SALZBURGER FESTSPIELE 1964

9. Jahrgang, Heft 8/9

 

Oh Theodor, welch eine Wendung!

Leitartikel, 9. Jahrgang, Heft 8/9

Die Fronten sind begradigt, die letzten Rückzugsgefechte geliefert, und das Spiel kann beginnen. Meister Hilbert sitzt in seinem Direktionssessel am Wiener Opernring und wird ihn vermutlich noch als Mumie behaupten, Herbert von Karajan hat dessen Hackl aus seinem Kreuz gezogen und stürzt sich, voll Tatendrang, in neue Pläne und fruchtbare Arbeit. So sind sie auseinander gegangen, die beiden Ungleichen, auf deren Direktions-Ehe ein witziger Stammbesucher schon im Juni 1963 Morgenstern zitierte.

Es kann zum Abschluß der Ära Karajan festgestellt werden, daß dem Maestro Erstaunliches gelungen ist. Es sei hier nicht die Rede von seinen 237 eigenen Aufführungen, in denen er 31 Werke dirigierte, von denen er 14 selbst inszeniert hat, 11 in einer Neuinszenierung als Dirigent herausbrachte und 6 aus dem Repertoire übernahm. Seine eigenen Inszenierungen wird der Musikfreund nur mehr mit Trauerflor betreten können, denn wenn man am Plakat liest: Inszenierung: Herbert von Karajan – Dirigent: Meinhard von Zallinger, … fühlt man sich wie bei einem Staatsbegräbnis. Nun gut, das Wiener Opernpublikum, das ziemlich hart im Nehmen ist, wird auch das noch aushalten.

Der interessanteste Punkt im Programm ist aber die fast lückenlose Umstellung des Repertoires auf die Originalsprache gewesen. Das war eine geradezu geschichtliche Tat, und es wird Meister Hilbert viele Jahre und harte Mühe kosten, bis er Karajans Arbeit in diesem Punkte ruiniert hat. Denn es ist nicht wahr, daß Dr. Hilbert eine schwere Saison vor sich hat, weil er nicht planen konnte. Wahr ist vielmehr, daß er es in dieser Saison leichter haben wird, als in jeder nachfolgenden, wenn er nicht mehr von den Vertragsabschlüssen, Terminisierungen und Sängernamen seines Vorgängers leben kann. Erst wenn Dr. Hilbert auf eigene Planung angewiesen sein wird, wird es gefährlich werden! Das merkt man jetzt bereits an den Premierenvorhaben, die einem mittleren deutschen Stadttheater nicht zur Ehre gereichen würden, an den Not- und Angstkäufen, an der Bemühung der Presseagentur, wenn wieder irgendein Sänger, der ohnedies einen Dreijahresvertrag hat, gnädig etliche Abende zusagt.

Wo ist die neue Linie, wo ist der frische Wind, den die Hilbert-Partei seit Jahren prophezeit? Wir sehen nur unnötiges Geldhinauswerfen, für das er schon einmal bekannt war! Wir sehen zwei moderne Werke (The Rakes Progress und Katarina Ismailowa), in die kein Mensch gehen wird. Wir sehen eine Neuinszenierung des Palestrina, wo doch wahrhaftig eine musikalische Neueinstudierung und eine neue Personenregie der im Depot stehenden Aufführung genügt hätten, denn auch die sehr geschätzte Kostümbildnerin Ronny Reiter kann einen Kardinal nicht anders als bisher kostümieren. Wir sehen uns gigantischen Forderungen Wieland Wagners gegenüber, der natürlich bei seinem Wiener Debüt alles besonders gut machen will und daher unter anderem eine fünffache Ausführung der Kostüme verlangt hat, von denen er dann an Puppen die passenden aussuchen will, was Karajans Tannhäuser-Teppich ja wohl noch um einiges übertrifft. Wir sahen und hörten die Wiener Einkäufer in italienischen Landen, die uns jetzt glücklich die von der Hilbert-treuen Presse so beschimpfte zweite italienische Garnitur ins Haus bringen, die ja doch bisher nur zum Einspringen verwendet wurde. Und darf man bei dieser Gelegenheit gleich die präzise Frage stellen, wer nun in der Operndirektion des Prozentnehmens für Italiener-Gastspiele beschuldigt werden wird, da der Hauptkandidat für diese Anwürfe mit Karajan zusammen gegangen ist? Offene Fragen, die sich bald von selbst beantworten werden! Wir wollen aber unsere Betrachtungen nicht abschließen, ohne auf eine ausgesprochene Frechheit zu antworten, die die Hilbert-Partei immer wieder hervorholt: Die Sage vom Ensemblezerstörer Karajan. Was für ein Ensemble hat Karajan denn um Himmelswillen 1956 vorgefunden, das er hätte zerstören können? Da fand er ein teils überaltertes, teils in Stimmkrisen befindliches, teils sehr gefragtes, daher nie in Wien anwesendes Mozartensemble und sonst nichts! Nichts! Nichts!

Die jungen und guten Sänger von damals, die Rysanek, Güden, Lipp, Ludwig, Wächter, Berry, Kmentt, die haben sich doch weiterentwickelt und haben neue Rollen und neue Aufgaben gefunden. Herr Kunz ist der Standard-Figaro in alter Frische, und daß einige Herren und Damen mittlerweile die Stimme verloren haben, liegt in der Natur der Sache! Wir möchten die Planung Meister Hilberts sehen, wenn er jetzt die Leute nicht hätte, die in der Ära des „Ensemblezerstörers“ Karajan an die Oper verpflichtet wurden, von Lucia Popp bis Walter Kreppel, von Margarita Lilowa bis Gerhard Stolze, von Gundula Janowitz bis Otto Wiener von Dimiter Usunow bis Robert Kerns und von Graziella Sciutti bis Tugomir Franc! Wir sind wahrhaftig neugierig, was Meister Hilbert einem verwöhnten Publikum in Wien noch zu bieten haben wird.

Ensemblesorgen hat Herbert von Karajan in Salzburg keine, wer nicht gefällt, wird eben nicht mehr engagiert und damit basta. Die natürliche Auslese ist auch etwas wert. Das für mehrere Jahre in Vorbereitung befindliche Programm an der Salzach bringt neben den Festspiel-Ahnherren Mozart und Richard Strauss auch eine kleine Auswahl der vielgeschmähten, totgesagten, als festspielunwürdig bezeichneten „großen Oper“! Was die Komponisten und Puristen nur gegen sie haben!

