DAS LIED ALS GEISTLICHE ÜBUNG
Ingrid Vogel
aus Praxis Kirchenmusik - 2/2005
Sag mir, welches Lied du singst, und ich sag dir welche Theologie und welche Spiritualität du hast!
Dieses abgewandelte Zitat – klingt es nicht sehr überheblich? Aber doch wenigstens voll von Vorurteilen? Ich will versuchen,
dieses Zitat ein wenig zu analysieren und auf seine Gültigkeit hin zu befragen.
Ich betrete die Kirche des Augustinerklosters in Erfurt, den Ort, an dem M. Luther 1501 seine Profess abgelegt hat. Die Kirche ist gesteckt voll,
etwa die Hälfte ältere Herren mit schwarzen Chormänteln, die andere Hälfte Frauen, und jüngere Männer.
Die Kirche ist erfüllt von Schweigen. Nach längerer Zeit der Stille betreten ca. 25 Männer und Frauen in Alben, 6 davon mit Stolen,
und 3 Frauen in grauen Gewändern den Chorraum. Psalmodie in deutscher Sprache wird angestimmt - die Männer und Frauen in den Alben bilden die Schola,
die Männer mit den Stolen wirken als Liturgen. Lieder aus der Zeit der Reformation, rhythmisch und zügig gesungen,
erklingen neben Liedern aus dem 20. Jh.. Viele gregorianische Stücke bereichern die Feier.
Die Evangelische Michaelsbruderschaft feiert ihr 70-jähriges Bestehen (gestiftet 1931) in dem Kloster, das von den Schwestern vom Casteller Ring,
den Frauen in grau, liebevoll mit geistlichem Leben erfüllt wird.
Ich nähere mich der Bruder Klaus Einsiedelei in der Schlucht im Flüeli.
Aus der kleinen Kapelle berühren mich Gesänge aus Taizé und andere Wiederholungsgesänge.
Eine Kontemplationsgruppe aus dem Umfeld der Berneuchener Bewegung betet das Morgengebet und verlässt dann schweigend die Kapelle.
Ich betrete die Eingangshalle im Evangelischen Theologenheim in Wien. Aus einem Studentenzimmer dringen Lobpreislieder an mein Ohr.
Die Gitarre ist elektronisch verstärkt, obwohl das Zimmer nur 15 m2 misst. Drei Studierende, die der charismatischen Gemeindeerneuerung nahe stehen,
sind neu im Haus eingezogen und halten ihren privaten Lobpreis.
Räume, Zeiten, Töne –
Sie sind Ausdruck der Spiritualität, sie prägen mindestens so sehr wie gesprochene Worte im Gebet oder in der Art und Weise,
wie unsere Bibel gelesen und Teil der geistlichen Betrachtung wird.
Der im Zusammenhang mit Meditation oft zitierte Psalm 1 – das Nachsinnen über dem Gesetz, dem Wort Gottes – war gesungenes Wort. Auch das andere Bibelwort,
das immer wieder mit Meditation in Zusammenhang gebracht wird, bezieht sich auf das gesungene Wort, den Gesang der Engel in den Worten der Hirten:
Lukas 2, 19: "Maria aber bewegte alle diese Worte in ihrem Herzen".
Das gesungene Wort trägt die doppelte Komponente von Wortinhalt und Klangton in sich. Dazu tritt der Ort, der Raum des Singens.
Da es sich dabei oftmals um liturgisch eingebundenes Singen handelt, spielen auch Zeiten und Gewänder mitunter noch eine eigene Rolle.
Gesungenes Wort, getönte Laute, gehören in allen Kulten zum Grundbestand spirituellen Ausdrucks und spiritueller Übung.
Ich wage den Versuch, den Unterschieden des Singens und der damit verbundenen Spiritualität und Theologie ein wenig nachzugehen, auch wenn mir klar ist,
dass eine Schwarz-Weiß-Malerei dabei völlig unangebracht ist, zumal fast in keiner Gruppe durchgängig nur ein Musik – und ein Liedstil gepflegt wird.
In unserem christlichen Umfeld fällt es uns ziemlich leicht, aufgrund der jeweiligen Art zu singen die Konfessionen von einander zu unterscheiden.
