter Klein und Hans Braun. Über den Witz: „Ich hab’ ein gutes Ohr für Souffleure“ von Herrn Kammersänger Kunz konnten wir leider nicht lächeln, da uns die Qualität dieses Bonmots auf Grund unseres dafür zu schwachen Geistes nicht zu Bewußtsein kam. (Vielleicht aber hat Herr Kunz Bosheit mit Witz verwechselt?) Dagmar Hermann und Frederick Guthrie sowie die Sängerknaben ergänzten das Ensemble, das unter der Führung von Wilhelm Brückner-Rüggeberg stand.
DON GIOVANNI am 8. November
Eine ausgezeichnet gesungene Aufführung, die aber von Hans Swarowsky mehr über die Runden gebracht als dirigiert wurde. In einem solchen Maß verschlampt ist eine Repertoireaufführung nach Krips und Karajan nun auch wieder nicht, daß man derart langweilig und farblos auf Nummer sicher gehen müßte. Wilma Lipp sang eine sehr gute Elvira. Ihre lebendige Auffassung und ihr stilvoller Mozartgesang bildeten einen angenehmen Kontrast zur eher farblosen, aber sicher singenden Anna von Gerda Scheyrer. Adriana Martino sang die Zerlina sehr nett und mit hübschem Timbre. Giovanni war Eberhard Wächter, ausgezeichnet bei Stimme, elegant, herrenhaft und fordernd, kurz Don Giovanni vom Scheitel bis zur Sohle – ja…bis zur Bankettszene. Wir können nicht entscheiden, ob er von den Kunz’schen Outragen so animiert war oder aber einfach durchdrehte, aber mit einem halb abgenagten Hühnerbein auf Leporello loszugehen, während des Komturs steinerne Riesenfaust schon an die Tür pocht, ist eine derartige Geschmacklosigkeit, eine derartige Respektlosigkeit Mozart gegenüber, daß es dem entsetzten Hörer direkt den Atem verschlug. Es kann niemand etwas dagegenhaben, daß ein Künstler vom Format Wächters neben der Operettentätigkeit auch noch andere Dinge betreibt, die ihm Spaß machen, aber man muß die Dinge eben trennen können. Niemand hat es jemals an Meister Patzaks Palestrina gemerkt, daß er immer sehr gerne Wiener-Lieder gesungen hat. Niemand hat es dem Othello und Siegmund von Max Lorenz angehört, daß er schon 1947, also noch in seinen besten Zeiten, einen charmanten Orpheus in der Unterwelt gab. Niemand hört an Siepis Philipp, daß er am Broadway Musical singt. Aber Wächter wirft „Laß uns Abschied nehmen vom Milirahmstrudel“ sichtlich mit Giovannis Höllenfahrt in einen Topf. Vorangegangen war dieser üblen Szene ein Duett mit Erich Kunz, wobei sich die Herren gegenseitig die Serviette zuwarfen. Sehr witzig und sehr passend! Der Leporello von Kunz ist überhaupt schwer auszuhalten, obwohl er ihn natürlich sauber singt. Aber dieses grämliche Gesicht mit den gallig verzerrten Mundwinkeln, die Haltung mit der auswärts gedrehten Kehrseite, den zu O-Beinen und Plattfüßen verdrehten Gang, das Watscheln und Zepperln und die Keuchhustenimitation zwingen Stammbesucher, auf die linke Seite der Galerie zu gehen, wo man ihn den ganzen Abend lang wenigstens kaum sieht. Umso mehr sieht man dann leider von der Bankettszene, wie schon erwähnt. Herr Kammersänger Kunz ist ein bezaubernder Papageno und ein liebenswürdiger Figaro (wo er auch schon oft genug übertreibt), aber der Leporello geht einfach nicht. Es gab noch einen elegant und stilvoll gesungenen Ottavio von Luigi Alva zu hören, einen mit eherner Stimme donnernden Komtur Gottlob Fricks und einen idealen Buffo-Masetto von Rolando Panerai.
LA BOHEME am 9. November, Premiere
Nun wurde sie endlich Tatsache, die Boheme, auf die die Wiener Opernfreunde nach den sensationellen Nachrichten aus Mailand schon mit Recht sehr gespannt waren. Über die tristen Begleitumstände werden die Leser unseres Blattes, die ohnehin von Haus aus zu den Informierten gehören, an anderer Stelle unterrichtet, sodaß ich nicht näher darauf eingehen muß. Ich habe die Aufführung schon an der Scala gesehen, und so wird die Wiener Aufführung dazu in Vergleich gestellt werden müssen. Ich kann nur sagen, daß sie mir in Wien – vielleicht in Anbetracht der Umstände – noch mehr unter die Haut gegangen ist. Allerdings hatte ich den Vorteil, schon seelisch darauf vorbereitet zu sein. Und so waren nicht erst zwei Akte des Luftschnappens und Begreifens nötig, die die sensationellen Entdeckung brachten: La Boheme ist ein Gesamtkunstwerk! Mit welchen Mitteln haben Franco Zeffirelli und Herbert von Karajan dies erreichen können? Mit keinen anderen als denen künstlerischer Wahrheit und echter menschlicher Anteilnahme. Daß dazu noch ein gewaltiges Maß an Arbeit und der glückliche Fall eines Idealensembles traten, versteht sich im Nachhinein beinahe von selbst. Franco Zeffirelli, der auch – wie fast immer – sein eigener Bühnenbildner war (Kostüme Marcel Escoffier), hat hier ein Stück Leben eingefangen, aber nicht in plattem Realismus, sondern menschlich erhöht und vertieft. Hier stehen – trotz ihrer Gesangskunst – keine Sänger mehr auf der Bühne, sondern Menschen voll Blut und Leben, voll gutmütiger Skurrilität, echten Gefühls, mit allen ihren Schwächen und ihrer plötzlichen Größe. Und das erscheint mir das Wesentliche an dieser Aufführung zu sein. Die unerhörten Einfälle Zeffirellis, seine Fähigkeit, Szenen zu bauen, seine fast choreographische Formung der Bohemien-Atmosphäre, sein: Sinn für Licht-Schatten-und Farbwirkungen, seine zauberhaft impressionistischen Stimmungen und seine Kunst im Formen der Charaktere können hier nur gestreift werden. (Sonst müßte man den gesamten Merker eine Woche nach Redaktionsschluß damit voll schreiben). Dasselbe gilt vom musikalischen Aufbau Herbert von Karajans. Welch großer Bogen von den einleitenden, fröhlichen Takten bis zum erschütternden Schluß, welche Fülle nie gehörter Details, welche Spannung in den Ensembles, welche Schönheit im Aufblühen der Phrase – und welch ein Orchesterteppich unter den strahlenden Stimmen! (Ein großes und herzhaftes Bravo auch den Wiener Philharmonikern für ihre außerordentlich Leistung. Viele werden auch unter ihnen das Gefühl gehabt haben, als spielten sie diese Stück zum ersten Male). Mirella Freni, der ein außerordentlicher Ruf bereits vorausgegangen war, schlug als Mimi wie eine Bombe ein. Hier hört man eine der erlesenen Stimmen, die von unten bis oben durchgeformt und ausgeglichen sind, die keinen Bruch und keinen hörbaren Registerwechsel kennen und noch dazu ein schönes Timbre haben. Doch das ist in diesem Falle gar nicht das Wichtigste. Am meisten imponiert, wie die junge Künstlerin diese Stimme zu formen und zu führen weiß, wie eine Persönlichkeit von Format das Musikalische treu in den Dienst der Gestalt stellt und so eine Mimi von zauberhafter Innigkeit, voll Todesangst und Lebensgier, voll des tiefsten Gefühls im Leben und im Sterben vor uns steht. Hilde Güden sprang als Musetta ein. Jeder weiß, daß sie bereits seit