Es war die größte Überraschung dieses Sommers, daß Herbert von Karajan einen vakanten Sitz im Salzburger Festspieldirektorium, den er vor etlichen Jahren schon abgelehnt hatte, beinahe über Nacht akzeptierte und so bereits amtierende, berufsmäßige Intriganten sozusagen in letzter Minute um den Lohn ihrer mühsamen Tätigkeit brachte. Ermöglicht wurde dieser Erfolg nicht zuletzt durch eine elegante und virtuose Kehrtwendung des Festspielpräsidenten Bernhard Paumgartner. Man konnte heuer sein helles Vergnügen an des Präsidenten Pausenvorträgen bei den Rundfunkübertragungen der Matineen haben, denn er klopfte nicht nur den Puristen kräftig auf die Finger, sondern auch der Kritik, und es bereitet uns besonderen Spaß, aus dem Munde eines Mannes, der dabeigewesen ist, hören zu können, daß Salzburg auch zu Reinhardts Zeiten nicht von einem Chor beflügelter Engel bevölkert war, sondern daß die Festspiele ebenso verrissen wurden wie heute. Und das Programm wurde auch nie für gut genug empfunden. Genau das hatten wir immer angenommen! Nun ist es einmal so, daß Kammerspiele und kleine Opern, die auf Bühnen von Badezimmergröße dargestellt werden, nicht unbedingt festlich wirken. Je größer, je pompöser sie aufgemacht sind, desto größer der festliche Glanz! Und da man in Salzburg nun schon einmal das passende Haus dafür gebaut hat, so soll man darin auch ruhig große Oper spielen, auch wenn die Dramaturgen sämtlicher deutscher Verlage mit ihren komponierenden Vorkämpfern darob vor Wut zerspringen. Festspielgewaltige sollten immer des eingedenk sein, daß Festspiele für das Publikum da sind und nicht umgekehrt. Doch wo Karajan zu Hause ist, kann man dessen ohnedies sicher sein. Er spielt immer für ein Publikum – und zwar für ein sehr gutes.

Die Salzburger Festspiele haben gegenüber den Jahren 1961  bis 1963, wo man nur von Reprisen und dem Troubadour lebte, heuer einen deutlichen Aufschwung genommen. Die neuen Strauss-Inszenierungen der Elektra durch Karajan und die Ariadne durch Rennert-Böhm hatten Format und waren szenisch und musikalisch sehr erfolgreich. Die Reprisen von Rosenkavalier und Così fan tutte wurden vom Publikum gestürmt, als wären sie Premieren. Der leidige Sellner-Figaro, der immerhin größtenteils gut besetzt war, und die Schenk-Inszenierung der Zauberflöte absolvierten schließlich ihr letztes Jahr. Wir wollen ihnen nicht nachweinen. Lucio Silla, eine musikalisch zweifellos sehr interessante Mozart-Ausgrabung, hätte ins Landestheater gehört. In den Karabinieri-Saal kann ein Wiener wirklich nicht gehen. Er hat schon von seinem eigenen Redoutensaal genug. Freiluftaufführungen sind ja in Salzburg eine sehr unsichere Sache.

Der Versager des heurigen Salzburg geschah Shakespeare zu Ehren. Verdis Macbeth in der Felsenreitschule hätte vielleicht ans „Rote Tor“ in Augsburg gepaßt, aber nie in das von italienischer Atmosphäre nicht unberührte Salzburg. So etwas kann herauskommen, wenn jemand Verdi besetzt, der keine Ahnung von ihm hat! Verdi gehört in erster Linie gesungen, dann dirigiert und dann kann man versuchen, aus ihm „lebendiges Musiktheater“ zu machen! Ja, das war’n Theater! Die Aufführung ist nur durch radikale Umbesetzung und durch Eliminierung von Sawallisch, Fischer-Dieskau und Peter Lagger zu retten.

Das große Vorhaben, beide Teile des Faust zu spielen, wurde realisiert, litt aber unter teilweise unzureichenden Besetzungen, vor allem der kleinen Rollen im zweiten Teil – und der Titelrolle. Doch auch das kann man ändern. Die großen Konzerte waren von herrlich bis gut, die Solistenkonzerte exquisit, die Mozart-Matineen interessant.

Immerhin läßt sich jetzt schon sagen, daß sich mit Karajans Übersiedlung nach Salzburg der musikalische Schwerpunkt Österreichs nach dem Westen verlagert hat. Es freut den Musikfreund, daß er nur nach Salzburg zu reisen braucht, um einen solchen zu finden. Man soll sich am Opernring nicht täuschen! Karajan wird nicht vergessen werden! Unsere Stehplatzgeneration hat aus Protest gegen die Absperrungsmaßnahmen der ersten Ära Hilbert die Kunstreise des kleinen Mannes erfunden und die fortschrittlichsten Stehplatzler der Fünfzigerjahre haben von Glyndebourne bis zum San Carlo, von Prades bis Drottningholm das musikalische Europa – und damit die musikalische Welt – durchzogen und das unter weit ärmlicheren finanziellen Verhältnissen als heutzutage, wo sich bereits fast jeder Mittelschüler eine Italienreise mit Benzingeldteilung leisten kann. Die Hoffnung auf eine neue, bescheidenere Generation auf dem Wiener Stehplätzen wird sich somit nicht erfüllen, und das Wiener Publikum – ob aus dem Parkett oder von den Rängen stammend – soll sich nur eine Tür in die große Welt offen halten. Salzburg kann ihm dazu helfen.