Römisch katholische Kirchenmusik und römisch katholisches Liedgut sind im europäischen Kontext stark geprägt von den großen
katholischen Komponisten wie Mozart, Schubert, Bruckner, und vieles von dieser musikalischen Ausprägung ist in die neuen Kirchen exportiert worden,
ergänzt von polnisch – slawischer Mentalität. Heiligenverehrung, Mariengesänge und Lieder zu den Stücken der Messe bilden den
Grundbestand im römisch katholischen Singen, wenn gleich im letzten Jahrhundert die Rezeption von Gemeindeliedern aus anderen Frömmigkeitsbereichen
auch in den Gesangbüchern Eingang gefunden haben. Das moderne Liedgut ist stark geprägt von der Spiritualität der so genannten Jazzmessen, die
ab den späten 60er Jahren mit Gitarrenklängen, Keyboard und Schlagzeug vor allem die Jugendmessen bereicherten. Die Texte dieser Lieder spiegeln das
neu entdeckte Gemeinschaftsbewusstsein nach dem Vatikanum II wieder.
Der orthodoxe Gesang in getragener Mehrstimmigkeit ist ebenfalls leicht zu erkennen,
in der jeweiligen Landessprache mitgeprägt von der örtlichen Musikkultur.
Auch die typischen anglikanischen Hymns können wir meist mühelos zuordnen. Sie haben ihre Verbreitung nicht nur in der High Church gefunden sondern
sind in allen aus dem angloamerikanischen Raum verbreiteten christlichen Gruppen und Kirchen sehr beliebt.
Natürlich gibt es einen Austausch an geistlichem Liedgut, der besonders in den letzten 50 Jahren konfessionsübergreifend neue Impulse für das
Singen gebracht hat. Aber auch, wenn römische Katholiken heute Lutherlieder singen und wir in unserem deutschsprachigen Evangelischen Gesangbuch Lieder
von Maria Luise Thurmair ( z.B. das Lied 227: "Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben") und orthodoxe Gesänge (das "Halleluja"
aus Kiew 181.4 oder das "Agios o Theos", 185.4) finden, dann bleiben das Anleihen an eine ursprünglich fremde Spiritualität. Man
könnte diese Übernahmen vergleichen mit Fremdworten und Lehnworten in einer anderen Sprache, der fremde Stamm bleibt bei aller Adaption erkennbar.
Aber auch innerhalb unserer lutherischen Tradition gibt es gewaltige Unterschiede in der Übung des Singens.
In unserem Evangelischen Gesangbuch, dem EG, das im Bereich der EKD, der Evangelischen Kirchen A.B. und H.B. in Österreich und im Elsaß
Gültigkeit hat, ist die Liedkunde in VI Zeitabschnitte geteilt. Schon dabei ist es möglich, unterschiedliche Spiritualitäten mit den
verschiedenen Epochen zusammenzubringen.
Wie bereits in der eingangs erwähnten Begegnung beschrieben, singen liturgisch stark geprägte Gruppierungen oft gregorianische Melodien. Ja der
gregorianisch gesungene Psalm ist eine eigene Meditationsübung, eine eigene spirituelle Übung, die auch losgelöst von liturgischen Feiern
ihren Stellenwert hat. Der rhythmische Wechsel vom Beten eines Verses und dem nachhörenden Mitschwingen wenn die andere Gruppe oder Schola singt,
geschieht im ruhigen Fluss des Atems. Ausatmen und Einatmen lassen die Worte in die Tiefe des Herzens sinken. Durch diese körperliche Komponente ist
der Psalmgesang eine schon seit Jahrhunderten geübte und jetzt wieder entdeckte Form der Meditation im Leib. Die Ganzheitlichkeit, die gerade in neuen
Formen spiritueller Übung so sehr betont wird, ist in dieser uralten Gebetspraxis schon längst vorgezeichnet. Wiederholtes Beten derselben Psalmen,
z.B. des Wochenpsalms, oder besonders der Kompletpsalmen, ermöglicht das kontemplative Einschwingen in den Wortklang, wodurch die Atmosphäre eines
Psalms, die innere Gestimmtheit der Worte unabhängig von der Bedeutung des Einzelwortes ihre Wirkung hinterlassen. In unserem EG finden wir diese so
genannten Tagzeiten – oder Stundengebete unter den Nummern 783 – 786, sie waren auch im EKG im Anhang abgedruckt.