Jahren eine prächtige Mimi singt – umso höher ist ihre Musetta zu werten. Das ist Liebe zur Kunst. Das ist Ensembletreue. Das ist ein Bekenntnis zur Oper und deren Publikum, daß eine große Sängerin eine Ensemblerolle übernimmt, statt verschnupft zu sein, daß „irgendjemand aus Mailand“ daherkommt und die Aufgaben, die (lt. Herrn Homola persönlich) von Mitgliedern des Hauses „neun Monate des Jahres zur vollsten Zufriedenheit aller erfüllt wurden“, für sich in Anspruch nimmt. Frau Kammersängerin Hilde Güden hat mit dieser großartigen Haltung das gesamte Personal der Wiener Oper beschämt, und das Publikum weiß das gebührend zu würdigen. Außerdem war ihr Auftreten in einer jahrelang nicht gesungenen Rolle noch eine Sensation ersten Ranges, wie sie jeder Sänger gelegentlich braucht. Künstler müssen eben immer originell sein – und tun sie es so und bei solchen Gelegenheiten, ist der Effekt nur umso größer. Übrigens hat seit den Tagen der Welitsch nie wieder jemand eine auch nur annähernd so gute Musette gesungen, mit Glanz und Charme in der Stimme, mit humorvoller Spritzigkeit im Auftreten und dem innigen Gefühl für den letzten Akt. (Ein bißchen Nervosität beim Walzer sei nur der Genauigkeit wegen erwähnt). Eine besondere Ovation hätte man im Falle Musetta auch noch Zeffirelli bringen müssen, der die Auffassung der Rolle sofort Frau Güdens Persönlichkeit anpaßte, was auch renommierte Regisseure sonst nicht tun. (Wir verweisen auf Sellner beim Salzburger Figaro, der den Rollenwechsel Jurinac-Güden überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, sondern Frau Güden in die introvertierte Gefühlswelt der Jurinac hineinzwang, bis sie sich in den letzten Aufführungen des Werkes mit ihrer eigenen, damenhaft-charmanten Auffassung doch durchsetzte). Das Quartett der Bohemiens war von einer vollendeten Ensemblewirkung, die fast unglaublich wirkte. Man kann natürlich sagen, daß es Marcellos mit fülligerer Höhe, Rodolfos mit charakteristischerem Timbre, Collines mit persönlicheren Stimmen gibt, aber das war in diesem Falle gänzlich uninteressant. Da war Gianni Raimondi mit seiner freundlichen Naturburschenhaftigkeit, mit seiner gesunden, explosiven Stimme, mit seinen von echtem Gefühl erfüllten Phrasen genau der Fels, an den sich die fragile, kranke Mimi anklammert. Da stellte Rolando Panerai genau den Mann dar, der sein Herz hinter rauher Schale und persönlicher Komik verbirgt und der absolut der Richtige für die kapriziöse Musetta ist. Da war Giuseppe Taddei mit strahlendem Pyknikercharme die sanguinische Ergänzung zum skurrilen und doch so treuen und gutmütigen Colline Ivo Vincos. Die Präzision im Singen, die Abschattierung der Stimmen, der Ausdruck und die Phrasierung strafte alle jene Lügen, die die Italiener als unmusikalische Tröpfe bezeichnen, nur weil sie andere Einsätze gewohnt sind, als sie bei uns gegeben werden. Die Italiener haben schließlich die Oper erfunden und zweifellos haben sie die größte Tradition und Erfahrung. Man sollte hier etwas weniger leichtfertig sein. Das hauseigene Ensemble ergänzte mit Peter Klein, Kurt Equiluz und Siegfried Rudolf Frese. Am Ende der Aufführung raste das Publikum, und hätte nicht der Beleuchter höflich mit dem Licht gewackelt, würde das Publikum sicher noch länger getobt haben. Hier ist von Seiten des Publikums eine eindeutige Entscheidung gefallen, zugunsten der vielgeschmähten Luxusoper, die noch das einzige wirklich international Aufsehen erregende in Österreich geblieben ist! Zugunsten der italienischen Oper, die befreit ist von der schmachvollen Last der Schmalzigkeit und Kitschigkeit, die ihr Unberufene aufgeladen haben! Zugunsten der Linie und der Achse mit Mailand, der wir so viele herrliche Abende verdanken! Vor allem zugunsten Herbert von Karajans, der – kein Freund großer Phrasen – in den letzten Pressekonferenzen doch ganz schüchtern und ziemlich verklausuliert, seine Liebe zur Wiener Oper bekannte. Niemand kann behaupten, daß nicht das Publikum in unüberhörbarer Weise sein Votum abgegeben hat!
DER TROUBADOUR am 10. November
Die Aufführung stand wieder unter der schwungvollen und stilsicheren Leitung von Alberto Erede, den man besser würdigen könnte, müßte er nicht gerade gegen Karajan antreten. Auf der Bühne gab es das gewohnte – wie das klingt, im Februar werden wir es schon nicht mehr gewohnt sein! – Troubadour-Ensemble, mit dem herrlichen Franco Corelli an der Spitze, der tatsächlich von Aufführung zu Aufführung noch besser wird, mit einem gegenüber dem ersten Abend verbesserten, sehr schön singenden Ettore Bastianini, Ilva Ligabue als ausgezeichneter und gefühlvoller Leonore. Nur Margarita Lilowa war ein wenig schwächer als am Abend vorher. Aber das kann man einer jungen Sängerin nicht übel nehmen. Außerdem war sie mit ihrer schönen, weichen Stimme und ihrer Musikalität noch immer sehr erfolgreich. Auch Ivo Vinco sang sehr gut den Ferrando.
DIE FLEDERMAUS am 11. November
Diesmal gab es eine Reihe von Umbesetzungen und die waren nicht eben erfreulich. Elfie Meyerhofers Wunschtraum, an der Wiener Oper zu singen, mag in Erfüllung gegangen sein – eventuelle Wunschträume des Publikums hingegen ganz bestimmt nicht. Die Stimme der Sängerin, in der Mittellage noch erstaunlich hübsch durchgebildet, nimmt in der exponierten Höhe beängstigende Formen an. Außerdem ist Frau Mayerhofer überhaupt nicht wienerisch und wirkt für die Partie der Adele zu reif und damenhaft. Karl Terkal übernahm den Alfred, den er korrekt sang, aber ansonsten durch nichts für sich einnehmen konnte. Für den erkrankten Richard Eybner sprang schließlich Alfred Jerger als Frosch ein, wofür ihm zu danken ist. Viel mehr als ein Stichwortebringer war er natürlich nicht, dazu kaum verständlich. Ansonsten gab es die bewährte Besetzung des Ehepaares Eisenstein. Hilde Güden und Eberhard Wächter, des Orlofsky mit Gerhard Stolze und des Gefängnisdirektors mit Erich Kunz. Weniger bewährte sich Hans Braun. Man hat schon mehr gelacht. Hans Swarowsky dirigierte an Stelle von Klobucar und vermochte nicht, dieser Aufführung Schwung und Animo vom Orchester her zu geben.
OEDIPUS DER TYRANN am 12. November
Mit Ferdinand Leitner trat ein echter Orff-Fanatiker an die Spitze des Orchesters. Man spürte die Verbundenheit des Dirigenten mit dem Komponisten sofort. Auf der Bühne gab es die großartige und schon unzählige Male erwähnte Leistung von Gerhard Stolze. Immer aufs Neue ist man von der Gestaltungskraft dieses Künstlers beeindruckt. Aber auch Christl Goltz gab ihr Bestes. Erfreulich war der gute Besuch und erfreulich die Schar der Unentwegten, die bei jeder Aufführung anwesend sind, um das schwierige Werk ganz und genau kennenzulernen.