 

DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 9. August im Kleinen Festspielhaus

Zum letzten Mal ging heuer im Kleinen Festspielhaus die 1962 heraugebrachte Sellner-Inszenierung des Figaro in Szene. Nach einjähriger Pause soll im Festspielsommer 1966 wieder Günther Rennert das Werk neu erstehen lassen. Man ist heilfroh, daß dieses häßliche Produkt endlich vom Spielplan verschwindet! Michael Raffaellis Drahtplatten und Gestänge sind so ziemlich das Letzte was zu einer Mozart-Inszenierung paßt, und die Kostüme werden immer unerträglicher, je öfter man sie sieht. Allein das Kleid der Gräfin im dritten Akt, das der Trägerin kaum das Gehen erlaubt, müßte genügen, um über Herrn Raffaelli den Stab zu brechen. Erheiternd war nur die Gartendekoration, wo man plötzlich daran erinnert wurde, daß vor wenigen Wochen durch die  amerikanische Atlasrakete die Mondoberfläche genau photographiert wurde. So sah es nämlich aus. Das war aber alles, worüber man lachen konnte. Regisseur Rudolf Sellner drückte das herrliche Werk auf Provinzniveau herab. Da wurde marschiert, gepoltert und herumgeworfen, sodaß man sich anhand des Programmes vergewissern mußte, ob das wirklich der geliebte Figaro war. Dazu ließ Sellner kaum einen Sänger seine Arien wirklich ruhig singen, sondern jagte Figaro mit großen Gesten und augenrollend herum, als wäre die Revolution bereits in den Schloßgarten eingebrochen, den Grafen Türen schmettern und den kleinen Cherubino beinahe am erhaschten Band der Gräfin erdrosseln. (Mozart schau oba!). Einzig die Gräfin war ein ruhender Pol in dieser Aufführung. Mag sein, daß Frau Güden ihre eigene Auffassung der Rolle durchsetzen konnte. Und erst die Nebenrollen! Dr. Bartolo und Marzelline wirkten direkt penetrant. Basilio war eine klinische Studie und Don Curzio übertraf in Auftreten und Gesang sogar unsere Wiener Besetzung! So wird man bei dem ganzen Treiben auf der Bühne nie froh und kann die Aufführung am besten genießen, wenn man die Augen schließt. Denn in gesanglicher Hinsicht gab es wenigstens teilweise eine Entschädigung für die mißglückte Inszenierung. Ein Sängerquartett von großen Namen und Persönlichkeiten rettete den Abend. Hilde Güden war eine Gräfin Almaviva, ohne Fehl und Tadel, in Gesang und Spiel gleich begeisternd. Graziella Sciutti ist eine bezaubernde Susanna und sang eine traumhaft schöne Rosenarie. Ein prächtiges Gespann waren Dietrich Fischer-Dieskau als herrischer Graf und Geraint Evans als Figaro. Sie spielten sich die Pointen förmlich zu und zogen sogar noch vor dem Vorhang eine Show ab. Fischer-Dieskau zeigte sich im Parlando gegenüber früheren Jahren stark verbessert und triumphierte mit seiner großen Arie. Herr Evans sang den Figaro mit sehr schöner, dramatischer Stimme. Evelyn Lear hatte als Cherubino großen Publikumserfolg. Dennoch ist sie, trotz des perfekten Vortrages der beiden Canzonen keine Mozartsängerin. Ihre Begabung dürfte zweifellos im Modernen wurzeln. Lag es an der Regie oder an ihr, daß Cherubino so uncharmant wirkte, viel zu militärisch und steif? Wir wollen aber dennoch sagen, daß es, seit die Damen Jurinac und Christa Ludwig die Partie nicht mehr oder zumindest kaum mehr singen, keinen Cherubino von Weltklasse gibt. Alles, was sonst sang, war nicht festspielreif. Peter Lagger gab einen trockenen, gesanglich unzulänglichen Dr. Bartolo und was Dorothea von Stein als Marcellina an Gesang produzierte, unterbot sogar die frühere Besetzung. Auch ein Renommee! John van Kesterens Stimme ließ auch als Basilio den Rezensenten nicht ruhig sitzen bleiben, und Martin Vantin als Don Curzio war eine Zumutung. Siegfried Rudolf Frese als Gärtner hielt sich noch am besten. Auch die Barbarina und die Brautjungfern waren schlecht, aber wir Wiener sind ja durch die Wiener Besetzung der Brautjungfern (Vajda und Barilly) nicht verwöhnt. Man muß sich am Ende ernstlich fragen, ob man die Nebenrollen aus künstlerischen Erwägungen heraus oder einer Schallplattenfirma zu liebe besetzt hat. Das muß sich in Salzburg ändern! Lorin Maazel stand am Pult. Er sorgte für einen rasanten Ablauf der Oper. Manchmal schienen die Sänger mit dem Atem nicht mehr mitzukommen und dennoch ging alles gut aus. Es war eine eiskalte Interpretation, die aber dennoch haushoch über der Istvan Kertesz’ in der Zauberflöte steht. Maazel ist zweifellos ein großes Talent. Seine Stärke scheint auf dem Konzertsektor zu liegen, und von den Opernwerken würden ihm eine Carmen, eine Fürst Igor oder die Trionfi wahrscheinlich wesentlich besser liegen, als Mozart. Hoffentlich findet Salzburg für die nächste Figaro-Neuinszenierung wieder zu (dem öfter hier absagenden) Krips, und Krips wieder zu Salzburg. Denn für die Salzburger Festspiele und ihren Rang im internationalen Musikleben kann nur das Beste gerade gut genug sein.