Auch aus der Gregorianik entspringende Gemeindegesänge der frühen und der mittelalterlichen Kirche (ich erinnere an "Nun komm, der Heiden
Heiland", Nr.4,n nach einem Gesang des Kirchenvaters Ambrosius und an das Veni Creator Spiritus des Hrabanus Maurus, das Luther umsetzt in "Komm,
Gott Schöpfer, Heiliger Geist", 126), sowie die kraftvollen Lieder der Reformationszeit erfreuen sich großer Beliebtheit in diesem spirituellen
Umfeld. ("Erhalt uns Herr, bei deinem Wort" 193). Das traditionelle Luthertum stellt sich den kantigen und theologisch herausfordernden Formulierungen
der Texte, die immer sehr nahe am biblischen Wort und am Katechismus sind. Dazu zählen natürlich besonders die Lieder Luthers selbst, der den ganzen
Kleinen Katechismus ins Lied gesetzt hat: z.B. "Dies sind die heilgen zehn Gebot", "Vater unser im Himmelreich", "Wir glauben all an
einen Gott", aber auch das Tauflied: "Christ, unser Herr zum Jordan kam", das im EG nicht mehr aufgenommen wurde. Die Bitte um die Erhaltung der
Kirche, wie sie in der frühen Orthodoxie in den Vordergrund tritt, ist ebenfalls ein wesentliches Anliegen reformatorischen Singens. (Hier her gehören
Namen wie: Becker, Nicolai, Ringwaldt, Selnecker)
Bei uns in Österreich können wir dann eine spezielle spirituelle Richtung ausmachen, die von den so genannten Toleranzgemeinden gelebt wird. 1781
wurde diesen Gemeinden durch das Toleranzpatent Josef II die Möglichkeit zur Gemeindegründung gegeben. Heute liegen diese Gemeinden meist abseits
des großen Verkehrsstromes. Eine stark ländlich geprägte Bevölkerung singt, was man immer schon gesungen hat, und das waren die großen
Lieder aus der Gegenreformation und der Zeit des Bekennerliedes aus dem dreißigjährigen Krieg. Große Namen stehen für diese Zeit: Gerhardt,
Crüger, Ebeling, Olearius, Neumark, Heermann. (Schaibergers Lied: "Ich bin ein armer Exulant", im österreichischen Anhang unter 625, gibt in
besonderer Weise Zeugnis von dieser harten Zeit) Die oft kunstvollen Vers- und Strofenformen sind bei dem mitunter sehr getragenen Gesang nicht immer erkennbar.
War es bei uns in Österreich vor allem der Wunsch, sich der inneren Gemeinschaft der Evangelischen zu vergewissern und gegen den römischen Katholizismus
entschieden bekennend aufzutreten, so hatte das Liedgut dieser Zeit in Siebenbürgen die Aufgabe, sich durch die Leiden der Vorväter zu trösten und
zu stärken in den jeweiligen kritischen Situationen in diesem Land. Auch als viele Siebenbürger Sachsen im Zuge der Ereignisse des 2. Weltkrieges nach
Österreich kamen, nahmen sie diese Lieder in ihre Aussiedlergemeinden mit. Oft waren sie in älterer Text- oder Melodiegestalt erhalten geblieben als in
unseren westlichen Gemeinden, die immer wieder neue Gesangbücher herausgegeben hatten. Auch in anderen Aussiedlergemeinden z.B. von Russlanddeutschen, u.s.w.
hat das Liedgut aus der Hochblüte protestantischen Liedschaffens seinen festen Platz; meist sehr langsam und getragen mit fester Bekennerstimme gesungen.
Das pietistische Lied lebt besonders in jenen Gemeinschaften weiter, denen diese individuelle Frömmigkeitsrichtung wichtig geblieben ist. Das sind die
Gemeinden der landeskirchlichen Gemeinschaften in Deutschland, das sind vor allem im Württembergischen angesiedelte Kirchgemeinden, das sind z.T. Gruppen
der Volksmission, das sind aber auch aus der Kolonialzeit geprägte Gemeinden in Übersee (wie wir Europäer sagen). Die mystische Tiefe z.B. eines
Tersteegen bereichert die spirituelle Erfahrung in diesen Gruppen und Gemeinden bis heute. E inige der Lieder gehören aber auch zum festen Repertoir jeder
durchschnittlichen evangelischen Gemeinde: z.B. "Gott ist gegenwärtig", 165, oder Zinzendorf: "Herz und Herz vereint zusammen"
Wie bereits zur Zeit ihrer Entstehung sind die Lieder der Orthodoxie eher unter Gebildeten beliebt. Neben dem Liedgut aus der Aufklärung haben sie einen
festen Platz im Feiern der liberalen Theologen. Je nach musikalischem Interesse und Können wagen sich liberal geprägte Gemeinden an die musikalisch
anspruchsvolleren Melodien aus der Barockzeit oder eher an die einfacheren isorhythmischen Weisen, denen meist eine ganze Reihe an Texten unterlegt werden kann.