LA BOHEME am 13. November
Die zweite Aufführung der hinreißenden Premiere war der Abend von Mirella Freni, die noch mehr in die Gestalt eingedrungen schien als in der Premierenaufführung, noch mehr Seele, noch mehr Ausdruck und noch mehr Kultur verströmte. Auch Hilde Güden war noch sicherer und glanzvoller als am ersten Abend. Das stimmlich und typenmäßig ideal besetzte Herrenquartett: Gianni Raimondi, Rolando Panerai, Giuseppe Taddei (er hat der Scala-Aufführung gefehlt, das merkt man erste jetzt) und Ivo Vinco war nicht ganz so sicher, aber blendend bei Stimme. Der Staatsopernchor schwamm im zweiten Akt. Er hätte einen Maestro suggeritore am allernötigsten! Das Publikum begeisterte sich an den herrlichen Stimmen und der zauberhaften Inszenierung Franco Zeffirellis. Herbert von Karajans Stabführung, die immer neue, bisher ungehobene Schätze aus der Boheme-Partitur herausholte, trug das ihre dazu bei, das Auditorium wieder in Raserei zu versetzen. Waren in der Premiere an die fünfzig Vorhänge zu verzeichnen, gab es diesmal die stattliche Anzahl von 37. Soviel gibt’s sonst in einer flauen Woche an allen Abenden zusammen nicht!
AIDA am 14. November
Giuseppe Patané dirigierte eine spannungsgeladene Vorstellung. Zuweilen bevorzugte er das Blech zu viel, dennoch war seine Ausdeutung fesselnd. Unserer Meinung nach wird man von Herrn Patané noch viel Positives hören. Als Aida präsentierte sich (statt der angekündigten Leonie Rysanek) Felicia Weathers, die durch ihr natürliches Spiel sofort einen Großteil des Publikums auf ihrer Seite hatte. Sie sang die erste Arie sehr schön und voll Empfindung. Überraschend kam sie in der Triumphszene mit ihrer an und für sich nicht großen Stimme gut durch. Pech hatte sie bei der Intonation von „Patria mia“, wo sich gerechterweise kein Beifall einstellte. Biserka Cvejic als Amneris bewältigte mit Können und Nervosität die schwere Partie, wobei allerdings das Können letzten Endes die Oberhand behielt. Luigi Ottolini sang einen äußerst interessanten Radames. Vielleicht war er zu Beginn etwas schleppend im Vortrag, dafür gab er sich in der Triumphszene und im Nilakt ganz aus. Als Amonasro hatte Giuseppe Taddei einen prachtvollen Abend. Ihm gelang einfach Alles. Sogar die gefürchteten Stellen in der Nilszene waren da. Es herrschte viel Stimmung im Haus, und somit wurde bestätigt, daß restloser Einsatz sich immer lohnt!
DER TROUBADOUR am 15. November
Das war der letzte Troubadour der Serie, der wohl alle, die es angeht, von der Wichtigkeit der Ensemblestagione überzeugt haben muß! Traurig nahm das Publikum Abschied, denn es hätte sicher eine Dauerstagione mit Troubadour und Boheme bis Ende Juni befürwortet. Mindestens zweimal in der Woche in diese beiden Stücke zu gehen, ist dem Wiener Opernpublikum, sofern er das Glück hatte, überhaupt hineinzukommen, bereits zur lieben Gewohnheit geworden. Franco Corelli verabschiedete sich mit dem spektakulärsten Troubadour, den wir je von ihm hörten. Herbert von Karajan genehmigte ihm Fermaten, die er sonst eher zu kürzen pflegt. Der triumphale Glanz und das Feuer der Stimme zündeten, die Phrasen waren von unerhörter Intensität („Parlar non vuoi?... Balen tremendo!... Dal mio rivale!... intendo... intendo!“ oder. „Un momento può involarmi il mio ben, la mia speranza“) und die Stretta knallte noch mehr als sonst. Er machte uns den Abschied wirklich schwer. Auch Ettore Bastianini war als Luna ausgezeichnet. Warum er ausgerechnet eine ganz harmlose und unauffällige Stelle im 2. Akt („rapirti a me“) immer zu tief singt, kann wohl niemand ergründen. Man wartet direkt schon darauf. Viele Stellen bringt er herrlich. Da ist das klangvolle Hinaufschmieren, das zu dieser Partie unbedingt gehört, ein wahres Vergnügen. Beim Luna nützt eben keine Persönlichkeit, keine Wortdeutlichkeit, hier darf man keine schönen Töne formen, hier kommt’s auf die Phrase an. Die Damen waren an diesem Abend etwas schwächer. Sowohl Ilva Ligabue, als auch die im 3. Akt ziemlich nervöse Margarita Lilowa kämpften mit der Höhe, kompensierten dies aber durch vollen Einsatz. Der Chor war derart unsicher, daß sogar Meister Herbert von Karajan im dritten Bild etwas ungeduldig wurde und das Terzett unter dem Fahnenmast in unfreundlich schnellem Tempo herunterknallte. Das ist es eben. Unsere einheimische Belegschaft scheint es nicht gewöhnt zu sein, daß man sich nicht nur bei der Premiere und bei sonstigen besonderen Anlässen am Riemen reißen muß. Im Stagionesystem muß der sechste Abend ebenso gut sein wie der erste. Nun sind Sänger keine Maschinen und menschliche Schwächen hat jeder. Nur sollte sich das doch in der Masse (bei Chor und Orchester) weniger auswirken, als bei Solisten. Aber es ist sonderbarerweise eher umgekehrt: Ja, ja, es gibt viel zu lernen und viel zu arbeiten an der Wiener Staatsoper! Bequemes Dahindösen ist im Stagione-System ausgeschlossen! Das Publikum ließ es sich nicht nehmen, das herrliche Troubadour-Ensemble mit besonderer Intensität zu feiern und wollte wahrscheinlich damit ausdrücken wie sehr es sich auf ein Wiedersehen freut.
DIE VERKAUFTE BRAUT am 16. November
Geschlossene Vorstellung, kein Kartenverkauf. Lotte Rysanek, Heinz Hoppe a. G., Ludwig Welter, Peter Klein, Alfred Poell, Hilde Konetzni, Erich Kunz.
LA BOHEME am 17. November
Auch für die Boheme, die so viel Aufregung hervorgerufen hat, schlug die Abschiedsstunde. Herbert von Karajan dirigierte so, daß man hier wohl für Jahre keinen anderen Dirigenten vertragen wird, einig mit dem Werk voll Gefühl, Charme, Humor und Teilnahme. Diese Aufführung war der Abend von Gianni Raimondi, der herrlich sang. Eine solche Rodolfo-Arie hat man selbst von ihm noch nie gehört. Mirella Freni, über Nacht zum Wiener Publikumsliebling avanciert, sang wieder ihre herrliche Mimi, für deren Wirkung das Vokabular des Referenten kaum ausreicht. Dorothy Coulter, die ursprünglich die Premiere hätte singen sollen, trat als Musetta auf und konnte gefallen. Die Stimme ist hübsch, gelegentlich flackert sie, aber das kann auch Nervosität gewesen sein. Der Mundfunk, demzufolge sie hinausgestellt wurde, weil sie die Partie nicht konnte, dürfte also wahr gesprochen haben. Mittlerweile hat sie die Musetta aber offenbar gründlich studiert, denn die war durchaus im Bilde. Wenn man nicht vorher die Güden gesehen hätte, würde man von ihr in Anbetracht des Musetta-Mangels, sogar mehr angetan gewesen sein. Sehr persönlich wirkte sie allerdings nicht. Zum Regiekonzept trug sie aus eigenem nichts bei. Aber Zeffirelli ist ja Manns genug! Rolando Panerai war ein prächtiger Marcello. Die Herren Giuseppe Taddei und Ivo Vinco ergänzten bestens. Chor und Orchester waren wieder ausgezeichnet und das Publikum nahm ostentativ jubelnd Abschied von der italienischen Herbstsaison. Tutti bravi!