DIE ZAUBERFLÖTE am 12. August Großes Festspielhaus

Obwohl eigentlich die Bühne des großen Festspielhauses für die Realisierung dieses Werkes des Salzburger Meisters keineswegs als ideal zu bezeichnen ist und auch die technischen Möglichkeiten des kleinen Hauses dem Stück eher entgegenkommen würden, baute Jörg Zimmermann eine Art Guckkastenbühne, die dem Pawlatschentheater abgeschaut war. Die Versatzstücke bilden die seitliche Einrahmung für die Spielbühne und werden geschickt und rasch vor einem projizierten Hintergrund auf- und abgebaut. Die Bilder selbst sind wohltuend angenehm in den Farben und hübsch anzusehen. In diesen Bühnenbildern führt Otto Schenk Regie. Erfreulich ist die natürliche Spielführung der Hauptakteure. Die ansonsten oft heiklen Auftritte der drei Damen, der Königin der Nacht und die Feuer- und Wasserprobe wurden dank der guten Zusammenarbeit mit Zimmermann ausgezeichnet bewältigt. Lediglich die Mohrenszenen wurden etwas überdreht und somit zum deftigen Spaß. Die Kostüme von Hill Reihs-Gromes sind hübsch anzusehen, und auch die Lösung, einen Teil des Chores nicht nur in weiße Kutten zu stecken, sondern auch in bunten Gewändern auftreten zu lassen, kommt dem Stil der Inszenierung entgegen. Wenn zusammenfassend gesagt werden muß, daß hier auch keine epochemachende und zukunftsweisende Inszenierung gelungen ist, so ist sie gegenüber dem Sellner-Figaro unbedingt als Positivum zu werten. Star des Abends war Walter Berry. Die betörend schöne Stimme, verbunden mit der richtigen Mischung Natürlichkeit, Einfachheit und Naivität machen diesen Vogelfänger zum Mittelpunkt der Aufführung. Hier wird nichts überdreht, alles ergibt sich von selbst. Hier werden keine überflüssigen Gags eingebaut, die den einfachen Menschen zum Kasperl werden lassen. Ihm zur Seite eine Papagena, deren altes Weib in den Wiedner Gründen des Naschmarkts – im Sinne des Volksstückes – angesiedelt wurde, und bei deren Sprache man deutlich den „Eckzahn“ merkt. Nach der Maskerade singt Renate Holm mit ihrem Herzliebsten ein sehr schönes Duett. Der Tamino von Waldemar Kmentt schien diesmal rauhstimmig. Die Natürlichkeit seiner Aktionen und seine gute Prosa machten ihn dessen ungeachtet zu einem Pluspunkt der Aufführung. Seine Pamina war mit Pilar Lorengar besetzt. Sie besitzt eine sehr gut geschulte, warm timbrierte Stimme, die in allen Lagen gut anspricht. Wenn an ihrer guten Leistung etwas bemängelt werden muß, so ist dies die mangelhafte Prosa. Einen guten Sarastro sang Walter Kreppel. Die Königin der Nacht von Roberta Peters war nicht dazu angetan, ihre Leistung als festspielreif zu bezeichnen. Man darf doch immerhin erwarten, daß zumindest die technischen Schwierigkeiten der Partie gemeistert werden. Ein Ausrutscher in der ersten, wie auch der zweiten Arie müßte zu vermeiden sein. Dazu kommt noch, daß, bedingt durch die gute Akustik des Hauses, die physische Anstrengung bei der Wiedergabe der Partie deutlich hörbar wird. Warum man die vielleicht beste Königin der Nacht, die es heute gibt, zum ersten Knaben degradierte, erscheint unverständlich und unkünstlerisch! Gesanglich, sprachlich und darstellerisch völlig fehl am Platz Renato Ercolani als Monostatos. Es wird doch noch möglich sein, für diese Partie einen deutschsprachigen Vertreter mit halbwegs angenehmer Stimme aufzutreiben. Die drei Damen waren mit Maria van Dongen, Cvetka Ahlin und Vera Little unterbesetzt, wobei letztere noch am besten gefallen konnte. Sehr gut die drei Knaben von Lucia Popp Yvonne Helvey und Hildegard Rütgers. Unzureichend besetzt waren die beiden Priester mit Paul Stäni und Josef Knapp, desgleichen die beiden Geharnischten des lautstarken Herbert Schachtschneider und des unhörbaren Georg Litassy. Verschlechtert wurde heuer auch die Besetzung des Sprechers (Paul Schöffler), und die Sprechszene der Mohren sollte man streichen, wenn man keine besseren Schauspieler dafür findet! Eine gute Leistung bot der Wiener Staatsopernchor. Vollkommen unzureichend war die Leistung des Dirigenten Istvan Kertesz. Wir sind bestimmt die Letzten, die ambitionierten jungen Begabungen den Weg nach oben erschweren wollen, aber ein teures Geld zahlendes Festspielpublikum erwartet sich auch eine festliche Wiedergabe und nicht die einschläfernden Taktschlägereien eines angehenden Dirigenten. Das gute Bemühen kann ein inneres Mitleben nicht ersetzen. Es war auch nicht verwunderlich, daß die Wiener Philharmoniker nicht zu ihrer besten Form finden konnten.

 

MACBETH am 14. August Felsenreitschule

Verdis Frühwerk wurde außerhalb Italiens (und auch dort) wegen Besetzungsschwierigkeiten selten aufgeführt. In Wien war das Werk während des Krieges und dann im Theater an der Wien (zuletzt unter Böhm-Schuh mit Höngen, Metternich und Frick) auf dem Spielplan zu finden, wo es aber auch keinen dauernden Platz im Repertoire finden konnte. Nun hat Salzburg nach dem Werk gegriffen und es in der Felsenreitschule angesiedelt. Wir dachten zuerst, daß es dort durchaus realisierbar wäre, doch erwies sich der Aufführungsort dann auch bei diesem, wie vielen anderen Werken (Simone Boccanegra, Don Giovanni und Zauberflöte) als problematisch. Die Einheitsbühne mußte also alle Spielplätze in sich vereinen. Sowohl die Heide, in der Macbeth die Hexen erscheinen, als auch den Königshof und die Bankettszene. Teo Otto stand als Bühnenbildner auf dem Programm. Er baute einige Dekorationen, da richtige Kulissen in diesem Raum nicht am Platz sind. Oskar Fritz Schuh, der nach einigen Jahren der Abwesenheit von Salzburg das Werk inszenierte, sah sich vor große Schwierigkeiten gestellt, konnte in den Hexenszenen ausgezeichnet gefallen, blieb aber mit der Bankettszene auf der Strecke. Die Erscheinung Banquos ist geradezu erheiternd. Durch die ständig wechselnden Spielplätze wurde viel mit Komparsen, die Fackeln trugen und einen lebenden Vorhang bildeten, sowie mit Lichtprojektionen gearbeitet, die unbefriedigend blieben. Zur Besetzung. Sie war unglücklich gewählt oder aufgezwungen. Daß man die beiden tragenden Partien die Lady und den Lord Macbeth heute kaum ideal besetzen kann, ist kein Geheimnis. Die gesanglich grandiose Birgit Nilsson wurde wegen schauspielerischer Unglaubwürdigkeit von den Mailändern abgelehnt, die sicher die Callas unvergeßlich in Erinnerung haben. Aber die Callas selbst könnte heute die Partie gesanglich nicht mehr so souverän meistern. Auch Leonie Rysanek hat die Partie außer an der Met kaum gesungen und wo ist seit Warrens Tod ein Macbeth von Format. McNeill ist kein Schauspieler, von Kostas Paskalis weiß die Presse zwar von einem überzeugenden Debüt in Glyndebourne zu berichten, aber sonst? Weit und breit kein Macbeth! Dietrich Fischer-Dieskau, der in der vergangenen Saison die Partie in Berlin (in deutscher Sprache) gesungen hatte, wurde nun für die Salzburger Aufführung verpflichtet. Er entitalienisierte Verdi gründlichst und ging auch an diese Rolle mit seinem Intellekt heran. Da er versuchte, seine deutsch geschulte Stimme in italienischer Manier zu bezwingen, war das Ergebnis unbefriedigend und nicht überzeugend. Das Ganze wurde zwar italienisch gesungen, (die Arie souverän), doch klang es gekünstelt, und er geriet mehrmals an die Grenze seines Leistungsvermögens. An manchen lyrischen Stellen vermeinte man, nun beginne die „Winterreise“. Das wäre wenigstens richtiger gewesen und der Abend kein verlorener! In schauspielerischer Hinsicht übertrieb Fischer-Dieskau maßlos. Teils fegte er wie ein Tornado über die Bühne, teils schleppte er sich augenrollend, wild gestikulierend und die Füße nachziehend über die Bretter, so daß das Ganze eher erheiternd wirkte. Zusammenfassend muß man sagen, daß man Dietrich Fischer-Dieskau mit der Übertragung dieser Rolle keinen guten Dienst erwiesen hat. Und es ist bedauerlich, daß der Künstler selbst seine Grenzen nicht kennt. Der Macbeth ist eine immens schwierige Partie, und weit erfahrenere und im Verdigesang erprobtere Sänger, wie Schöffler und Hotter, haben im Wiener Opernhaus während des Krieges, auf der Höhe ihres Ruhms, diese Partie nach einmaligem Singen an Mathieu Ahlersmeyer abgegeben, weil sie einfach „eingingen“. Die Partie  der Lady Macbeth ist für eine Künstlerin sicher einer der geheimsten Wünsche. Was kann man doch aus ihr machen! Und wie herrlich waren die Höngen, die Mödl oder die Varnay! Wie prachtvoll wird die Ludwig als Lady Macbeth werden. Die Salzburger Lady heißt Grace Bumbry und muß der Partie schauspielerisch so gut wie alles schuldig bleiben. Man sieht genau die vom Regisseur einstudierten Gesten und spürt nichts von dem Gehetztsein, der Machtbesessenheit und den Gewissensqualen, die diese Frau erfüllen. Sie ist eher gut bürgerlich und harmlos und freut sich nach jeder Beifallsbezeugung des Publikums sehr, wie ihr lächelndes Gesicht zeigt. Gesanglich bewältigt sie die Partie überraschend gut. Die große Stimme ist in der Mezzolage sehr schön, verliert aber in der Sopranhöhe an Qualität. Die Übergänge von der Tiefe zur Höhe funktionieren nicht reibungslos. Während ihr die erste Arie sehr gut gelang, ließ die Nachtwandelszene, in der sie zuerst durch die Gänge der Felsenreitschule geisterte, manchen Wunsch offen. Dennoch scheint diese Besetzung akzeptabler, als die des Macbeth selbst. Ermanno Lorenzi übernahm für den absagenden Zampieri die Partie des Macduff und sang in dieser Aufführung eine schöne Arie. In stilistischer Hinsicht ist Lorenzi einwandfrei, doch ist die Partie mit ihm unterbesetzt. (An der Met singt das Bergonzi, an der Scala Prevedi). Malcolm war mit dem Spanier Francisco Lazaro besetzt, von dem man uns vor der Premiere wahre Wunderdinge übermittelte, doch erwies er sich in der kleinen Partie höchstens als durchschnittlicher Sänger. Alois Pernerstorfer (Arzt) und Bozena Ruz-Fock waren Stichwortbringer. Unverantwortlich ist die Besetzung des Banquo mit Peter Lagger. Wer hat denn diese Besetzung wieder auf dem Gewissen? Man verlangt nicht gerade, daß Ghiaurov oder Siepi diese Baßpartie singen, aber was Herr Lagger bot, war so ziemlich die unterste Grenze des Zumutbaren. Eine so schlechte Besetzung des Banquo ist uns selbst im Opernalltag nicht begegnet. Wolfgang Sawallisch stand am Pult und erwies sich als eiskalter Routinier. Seine Interpretation blieb gänzlich unitalienisch und undramatisch und ließ den Ruf nach einem Italiener (Molinari-Pradelli, Santi oder Erede) laut werden. Die Wiener Philharmoniker spielten klangschön. Die beste Leistung der Aufführung bot der Wiener Staatsopernchor und hier vor allem war es der Hexenchor, der hervorragend studiert und gesungen war. Ein Bravo Herrn Rossmayer für die Einstudierung! Im Finale der Oper wurde der Chor durch einen Salzburger Kammerchor nicht sehr glücklich verstärkt. Der Beifall war sehr lautstark und konzentrierte sich auf Bumbry und Fischer-Dieskau, wobei wir annehmen, daß die Demonstration mehr der schwarzen Venus von Bayreuth und dem deutschen Liederfürsten galten, denn so urteilslos dürfte auch ein Festspielpublikum nicht sein.