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER am 18. November
Nach den Boheme-Festen kam wieder Richard Wagner zu Wort bzw. Ton. Der fliegende Holländer stand auf dem Programm, und es war kurios, obwohl man schon längere Zeit gewußt haben mußte, daß beide Hausbesetzungen zu diesem Termin wegen Eröffnung der Bayerischen Staatsoper von Wien abwesend sein werden, konnte man im Besetzungsbüro noch wenige Tage vor der Aufführung nicht sagen, wer die Titelpartie singen würde. Wahrscheinlich gab es da Anfragen von Stuttgart bis Freiburg, aber glücklicherweise fand man endlich doch noch einen Holländer für diesen Termin. Das war Frans Andersson, der uns vom Mathis in Graz, Scarpia in Wien und Alberich in Bayreuth bekannt ist. Er erwies sich als große Enttäuschung, denn stimmlich war er ausgesprochen schlecht, hatte hörbar Schwierigkeiten mit der Intonation (beim Beginn des Liebesduettes gab es bange Minuten!) und wirkte auch als Figur sehr blaß und schien von einer grenzenlosen Nervosität befangen. Da bekanntlich eine Holländer-Aufführung mit der Titelfigur steht und fällt, konnten selbst Frau Rysanek und Herr Windgassen wenig retten. Leonie Rysanek war eine stimmlich großartige Senta. Kein verträumtes Kind, sondern eine sensible, fast neurotische Persönlichkeit, die auch darstellerisch mitreißend wirkte. Der Erik war mit Wolfgang Windgassen auf das glücklichste besetzt. Oskar Czerwenka bemühte sich in der ihm nicht liegenden Partie des Daland und Karl Terkal singt einen guten Steuermann (Nur Südwind etc.…). Elisabeth Höngen vervollständigte als Mary die Besetzung. Am Pult stand Bernhard Conz. Er war nicht imstande, die Aufführung über ein mittelmäßiges Repertoireniveau zu heben. Er hatte den Kopf in der Partitur und fiel durch seine sonderbare Zeichengebung auf. So mußte man abermals einsehen, daß uns im deutschen Fach vieles fehlt. Es gibt erstens zu wenig wirklich hervorragende Sänger, die man schnell für einen Abend auf die Bühne holen kann, weiters brauchen auch diese Opern die Hand eines Dirigenten von Format. Das Publikum in der vortägigen Boheme mit 21 Schlußvorhängen dankte (dabei mußte der „Eiserne“ wegen der dringenden Abreise der Italiener mit Gewalt vorzeitig herabgelassen werden!), konnte sich diesmal nur mühsam zu zwei Vorhängen nach dem ersten Akt und zehn nach Ende der Aufführung aufraffen, von denen allein der Rysanek sieben zu danken sind!
BALLETTABEND am 19. November
CARMEN am 20. November
Für den durch die glanzvollen Aufführungen der vergangenen Wochen verwöhnten Opernfreund war diese Vorstellung eine arge Enttäuschung. Welch herrliche Don Josés hatte Giuseppe Zampieri vor noch nicht so langer Zeit gesungen. An diesem Abend gelang ihm einfach nichts. Die Stimme klang stumpf, wofür man eine starke Indisposition als Entschuldigung gelten lassen kann. Nicht entschuldbar sind jedoch die musikalischen Freiheiten, die sich Zampieri gestattete. In nicht bester Verfassung präsentierte sich Ettore Bastianini als Escamillo. Die Tiefen des Torero-Liedes blieben fast unhörbar, die Höhen wurden geradezu brutal angestemmt, und auch sonst vermißte man das herrliche Bastianini-Timbre. Biserka Cvejic war eine etwas bürgerliche Carmen, bot eine solide Gesangsleistung, wußte aber kaum zu faszinieren. Solide sang auch Dorothy Coulter als Micaela. Sie blieb im Spiel ebenfalls unauffällig. In den Nebenrollen vermochte einzig Kurz Equiluz als Dancaïro zu gefallen. Lotte Rysanek sang mit großer, aber unkultivierter Stimme die Fasquita. Mercedes war Hilde Rössel-Majdan. Wie wäre es hier mit einer Umbesetzung? Erich Kunz hatte mit dem Remendado große Mühe, und auch die Leistung der Herren Frederick Guthrie und Robert Kerns waren von bescheidenem Niveau. Heinrich Hollreiser am Pult begann effektvoll, mußte aber im Verlauf des Abends immer mehr seine Aufmerksamkeit darauf richten, das Orchester den eigenwilligen Tempi von Herrn Zampieri anzupassen, was ihm offenbar die Lust am Musizieren verdarb!
DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 21. November
Diese Aufführung war so vorzüglich gesungen, daß sie etwa unter Karajans, Krips oder Böhms Leitung eine Spitzenvorstellung abgegeben hätte. Heinz Wallberg dirigierte leider etwas zu behäbig und zu bürgerlich, aber immerhin sicher und gelegentlich auch mit Empfindung. Seinen einstigen Schwung hat er allerdings zur Gänze verloren. Hilde Güden sang zum ersten Mal in Wien die Gräfin. Nach Überwindung einer gewissen Nervosität im zweiten Akt, die wohl darauf zurückzuführen ist, daß sie die Partie seit Salzburg schon wieder drei Monate nicht gesungen hat und auch neue Partner hatte, sang sie ein prachtvolles „Dove sono“ und ein herrliches Briefduett. Darstellerisch hat sie sich mit dem ihr eigenen Charme und ihrer Noblesse schon ganz in die Figur hineingefunden. Mit der Noblesse wirkte sie ansteckend, Gott sei Dank auch auf Eberhard Wächter, der nicht nur ausgezeichnet und sehr beteiligt sang, sondern zum ersten Mal seit längerer Zeit auch ohne spezielle Gags wie Blut vom Hirschfänger wischen und Ähnliches auskam. Es scheint doch nicht alles verloren zu sein, und Wächter kann noch zurückschalten! Es freut uns sehr, dies zu Papier bringen zu können. Eine Persönlichkeit vom Format Wächters hat Übertreibungen eigentlich auch gar nicht nötig. So geht’s ja viel besser. Graziella Sciutti und Giuseppe Taddei waren Susanna und Figaro. Das ist eine Garantie für echten, erlebten, stilvollen Mozartgesang und volles Ausfüllen der Figuren. Frau Sciutti sang eine wunderschöne Rosenarie und Herr Taddei servierte alle seine Arien auf das beste. Die Ensembles sind ihm besonders im 2. Akt manchmal etwas zu tief. Olivera Miljakovic, die vor einem Jahr frisch und unbelastet als Cherubino auf die Bühne sprang, konnte damals besser gefallen. Jetzt macht sie nämlich sowohl darstellerisch als auch stimmlich einiges, das störend wirkt. Sie würde unbedingt prominente Hilfe brauchen. Aber die jungen Sänger, die an der Wiener Oper landen, werden von Regieassistenten und Korrepetitoren „betreut“. Ein Wunder, daß gelegentlich doch noch etwas aus ihnen wird! Hoffentlich hat die junge Sängerin das Glück, irgendwo eine Neuinszenierung singen zu können, wo sie mit Coaches von Format proben kann. Aix oder Glyndebourne wären bestimmt nicht schlecht für sie. Allerdings müßte sich auch Karajan hier einschalten. So viele begabte junge Sänger gibt es an der Oper wieder nicht, daß er nicht mit jedem von ihnen pro Jahr ein paar Tage arbeiten könnte. Oskar Czerwenka, Peter Klein und Ljubomir Pantscheff sekundierten gewissenhaft. Hilde Rössel-Majdan ist stimmlich als Marzelline schwer überfordert. Sie sollte diese Partie nicht mehr singen.