 

ARIADNE AUF NAXOS am 18. August Kleines Festspielhaus

Der reiche Herr aus Wien, der sowohl das Ensemble einer opera seria als auch einer opera buffa in sein Haus geladen hatte, konnte diesmal mit den Darbietungen in jeder Hinsicht sehr zufrieden sein. Unter der Leitung Karl Böhms wurde ebenso bezaubernd musiziert wie gesungen und auch das Auge konnte sich nicht nur an den gelungenen Dekorationen und Kostümen Ita Maximownas erfreuen. Letztere von Günther Rennert ohne billige Effekte immer gut geführt. Im Vorspiel brillierte der ganz in seiner Berufung aufgehende junge Komponist, der über sein Werk die Realität ganz vergessen hat und sich durch die Mitwelt nur gestört fühlt. Sena Jurinac vermied alles Parodistische und gestaltete ihren Komponisten aus der großen inneren Begeisterung des sich berufen Wähnenden heraus, stimmlich wie schauspielerisch gleich hervorragend. Ihr zur Seite der weise, abgeklärte und dabei ein wenig in seinen begabten Schüler verliebte Musiklehrer Paul Schöffler. Er kennt die Menschen und ihre Schwächen und die der vornehmen Geldgeber im besonderen, hat sich aber über alles seinen überlegenen Humor bewahrt. Erik Frey als Haushofmeister war das verkörperte Zeremoniell. John van Kesterens Tanzlehrer fiel stimmlich etwas aus dem Rahmen. Darstellerisch vermochte er ebenso wie die Vertreter der kleinen Rollen zu überzeugen. Besonders gut gelang dem Regisseur die Herausarbeitung der drei Charaktere der Sängerinnen der Nymphen, gesungen von Lucia Popp, Claudia Hellmann und Lisa Otto. Sie erschienen sehr privat: Als mondäner Vamp mit halbverschleiertem Blick, als von Neugier geplagte Strickerin und als ununterbrochen Essende, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt. Neben diesem netten Einfall stand das konventionell-hysterische tragische Liebespaar, sie immer aufgeregt umherrauschend und er aufgeblasen und eingebildet (mit rotem Schlafrock und schwarzem Wuschelkopf). Die Garderoben des ernsten Ensembles waren links von der Hinterbühne angelegt. Rechts war das Buffo-Ensemble untergebracht. Die Bühne selbst stellte eine Hinterbühne mit Ausblick in ein rot-goldenes Barocktheater vor. Die springlebendige Reri Grist wußte mit der ganzen Pikanterie ihrer Rasse die Männer zu betören, wodurch die Szene mit dem Komponisten zu einem erfreulichen Höhepunkt wurde. Das Buffo-Quartett blieb in Vorspiel und Oper eher farblos und individuell wenig profiliert. Sie wirkten vor allem durch ein reibungsloses und gefälliges Zusammenspiel.

Der Schauplatz auf der etwas reparaturbedürftigen Hinterbühne wurde von einer stimmungsvollen Felsenlandschaft abgelöst, wobei prächtige Kristalluster und reich ausgestattete Proszeniumslogen – die mit ins Buffospiel einbezogen wurden – das Spiel im Spiel nicht vergessen ließen. Die Fassade, in diesem Falle die Räumlichkeiten, die der Besucher des reichen Herrn unmittelbar zu Gesicht bekommt, atmeten Prunk und Pracht, doch dort, wo das Auge nicht mehr hinzudringen vermag, bröckelte die Mauer ab und herrschte Unordnung. Ein szenisch glänzend gelungener Hinweis darauf, daß nicht alles wirklich so ist, wie es nach außen scheint. Hildegard Hillebrecht, dankenswerterweise für die erkrankte Christa Ludwig als Ariadne eingesprungen, meisterte ihren Part stimmlich vorbildlich, hat aber nicht die bühnenbeherrschende Persönlichkeit, um ihre Ariadne zu einem großen Erlebnis werden zu lassen. Um das „Urbild der menschlichen Einsamkeit“ zu betonen, fügten sich die verschleiert bleibenden Naturstimmen mehr dekorativ ins Bühnenbild als in die menschliche Handlung ein. Eine sehr berechtigte Auffassung. Alles Individuelle war verschwunden, sie waren nur mehr Musik. Das Buffospiel (Gerd Feldhoff, David Thaw, Georg Stern und Gerhard Unger) sprengte niemals den lyrischen Rahmen und war von allem Burlesken weit entfernt. Auch die muntere Zerbinetta zeigte sich von leicht melancholischen Zügen überschattet. Mit exakt sitzenden Koloraturen und müheloser Höhe bot Reri Grist eine vorzügliche, fein pointierte Leistung. Als Krönung des Spiels und wahrer Deus ex machina erschien Jess Thomas in der Maske des strahlend schönen jungen Gottes Bacchus, ganz weiß-gold gekleidet, mit goldenen Haaren. Eine Freude für das Auge und auch fürs Ohr. Der ausgewogene Wohlklang des Schlußduettes ließ das Spiel im Spiel völlig vergessen und führte weg von der Erde – die Felsen versanken – in den ewigen Kosmos. So erreichte diese wahrhafte Festspielaufführung das, was ihr zukam: Ins Zauberland der Musik zu führen.

 