DIE WALKÜRE am 22. November
Wagner-Aufführungen sind Mangelware an der Oper, aber nicht nur an der Wiener Oper. Überall herrscht Not an Wagnerinterpreten. Als große und wahre Wagnersängerin durfte man nach diesem Abend nur Leonie Rysanek bezeichnen. Sie ist und bleibt die Sieglinde unserer Tage. Die an und für sich dunkle Stimme verströmte eine Fraulichkeit, die dem Charakter der Sieglinde Leben und Konturen verlieh. Nicht dieselbe Klasse hatte Anita Välkki als Brünnhilde. Die Anlagen für eine Wagnerheroine sind vorhanden, doch derzeit mangelt es an der Ausführung. Noch wird gesungen, aber nicht miterlebt. Drei Gäste wurden in den übrigen Hauptrollen ausprobiert. Thomas O’Leary als Hunding hinterließ dabei relativ gesehen, den positivsten Eindruck. Die Stimme ist kräftig und voluminös, was sie für den Hunding prädestiniert. Hubert Hofman vermochte als Wotan etwas besser zu gefallen, als bei seinem Debüt im vergangenen Monat. Auch bei ihm sind zweifellos Ansätze vorhanden, die Lücke, die das Heldenbaritonfach aufweist, zu verkleinern. Allerdings müßte er an seiner Höhe gewaltig arbeiten. Ernst Kozub als Siegmund brachte nur das Material für einen Heldentenor mit. Neben wirklich kraftvollen Heldentönen gab es Phrasen, die einem Anfänger (und das ist doch Herr Kozub nicht?) kaum zur Ehre gereicht hätten. Heinz Wallberg am Pult dirigierte mit Routine. (Wie wir dieses Wort allein schon hassen!). Wo sind die Zeiten, wo Herr Wallberg sich hineinkniete und um jeden Ton mit dem Orchester kämpfte?
RIGOLETTO am 23. November
Im Mittelpunkt des Abends stand Giuseppe Taddei als Rigoletto, der alle komödiantischen Eigenschaften in die Waagschale warf, um dem Abend ein gewisses Niveau zu geben. In stimmlicher Hinsicht gab er sich voll aus. Manchmal fehlte es ihm an den nötigen Reserven. Doch diese Mängel nimmt der Zuhörer in Kauf, wenn auf der Bühne ein Künstler steht, der mit Gefühl und Verstand bei der Sache ist. Man erlebt das tragische Geschick des Hofnarren einfach mit. Ein Verdienst des Künstlers Giuseppe Taddei! Als Gilda stellte sich Dorothy Coulter vor. Sie spielte die Rolle auf kindlich-süße Art, wobei sie sehr hübsch aussah. Mit Ausnahme der etwas oberflächlich gesungenen Koloraturen bot sie eine zufrieden stellende Leistung. Das Timbre der Stimme blieb einem jedoch nicht im Ohr. Giuseppe Zampieri als Herzog erreichte seinen bekannten Standard. Wie schon so oft hätte man sich mehr stimmlichen Einsatz gewünscht. Aber wer den Sänger kennt, weiß, daß er lieber die Partie gepflegt und kultiviert zu singen pflegt, als zu forcierten Tönen Zuflucht zu nehmen. Tugomir Franc übernahm den Sparafucile. Unserer Meinung nach müßte er noch in die Rolle hineinwachsen. Der Gesamteindruck war schon jetzt nicht ungünstig. Ettore Gracis fand noch wenig Kontakt mit dem Orchester und sein Zusammenwirken mit der Bühne blieb uneinheitlich. Doch wer vermag schon bei seinem ersten Auftreten alles für sich zu gewinnen?
MADAMA BUTTERFLY am 24. November
Statt der Fledermaus setzte man aus Pietätsgründen (wegen des am 22. November ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy) Madama Butterfly an. Hörenswert wurde der Abend allein durch Nello Santi am Pult. Mehr und mehr entwickelt sich dieser Dirigent zu einem souveränen Beherrscher des Orchesters. Er drückt bereits jetzt den Repertoirevorstellungen seinen Stempel auf. Die Interpretation ließ an Dramatik keinen Wunsch offen, aber auch für die Lyrik hatte er ein offenes Ohr. Das war gut so, denn Lotte Rysanek besitzt nicht die Durchschlagskraft eines dramatischen Soprans. Ihre Leistung erinnerte an die Arbeit einer Maturantin, die nicht die Fähigkeit besitzt, mit Vorzug die Prüfung zu bestehen. Zu oft hörte man die Grenzen ihres Stimmaterials. Giuseppe Zampieri als Pinkerton erreichte seinen Höhepunkt im „Addio, fiorito asil“. Mit anderen Worten: Er sang nur diese Szene mit voller Stimme. Eberhard Wächter (diesmal mit fast ganz weißen Haaren) war ein vornehmer Sharpless, der im zweiten Akt so echt verlegen wirkte, daß man in dieser Szene mit ihm litt. In einer Nebenrolle war Tugomir Franc (Onkel Bonze) zu hören. Er zog sich mit Anstand aus der Affäre. Langsam müßte man auch die Rolle des Goro mit einem frischer klingenden Tenor als dem von Peter Klein besetzen. Dennoch war der Abend durch Nello Santi durchaus erfreulich und lohnend.
CAVALLERIA RUSTICANA und DER BAJAZZO am 25. November
Eine eher langweilige Repertoirevorstellung war
CAVALLERIA RUSTICANA, um das selbst der feurige Nello Santi vergebens kämpfte. Er zwang aber immerhin die Sänger zum letzten Einsatz ihrer Kräfte. Hilde Zadek gelang eine brave Santuzza. Karl Terkal bemühte sich, einen Verführer auf die Bühne zu stellen. Gut waren Kostas Paskalis als Alfio und Gundula Janowitz als Lola.
DER BAJAZZO begann mit einem gut gesungenen Prolog von Giuseppe Taddeis, der mehr Stimmung ins Haus brachte. Taddei war gesanglich gut und spielte hinreißend. Gastone Limarilli bot als Canio eine passable Leistung. Farblos blieb der Silvio von Robert Kerns, und wenig Anklang fand die Nedda von Mimi Coertse.
DER ROSENKAVALIER am 26. November
Oktavian? Mildred Miller stand auf dem Programmzettel zu lesen, und man war sehr erstaunt, wieder einmal einen neuen Rofrano zu hören. Nach Ende der Vorstellung war man abermals zu der Frage gekommen, warum es ausgerechnet diese Partie sein mußte? Wir haben in Wien eine große Rosenkavalier-Tradition und wir sind Idealbesetzungen wie Rohs, Jurinac und Ludwig gewöhnt, sodaß es selbst arrivierte Sängerinnen in dieser Partie schwer hätten. Mildred Miller ist eine gutaussehende junge Dame, die ein einwandfreies Hochdeutsch, aber dazu einen geradezu fürchterlichen Wiener Dialekt spricht („Nein, nein, i trink kan Wein“ u. a.). Über die Stimme ist zu sagen, daß sie sich kaum von anderen Dutzendstimmen unterscheidet, daß die exponierten Töne Schwierigkeiten bereiten und das Volumen (zu) klein ist, sodaß man im Schlußterzett fast nichts zu hören bekam. Im Spiel wirkte vieles gekünstelt, und die Rosenüberreichung war derart steif und barock ausgezirkelt, daß man meinte, man wäre in einer Oper des seligen Händel. Ein endgültiges Urteil über die gastierende Sängerin wird erst nach dem Cherubino und Komponisten zu fällen sein. Leonie Rysanek sang abermals die Marschallin, und zwar ausgezeichnet. Ihre Monologe waren tiefempfunden, die „silberne Rose“ eine zauberhafte Phrase und die einzige Einschränkung in der Lobeshymne ist die unnatürliche Tiefe, die bei der Marschallin weit stärker zu hören ist als beispielsweise bei der Ariadne. Wilma Lipp war die reizende, schnippische Sophie, gesanglich ausgezeichnet. Ludwig Welter übernahm statt Herrn Czerwenka den Ochs und stellte eine liebenswerte Figur auf die Bretter. Er verfügt über gesunden Humor und eine Portion Hausverstand, sodaß von der Zeichnung des Lerchenauers her alles durchdacht und echt wirkt. Gesanglich ist er passabel, nicht mehr. Er kann die exponierten Lagen der Partie schwer meistern und somit ergeht es ihm in dieser Partie genauso wie beim Osmin, der ebenfalls schauspielerisch gut, gesanglich dagegen nur teilweise zufrieden stellend ist. Otto Wiener war wieder der prächtige Faninal, dem man das Eckhaus in Lerchenfeld glaubt und der mit seinem in Hochdeutsch zitierten „Leicht weil er keine Haar nicht hat“ einen ausgezeichneten Gag lieferte. Karl Terkal war als Sänger eingesetzt und sang wie immer. Ausgesprochen überfordert wirkte Hilde Rössel-Majdan als Annina. Am Pult stand Heinz Wallberg, der nach einer längeren Anlaufzeit einen guten Strauss brachte und seine Höhepunkte ab Terzett des dritten Aktes hatte.
CARMEN am 27. November
In den beiden ersten Akten verlief die Vorstellung ziemlich uninteressant. Heinrich Hollreiser am Pult gab sich zwar alle erdenkliche Mühe, doch es wollte nichts klappen. Giuseppe Zampieri war in den ersten beiden Akten nur darauf bedacht, mit seiner Stimme schonend umzugehen. Die Falsett-Töne im Duett mit Micaela waren Beweis dafür. Kostas Paskalis hatte mit dem Torerolied seine Mühe, weil es ihm zu tief liegt. Dorothy Coulter als Micaela sah zuckersüß aus, aber die helle Stimme hatte wenig Gehalt und das Vibrato der oberen Lage wirkte mehr als störend. Robert Kerns (Morales) und Frederick Guthrie (Zuniga) huschten beinahe als Karikaturen über die Bühne. Und von Peter Kleins Gesang in der Schenke mit dem statt Kunz einspringenden Harald Pröglhöf als Kumpanen wollen wir ganz schweigen. Nur Biserka Cvejic war in den ersten beiden Akten als Carmen in stimmlicher Hinsicht voll und ganz auf der Höhe. Bei ihr saß jeder Ton. Nach der Pause kam endlich Leben in die Aufführung. Plötzlich erwachte Zampieri aus seiner Lethargie. Kostas Paskalis war im weiteren Verlauf als Escamillo, da die Partie dann höher liegt, besser und Frau Cvejic strahlte plötzlich Persönlichkeit aus. Nur Frau Coulter blieb es vorbehalten, blaß und farblos zu bleiben. Im Schlußduett der Oper fanden dann Carmen und Don José zu jener Leidenschaft, die für eine gute Aufführung Voraussetzung ist.
DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 28. November
Vor Jahren fanden wir Heinz Wallbergs Enthusiasmus, sein energisches Zugreifen außergewöhnlich. Heute besitzt er diese Eigenschaften nicht mehr. Wenn die Ensembleszenen auseinander fallen, macht er keine Anstrengungen mehr, die Pannen zu reparieren. Mozart ohne Liebe? Das kann nicht gut gehen. Dabei gab es auf der Bühne Künstler, die wissen, wie man Mozart singt und spielt. In erster Linie wollen wir Hilde Güden als Gräfin nennen. Ihr dezentes Spiel, ihre herrliche Bühnenerscheinung und ihr makelloser Gesang waren ein Erlebnis. Bei ihr hat man das Gefühl, daß es das einfachste und natürlichste wäre, eine Opernsängerin zu sein. Die souveräne Art ihres Singens läßt beim Hörer niemals den Gedanken aufkommen, daß viel Arbeit für eine solch vollendete Leistung vonnöten ist. Graziella Sciutti war die kokette Susanne, deren Spielfreude das Geschehen auf der Bühne günstig beeinflußte. In stimmlicher Hinsicht war sie nicht ganz so glockenrein, wie wir sie in Erinnerung haben. Mildred Miller als Cherubino bot eine technisch fundierte Leistung. Als Darstellerin wirkte sie eckig und blieb ohne den Zauber, den die Frauen an Cherubino so lieben. Die Stimme klang belegt und herb im Timbre, so daß der Liebreiz beider Arien verloren ging. Als Barbarina fiel Lucia Popp mit großer klangvoller Stimme auf. Eberhard Wächter verzichtete auf das Überspielen. Sein Graf war aristokratisch dargestellt. Die Stimme setzte er vorbildlich ein und mit Ausnahme der letzten Phrase in seiner Arie war alles tadellos gesungen. Giuseppe Taddei hatte als Figaro einen stimmlich schwachen Abend. Natürlich wußte er das selbst, und wie dies so manche Kollegen tun, wollte er das Manko durch übertriebenes Spiel kaschieren. Ludwig Welter schenkte seinen Humor dem Bartolo. Ebenso komödiantisch aufgezogen war die Marcellina von Georgine Milinkovic. Peter Klein und Ljubomir Pantscheff verkörperten Hausensembleniveau. Viel Jubel für Frau Güden, in der wir wieder eine erstklassige Gräfin besitzen.
DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL am 29. November
Die Frage bleibt natürlich offen, ob das große Haus der richtige Schauplatz für Mozarts Singspiel ist, speziell in einer derart alten und schäbigen Inszenierung. Miltiades Caridis am Pult dirigierte rasch und konzentriert, doch der göttliche Funke, den man in Mozarts Werken sucht, wurde nicht offenbar. Mimi Coertse gab sich alle Mühe, der Konstanze gerecht zu werden. Natürlich durfte man nicht an eine Erna Berger oder Wilma Lipp denken. Es fehlt Frau Coertse an der notwendigen Brillanz für die mit Koloraturen gespickten Arien. Zwar vermochte sie mit tränenumflorten Augen der Traurigkeit Ausdruck zu verleihen, aber das Auditorium, das zum Großteil aus Freikartenbesitzern bestand, spendete Höflichkeitsbeifall und nicht mehr. Renate Holm, vor Jahren noch als Hoffnung bezeichnet, hat sich kaum weiterentwickelt. Auch heute noch sind ihre Vorteile blendendes Aussehen und kokettes Spiel. Ein Blondchen, dem man gerne zusah aber das man nach der Oper in stimmlicher Hinsicht vergessen hat. Luigi Alva sang Belmonte in vorzüglichem Deutsch. Seine superbe Atemtechnik und sein richtiger Mozartstil beeindruckten sehr. Gerhard Unger war ein ausgezeichneter Pedrillo. Endlich hörte man ein kräftiges „Auf zum Kampfe, auf zum Streite“. Zweifellos war er derjenige, der einer Idealbesetzung am nächsten kam. Ludwig Welter schuf eine köstliche Charakterstudie für den Osmin. Der Künstler besitzt für die Rolle den Humor und die große Gestik. Mit all diesen guten Eigenschaften kann leider seine stimmliche Leistung nicht Schritt halten. Zwar ist seine Höhe etwas klangvoller geworden – die Mittellage weiterhin der ausgebildetste Teil seines Organs – doch die Tiefe bleibt sehr resonanzarm. Hans Christian sprach die Worte des Selim Bassa wohltönend. Im Vergleich zu seinen Vorgängern wirkte er wie ein junger Gott. Das Echo der Aufführung war schwach. Vier Schlußvorhänge.