ELEKTRA am 27. August Großes Festspielhaus

Nun hat es Herbert von Karajan wieder gewagt, nach einem Werk zu greifen, das bisher Strauss-Spezialisten vorbehalten war. Und auch bei der Elektra ereignete es sich wieder, daß man ziemlich fassungslos vor einem gänzlich neuen Werk stand, obzwar der „bessere“ Wiener Opernbesucher auch dieses schon seine soliden vierzigmal (darunter oft sehr gut) gehört hat. Wieder ist es die Transparenz des Klanges, die fasziniert, das absolute Gleichgewicht. Man hatte bei der Elektra früher immer den Eindruck aufgetürmter Tonblöcke. Nun stand man aber einem kristallklaren Strom gegenüber, der trotz seiner Mächtigkeit jedes einzelne Tröpfchen bewahrt und blitzen läßt. Karajan hat die Elektra auch selbst inszeniert, und es ist müßig zu betonen, daß das Ineinandergreifen von Musik und Szene, von Ton, Wort und Geste vollendet ist. Das konnte er nämlich schon 1954 bei der Lucia. Was er damals noch nicht konnte und erst in den letzten Jahren (Götterdämmerung – Pelleas – Troubadour – Fidelio – Tannhäuser – Frau ohne Schatten) erarbeitet hat, ist die Formung der menschlichen Substanz. Da war er in den ersten Jahren seiner Regietätigkeit doch noch sehr auf die Persönlichkeiten der Sänger angewiesen. Nun erkennt man, daß z. B. die Leonore der Ludwig kein Zufall mehr war, sondern Arbeit, die den Stempel Karajans trägt. Es ist ihm dann in der Frau ohne Schatten gelungen, Rollen aus einer Schablone zu lösen, die man als solche früher gar nicht erkannt hat. Man wußte es ja nicht besser. Auch in der Elektra ist ihm Ähnliches in nicht minder aufregender Weise gelungen. Astrid Varnay ist als Elektra hochberühmt und hat die Partie unzählige Male gesungen. Ihr Format ist unbestritten und stets gebührend gelobt worden. Doch hat man sie noch kaum jemals so erlebt, wie in dieser Elektra. Sie hat durch die Zusammenarbeit mit Karajan der Rolle alles Hexenhafte, Hysterische und Übertriebene genommen. Es scheint, daß alle Mitglieder des fluchbeladenen Atridengeschlechtes unter der gleichen Last schwanken, unter dem Klytämnestra zusammenbricht und mit der Mörderin mitleiden müssen, ob sie wollen oder nicht. Nur tut Elektra dies in wenig hektischer Weise. Sie verbirgt sich und wartet auf ihre Stunde. Und dann kommt sie. In der gewaltigen Steigerung und Spannung der Klytämnestra-Szene, die sich erst in der Erkennungsszene wie mit einem totalen Zusammenbruch löst. Unbeschreiblich, wie die Varnay das ausspielt! Sie ist von einer derartigen Intensität, daß sie auf das mänadenhafte Herumrasen auf der Bühne verzichten kann. Umso plastischer wirkt die knappe Gestik. Der erregendste Augenblick des Abends ist jene Szene der Varnay, da sie sich wie eine Blinde über die leere Bühne tastet, um zu den Füßen des Bruders zusammenzustürzen. Das allein benahm einem schon den Atem. Gesungen hat sie ganz hervorragend, mit kraftvollem Metall in der Mittellage, explodierenden C – und – was bei der Varnay selten ist, ungemein wortdeutlich und vor allem hundertprozentig richtig. (Gerade das hatten wir nämlich noch nie gehört.) Auch die Klytämnestra von Martha Mödl war großartig. Frau Mödl ist eine Meisterin im Unterspielen, und ihre fast unglaubliche Ausdruckskraft bewirkt es, daß sie dem Hörer (etwa mit dem Satz „…es drückt mich nicht – es würgt mich nicht…“ usw.) kalte Schauer über den Rücken jagt, ohne auch nur einmal die Stimme zu heben. Sie ist eine Königin auch noch im Zusammenbruch. Die Schilderung ihrer Komplexe gleitet nie ins Klinische ab, und die feine Abstufung und Schattierung des Gesanglichen erreichte stellenweise arioses Format. Wir haben nicht gewußt, daß man diese Szene auch singen kann. Hildegard Hillebrecht war wohl eher eine Notbesetzung. Sie sang zwar schön und befolgte das Regiekonzept, konnte es aber nicht zur Gänze ausfüllen. Auch Chrysothemis ist hier stiller und verinnerlichter. Aus ihr spricht eine tiefe, menschliche Sehnsucht. Diese Rolle wurde bisher eher oberflächlich oder aber bewußt auf sinnlich gespielt. Das Regiekonzept Karajans kam also doch auch, wenn auch in weniger starkem Maße als in den beiden anderen Hauptrollenträgerinnen, der Gestalt zugute. Eberhard Wächter lag der Orest etwas zu tief. Er schraubte die Stimme zwar tapfer hinunter, hatte aber daher am Schluß seiner Szene zu wenig Kraft. Docht das ist unvermeidlich, war im übrigen auch vorherzusehen. Dafür war seine Auffassung umso interessanter. Hier erschien nicht der entschlossene Rächer, der kraftvolle Held, der finster seinen geplanten Mord begeht. Wächters Orest tritt zögernd auf. Er ist niedergedrückt von der Wucht des Palastes. Er läßt schon ahnen, daß ihm später die Erynien schwer zu schaffen machen werden. Den Anstoß zu seiner Tat gibt ihm das Leid und die Qual der Schwester und selbst da bedarf es noch einer deutlichen Aufforderung des tatkräftigen Pflegers, ehe er den Entschluß zur Rache faßt. Dieser Orest ist ebenso modern wie logisch und durchdacht und meilenweit von der Schablone des antiken Massenmörders entfernt. Unter den kleinen Rollen gab es nur einen einzigen Versager, nämlich Richard van Vrooman in der Partie des jungen Hirten. James King, der den Aegisth gut sang, ist eigentlich kein Charaktertenor (einem solchen steht die Partie besser zu Gesicht). Tugomir Franc war ein markanter Pfleger. Von den Mägden gefielen die Soprane (Lucia Popp und Lisa Otto) am besten. Helen Watts, Margareta Sjöstedt, Cvetka Ahlin und Judith Hellwig ergänzten. Ausgezeichnet als Typen waren die Schleppträgerin (Anja de Haan) und Vertraute (Hildegard Rütgers). Das Bühnenbild war von Teo Otto und ganz hervorragend, ein klotziges, aber doch schon in Skelettierung befindliches Mykene, das in allen Phasen der Beleuchtung gleich wirkungsvoll blieb. Daß Karajan, dem Meister im Finden bildhafter Farbkompositionen, der Opferzug und die „Lichter“ beim Abgang Klytämnestras besonders gut gelingen würden, war klar. So bleibt uns noch die angenehme Aufgabe, die Wiener Philharmoniker für herrliches, plastisches, klangvolles und farbenreiches Strauss-Spiel gebührend zu preisen und gleichzeitig zu bedauern, daß Karajan in Wien so wenig Straussopern dirigiert hat. Auch der Varnay hat er sich sehr spät wieder erinnert. (Man durfte den Namen gar nicht nennen, um Gottes Willen!) Nun ist es also doch gegangen, daß die beiden wieder zusammenarbeiteten – wie viele schwachen Wagnerabende hätten wir uns in den vergangenen Jahren erspart, hätte man die Varnay nach Wien geholt! Das sind Gedanken, über die man sich zwar im Nachhinein noch ärgert, die aber andererseits auch wieder dazu beitrugen, daß man über die prachtvolle Elektra-Aufführung besonders glücklich war. Der Beifall erreichte Grade, die es bisher in Salzburg nicht gab. Man hörte, daß sich die Karajan-Anhänger nunmehr auf Salzburg konzentrieren müssen.