ARIADNE AUF NAXOS am 30. November
Zunächst sei die Summe gezogen: eine Aufführung sehr guten Durchschnitts, streckenweise darüber, aber im Ganzen wegen einiger schwächerer Punkte leider nicht mehr! Zu diesen nicht überzeugenden Punkten der Besetzung ist zunächst leider der Komponist, Mildred Miller, zu zählen. Zugegebenermaßen ist die Leistung für eine junge Amerikanerin beachtlich, weiß sie doch – von einigen Kleinigkeiten abgesehen – worum es geht, spricht fast akzentfrei deutsch und beherrscht die Partie musikalisch. Doch ist die Stimme zweifellos zu hell timbriert und vor allem zu wenig durchschlagskräftig, was sich besonders am Ende des Vorspiels unerbittlich herausstellte. Dazu gesellten sich noch Schwierigkeiten in der Höhe. Somit war auch dieses Gastspiel nicht überzeugend. Die Tradition der Wiener Komponisten ist zu reich an großen Vorbildern, als daß wir diese Leistungen mehr als gutwillig dulden könnten. Der schwächste Punkt in der Besetzung der Hauptpartien war Walter Geisler, als Tenor glaubhaft, als Bacchus, von einzelnen, unberechtigten Hoffnung schöpfen lassenden Tönen abgesehen, unzureichend. Von den kleineren Partien war der Brighella mit Ferry Gruber doch zu untergewichtig besetzt. Eine passable Neuerscheinung ist der Fernsehsprecher Hans Christian als Haushofmeister. Ist es einerseits erfreulich, die Partie einmal jünger besetzt zu sehen, so wirkt die Präpotenz, mit der die Autoren diese Figur nun einmal ausgestattet haben, von einem jüngeren Menschen noch verletzender, noch öliger. Der Musiklehrer war mit Alfred Poell besetzt. Wenn er in der Höhe nicht mehr aus dem Vollen schöpfen kann wie einst, ist immerhin passabel was verblieb. Herbert Lackner gab einen erfreulich handfesten Lakaien. Peter Klein singt noch immer den Tanzmeister. Leonie Rysanek war als Primadonna genauso überzeugend, wie als Ariadne großartig. Wenn sie anfangs merkwürdigerweise im Piano der tiefen Mittellage nicht so ganz sauber intonierte, so ist sie mit ihrer Stimmkultur, ihrer Tiefe und Höhe, wenn sie sie aufblühen läßt, derzeit wohl die beste Vertreterin der Partie. Nimmt man dazu ihr Spielverständnis und die Intensität, mit der sie sich mitzuteilen weiß, so ist es kaum mehr nötig, zu betonen, daß sie ihren Partner nur an die Wand singen und zum Stichwortbringer und Harmoniefüller degradieren konnte. Erika Köth, lange Jahre hindurch die Zerbinetta, kehrte nach langer Pause an unser Haus zurück und wurde mit einem – in diesem Fall wohl berechtigten – Auftrittsapplaus aus dem Stehparterre begrüßt. Im Laufe des Vorspiels und der Oper erfüllte sie jederzeit die vom Publikum in sie gesetzten Erwartungen. Einiges setzt sie anders an als früher, aber die fulminante Technik wirkt selbstverständlich und die Darstellung gereifter gerade an jenen Stellen, wo sie einen in stetem Zweifel zu lassen vermag, ob Zerbinetta jetzt spielt, sich selber spielt oder vielleicht doch sie selber ist. Ausgeglichen wie seit langem nicht, präsentierte sich das Terzett der Insel-Damen. Lucia Popp, Erika Mechera und Hilde Rössel-Majdan). Angenehm fiel Frau Popp auf, sowohl was die Schönheit der Stimme als auch, was deren Führung betrifft, wozu noch eine deutliche Aussprache kommt. Auch das Komödiantenquartett (Kurt Equiluz, Ferry Gruber, Robert Kerns und Ludwig Welter) schien an musikalischer Sicherheit gewonnen zu haben und präsentierte sich außer Brighella in guter Verfassung. Das Orchester befand sich ebenfalls in überdurchschnittlicher, leider nicht ausgezeichneter Form, so daß Ernst Märzendorfer, trotz bester Ansätze gewissenhafter und intensiver Arbeit, nicht mehr als eine zwar klare und saubere, aber doch nicht transparente Begleitung erzielen konnte.
ENSEMBLE-STAGIONE statt Repertoire-Schlendrian
Leitartikel, 8. Jahrgang Heft 11
Bei einer Pressekonferenz, die der Künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper, Herbert von Karajan, und der Direktor des Hauses, Dr. Egon Hilbert, am 2. Dezember veranstalteten, wurde folgendes Premieren-Programm für die nächste Saison angekündigt:
Für September: LA TRAVIATA. Die Ausführenden konnten noch nicht genannt werden, nur steht fest, daß leider weder Franco Zeffirelli noch Herbert von Karajan daran beteiligt sein werden.
Anfang Dezember: LOHENGRIN mit Karajan als Dirigenten und Regisseur (Ausstattung Wendel) mit Sandor Konya in der Titelrolle.
Februar 1965: COSÌ FAN TUTTE unter Lorin Maazel (der zwei bis drei Monate pro Jahr zur Verfügung stehen soll). Es ist noch nicht sicher, ob die Salzburger Aufführung Günther Rennerts übernommen oder eine Neuinszenierung gebracht wird.
März 1965: THE RAKES PROGRESS. Ausführende Künstler wurden nicht genannt.
Mai 1965: DER FREISCHÜTZ unter der musikalischen Leitung von Dr. Karl Böhm, Regie voraussichtlich Walter Felsenstein. Für die Besetzung sind James King als Max und Walter Berry als Kaspar in Erwägung gezogen.
Dazu kommen Übernahmen zweier Strauss-Opern: der Wiener Festwochenproduktion 1964 Daphne aus dem Theater an der Wien und der Rennert-Ariadne, die die kommenden Salzburger Festspiele eröffnen wird, sowie zwei Ballettabende.
Otto Schenk wird dem Haus für mindestens eine Regie pro Spielzeit und auch als Schauspieler zur Verfügung stehen. Daneben laufen Verhandlungen mit Jean Vilar.
Neue Sängerverträge und Vertragserweiterungen wurden mit den Damen Melitta Muszely und Renate Holm und den Herren Jess Thomas, James King, James McCracken, Hans Christian, Herbert Lackner und Giorgio Goretti abgeschlossen. Verhandlungen mit Inge Borkh sind im Gange. Mit Hans Nocker, einem Ensemblemitglied der Felsenstein-Oper, wurde bereits für Anfang 1964 ein Gastspielvertrag (für Hindemiths Cardillac) abgeschlossen.
Aus der Perspektive des Snobs kann man dieses Programm farblos nennen. Da der Aufbau des gängigen Repertoires ja mit Lohengrin soweit abgeschlossen ist, würde dieser Snob eher Spezialitäten erwarten, die sich eventuell auf Richard Strauss (Schweigsame Frau), hauptsächlich aber auf die jetzt immer moderner werdenden Ausgrabungen auf dem Sektor der „Großen Oper“ erstrecken. Hier gibt es unzählige Möglichkeiten, von den Puritanern bis zu La Gioconda, von den Hugenotten bis zu Rienzi. Im Sinne eines offenbar auf Sparsamkeit geschalteten Premierenprogramms muß der Wiener Snob darauf verzichten (und wird sich zu dem Zweck, diese Stücke zu hören, auch weiterhin auf Reisen begeben müssen).