 

DER ROSENKAVALIER am 29. August  Großes Festspielhaus

Wieder stand die aparte, gescheite Strauss-Komödie auf dem Spielplan und wieder in einer herrlichen Aufführung. Herbert von Karajan dirigierte den Rosenkavalier mit liebevoller Ausarbeitung der Details, ohne dabei den eleganten Schwung zu verlieren. Er legt einen Teppich unter die Stimmen, der sie trägt und blühen läßt. Das Orchester der Wiener Philharmoniker spielt mit Kultur, Charme und herrlichem Klang und die Besetzung der Hauptrollen kann nicht besser sein. Elisabeth Schwarzkopf ist die Marschallin. Man meint, sich nie wieder eine andere Interpretin der Rolle in ähnlicher Vollkommenheit des Gesanges, der Nuancierung, der gefühlsmäßigen Erfassung und der optischen Realisierung vorstellen zu können. Dabei ist sie noch leichter geworden, spielerischer, dadurch wienerischer. Sehr oft quittieren Wiener Dinge, die ihnen unter die Haut gehen, mit einem Lächeln, statt mit einem Krach, mit einem Anflug von Humor statt tiefen Ernstes, der vielleicht an sich eher angebracht wäre. Es ist unglaublich, wie die Schwarzkopf das jetzt spielt. Der Kontrapunkt zu dieser Marschallin ist Sena Jurinac als Oktavian, erfüllt von Feuer und menschlichem Gefühl, von Überschwang und Ungestüm – und dabei stets elegant, nobel und dezent humorvoll. Ihr Mariandl ist ein unüberbietbares Kabinettstück. Anneliese Rothenberger schloß sich ihren Kolleginnen mit viel Erfolg an. Sie ist eine aparte, hübsche, temperamentvolle, aber doch gebändigte Sophie, die die Herzensnöte eines Rokokomädchens durchaus charmant durchlebt. Die Rosenüberreichung war ebenso prächtig gesungen, wie „zu ihm hab ich ein Zutraun“, und das Schlußduett und das Terzett hatten eine fast verzehrende Spannung. Es ist unwahrscheinlich, daß sich eine derart glückliche Konstellation dreier Hauptdarstellerinnen in Bälde wiederholen wird. Schade, daß dieser Rosenkavalier abgesetzt werden muß! Otto Edelmann ist derzeit der ideale Ochs-Sänger. Sein Parlando ist perfekt, und er strahlt eine gutmütige Bauernschläue und einen gewissen ländlichen Charme aus, den man früher bei ihm nicht vermutet hätte. Schade, daß er nicht mehr im Vollbesitz seiner einst prächtigen stimmlichen Mittel ist. Aber so, wie er den Lerchenauer jetzt singt, braucht er sie eigentlich auch gar nicht. Willy Ferenz war ein durchschnittlicher Faninal, mit einer mehr lauten als schönen Stimme, doch eine Erholung nach dem vorjährigen Dönch. Ermanno Lorenzi plagte sich mit der Sängerarie wie viele prominentere Kollegen. Immerhin ist er eingesprungen, und die Fachkritik sollte ihn nicht in Grund und Boden stampfen. Allerdings sollten für eine Festspielaufführung in Salzburg wirklich nur Gedda oder Wunderlich (die beiden einzigen Sänger, die die Teufelsrolle auch tatsächlich bewältigen) gut genug sein. Die kleinen Rollen waren mit Hetty Plümacher, Renato Ercolani und Alois Pernerstorfer an der Spitze sorgfältig besetzt. Über die Regie Rudolf Hartmanns läßt sich nur das Beste sagen. Er hat nie etwas Dezenteres, Eleganteres und Vornehmers gemacht, als diesen Rosenkavalier, wobei er von Teo Otto und Ernie Kniepert (Bühnenbilder und Kostüme) auf das Erfolgreichste unterstützt wurde. Das Publikum nahm an diesem Abend mit Bedauern von einer der schönsten Strauss-Aufführungen, die man in den letzten zwanzig Jahren sehen und hören konnte.

COSÌ FAN TUTTE am 26. August Kleines Festspielhaus

Es war die letzte Aufführung dieser zauberhaften Inszenierung in den Festspielen 1964. Gott sei Dank nicht wie vorgesehen die letzte in Salzburg überhaupt. Nicht auszudenken, wenn dieser schöne Traum zum Lückenbüßer bei Schwierigkeiten im deutschen Repertoire degradiert würde mit Umbesetzungen am Laufband und Privatgags aller Beteiligten und noch dazu in deutscher Sprache in Wien! Die Salzburger Aufführungen, die jede Jahr liebevoll überholt werden, sind ein unwiederholbarer Glücksfall. Man weiß nicht, wem man zuerst den Lorbeer reichen soll, Elisabeth Schwarzkopf, deren Fiordiligi in Stimme und Spiel ganz Dame ist, Christa Ludwig mit samtweicher Stimme und den ach so liebenswerten Bewegungen des Weibchens Dorabella oder der Despina Graziella Sciuttis mit Silberklang in der Stimme und dem Gehaben des Kammer-Kätzchens. Jedes Mal aufs neue freut man sich, wenn sie bei ihrem ersten Auftritt mit „unabsichtlicher Absicht“ die Rückfront ihres entzückenden Kostüms präsentiert. Bei den Herren kann da nur Hermann Prey mithalten, dessen Stimme, zwar gehandicapt durch eine leichte Indisposition, die Geschmeidigkeit und den Stil für Mozart besitzt. Waldemar Kmentt, zwar im Spiel den anderen gleichwertig, tut sich mit den Noten des „Un’aura amorosa“ ziemlich schwer. Er ist dem Fach entwachsen und kann in anderen Partien Besseres und Vollwertigeres leisten. Im Spiel Gott sei Dank nicht auffallend, stimmlich leider nicht vorhanden, Karl Dönchs Don Alfonso. Durch ihn werden leider alle Ensembles, bei denen er klanglich das Fundament abgeben sollte, zu „Ensembles minus eins“. Karl Böhm dirigierte, die Wiener Philharmoniker spielten. Die Gelöstheit der „Abschiedsstimmung“ trug das ihre dazu bei. Und nach Ende der Vorstellung gab es Beifall und Jubel für alle Beteiligten, unter denen sich auch Regisseur Günther Rennert befand. Auf ein frohes Wiedersehen in Salzburg 1965!

 

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