Was den Wiener Hörer, der bewußt – aus seiner Bindung an die geliebte Oper heraus – auf den Snob-Appeal verzichten und eine möglichst kontinuierliche Qualität der Repertoire-Aufführungen zu erhoffen gelernt hat, weit mehr interessierte als diese Pressekonferenz, war ein Interview, das Herbert von Karajan der deutschen Zeitschrift „Der Spiegel“ gab. Hier wiederholte Herr von Karajan mit seltener Geduld alles, was er wiederholt zu dem Kapitel „Ensemble und Stagione“ zu äußern pflegte. Schon in dem Interview, das er 1959 dem Merker gab, sprach er davon, daß die Ansprüche des Publikums in einem unglaublichen Maß gestiegen seien, daß es nicht anginge, große Sänger als einsame erratische Blöcke in normale Repertoire-Aufführungen zu stellen, sondern er verlangte das Spitzen-Ensemble und verlangte das Abgehen von dem Brauch, das stehende Repertoire allzu riesig werden zu lassen, weil es dann nicht auf einem gleich bleibend hohen Niveau zu halten sei. Er hat schon vor langer Zeit den Begriff „Arbeitsmonate“ für November-Dezember, Jänner-Februar und März-April geprägt, die sich von den „Festival-Monaten“ September-Oktober und Mai-Juni vor allem durch die Besetzungen mit Starsängern unterscheiden. Von einer Realisierung dieser Pläne war leider bei der Wiener Pressekonferenz fast gar nicht die Rede. Und doch ist es für eine so große organisatorische Umstellung für die nächste Spielzeit fast schon wieder zu spät. Die Fälle Troubadour und Boheme mit sechs, respektive leider nur drei Aufführungen (das hat Herr von Karajan dem Spiegel gegenüber gar nicht erwähnt) waren ein Musterbeispiel für die Möglichkeit, die Karajans Ensemblestagionesystem bietet und in der wohl alle jene, die gerne in die Oper gehen und einigermaßen mit den Schwierigkeiten des Betriebes vertraut sind, die Rettung der Opernhäuser und ihrer Spielpläne erblicken müssen. Es wird oft eingewendet, daß Karajans System eine Verarmung des Spielplans mit sich bringe. Das können wir nun gar nicht finden, wenn wir die „Arbeitsmonate“ genau unter die Lupe nehmen. Karajan zählte im Spiegel für zwei Monate etwa sechzig Aufführungen, die er nun mit drei italienischen Opern, die je neunmal gespielt würden, je drei Opern der Sparte Mozart-Strauss und je zwei Wagners füllen würde. (Dazu kommen noch Ballette und die gewissen Spezialitäten, in Wien sind dies etwa Wozzeck, Pelleas und Melisande, Krönung der Poppea oder Rheingold, die unser Repertoire bisher auch aufputzten). Das wären also pro Arbeitsperiode mindestens acht Stücke, in drei Arbeitsperioden von Anfang November bis Ende April also vierundzwanzig Stücke. Das erscheint auf den ersten Blick nicht viel. Man muß jedoch bedenken, daß im September-Oktober und Mai-Juni mindestens zehn Stücke dazu kommen, die nur mit Stars besetzbar sind, weil sie sonst an Wirkung einbüßen. Da hätten wir also pro Jahr mindestens fünfunddreißig Werke und diese alle geprobt und daher bei auch nur guten (also nicht herrlichen!) Besetzungen einen gewissen Standard. Heuer hat die Wiener Staatsoper bis zum Erscheinen dieser Merker-Nummer von den vierzig auf dem Spielplan stehenden Opern siebenundzwanzig gespielt, und es werden wahrscheinlich auch nicht viel mehr werden, wenn man von den Premieren absieht, die durch die Erkrankung Karajans (bei Redaktionsschluß war noch nichts Genaues bekannt) zum Teil ohnehin wackeln. Überdies kann man, wie dies zum Beispiel im Falle Cavalleria geschah, das gleiche Werk innerhalb von zwei Monaten nicht beim ersten Mal mit Simionato-Corelli und beim zweiten Mal mit Zadek-Terkal spielen. Das geht natürlich nicht. Wer sollte da wirklich in die zweite Aufführung hineingehen? Was der Wiener Oper in dieser Situation am nötigsten tut, ist, wie schon öfter dargelegt, der Verzicht auf Breitenwirkung zugunsten der Qualität. Das heißt: Ausschaltung des Redoutensaal und (leider!) des Theaters an der Wien, weil dort niemand hineingeht. Schade ums Geld. Die dort beschäftigten Sänger könnten zu ihren vertraglich festgelegten Abenden sicher auch durch einen Vertrag mit der Wiener Volksoper gelangen. Diese dürfte ihren aufgestellten Premierenfahrplan, der sehr interessant ist und nun wirklich eine Ergänzung des Staatsopernspielplans bedeutet, zweifellos nicht mit den derzeit am Gürtel engagierten Sängern bestücken können und müßte für Verstärkung vom Ring dankbar sein. Die Opern, die für das Theater an der Wien inszeniert wurden, lassen sich sicher ohne viel Mühe in den Spielplan am Ring übernehmen. Für die Zauberflöte hat doch Herr von Karajan anläßlich einer Pressekonferenz, die sich auch mit der Eröffnung des Theaters an der Wien befaßte, die Möglichkeit ausdrücklich betont, und sowohl Don Pasquale als auch Intermezzo sind (mit einem Vorbau über dem Orchester, der sie näher ins Haus herein bringt) für das große Haus durchaus geeignet. Sogar Orffs „Die Kluge“ wäre nach einer Komplettierung durch eine Wiederausgrabung der Carmina burana in der Rennert-Inszenierung von 1958 ein Rufzeichen im Alltagsspielplan, und die Geschichte vom Soldaten könnte man ja in den Rahmen der Ballettabende stellen. Dazu kommen noch die Möglichkeiten, die die allmähliche Wiederauffrischung neu inszenierter und dann vergessener Opern wie Julius Caesar, Orpheus und Eurydike, Palestrina, Mathis der Maler, Manon Lescaut, Falstaff, Eugen Onegin und Fürst Igor dem Spielplan böten. Dazu käme die Möglichkeit, die Salome auszugraben und mit der Silja als Gast (etliche Male pro Saison) zu spielen, den Hoffmann auszugraben, weil Frau Muszely bekanntlich alle vier Partien singt und zweifellos mit Gilda oder Traviata in Wien nicht ankommen dürfte. In einem Premierenfahrplan von fünf Stücken in zehn Monaten müßte sich dergleichen unterbringen lassen. Das Wichtigste aber bei Einführung einer Ensemble-Stagione sind die Voraussetzungen dafür, daß die Vorstellungen, die ja nicht billig kommen, möglichst nutzbringend verkauft werden. In den Fremdenverkehrsmonaten könnte man das Haus dreimal täglich ausverkaufen. In den Wintermonaten gehen die Wiener traditionsgemäß wenig ins Theater. Es muß möglich sein, daß von den 23 x 6 = 138 Abonnement-Vorstellungen eines Jahres mindestens 120, das sind zwanzig pro Monat, von Jänner bis April und dann im November-Dezember gespielt werden. Die verbleibenden achtzehn Vorstellungen, auf vier Monate verteilt, sind harmlos. Die Ballung von Abonnement-Vorstellungen im Winter erleichtert den freien Kartenverkauf und eventuelles Ausorganisieren bei Werken, die nicht ziehen. Sind einmal diese organisatorischen Maßnahmen getroffen, dann kann vielleicht Wien und seine Staatsoper die Ehre für sich in Anspruch nehmen, Entscheidendes für das moderne Operntheater Europas und dessen Errettung aus dem Repertoireschlendrian getan zu haben.