Für mich ist es immer wieder erstaunlich und widersprüchlich, dass sich gerade das kritische Denken der liberalen Theologie oft mit so moralisch
geprägten Worthülsen zu identifizieren scheint oder zumindest mit sehr Traditionellem zufriedengibt. Vielleicht aber ist es eben auch ein Ausdruck
einer gewissen Geringschätzung der singenden Spiritualität in der eher verkopften Theologie, sodass man einfach Bewährtes auf diesem Gebiet
reproduziert. Neben dem aufgeklärten Lied finden wir im Umfeld dieser Theologie insbesondere auch Lieder aus der Zeit des Widerstandes im 20. Jahrhundert.
Darunter sind natürlich die Texte von Bonhoeffer und Klepper, wie z.B. "Der du die Zeit in Händen hast", 64 und "Von guten
Mächten", 65.
Das Lied der Romantik erfreut sich im europäischen Westen derzeit nicht größter Beliebtheit. In den lutherischen Kirchen des ehemaligen Ostblocks
sind die romantischen Lieder allerdings weiterhin fixer Bestandteil im gottesdienstlichen Leben. Bei den Methodisten werden diese Lieder ebenfalls gerne gesungen.
Die blumige Sprache und die gefühlvollen Formulierungen aus den nationalen Erweckungsbewegungen versuchten das kirchliche Bekenntnis im Missionslied neu
auszusprechen, was missionarisch tätigen Kirchen und Gruppen bis heute in ihrem eigenen Singen wesentlich ist. So ergänzen oft Lieder aus dem
anglikanischen Raum die Liedspiritualität dieser Gemeinschaften. Auch presbyterianisch geprägte Gemeinden, die in der Missionszeit gegründet
wurden, z.B. in Ghana, singen diese Lieder nach. Sie haben damit die eigenständige Form des Musizierens in diesen Ländern oft gänzlich verdrängt.
Dazu kam, dass Trommelrhythmen als heidnisches Relikt betrachtet wurden, und somit aus den Kirchen verbannt werden mussten. Erst in den allerletzten Jahrzehnten hat
eine gewisse Aufklärung in den afroasiatischen Gemeinden dazu geführt, dass man sich auf das eigene Kulturgut besinnt und langsam beginnt, auch
eigenständige musikalische Ausdrucksformen für die eigene gewachsene Spiritualität zu finden.
Die Jugend-, Sing- und Orgelbewegung setzte am Beginn des vorigen Jahrhunderts neue Impulse im geistlichen Leben. Die kommunitäre Bewegung hat dort ihren
Ursprung genauso wie die Liturgiebewegung und die Erneuerung gottesdienstlichen Lebens. Eine Lutherrenaissance, die Wiederentdeckung der Gregorianik und ein neues
Singen, auch im Kanon, prägen Gruppen, die aus der Jugendbewegung hervorgegangen sind bis heute. So die oben genannte Evangelische Michaelsbruderschaft, die
Schwestern vom Casteller Ring, die ihre Wurzeln in der frühen Pfadfinderbewegung haben, und viele andere. Lahusen, Mahrenholz, Micheelsen, Stier, und weitere
bekannte Komponisten und Dichter repräsentieren diese Epoche.
Das 20. Jh ist dann geprägt vom Kirchenkampf. Deutsche Christen und Bekennende Kirche haben entsprechend ihrer unterschiedlichen politischen Einstellung auch
unterschiedlich gesungen. Haben die Deutschen Christen vor allem regimekonform alttestamentliche Lieder von allen jüdischen Anklängen gereinigt so hielt
die Bekennende Kirche am reformatorischen Singen fest und brachte neue eigene Lieder hervor. Für viele traditionellere Gemeinden sind dies die modernsten
Lieder, die sie in ihren Gottesdiensten singen.
Erst in der 2. Hälfte des 20. Jh. hat das ökumenische Singen an Bedeutung gewonnen. Nicht nur theologisch war die Ökumene wichtig geworden, auch
spirituell versuchte man Annäherungen zu leben. Wie bereits erwähnt wurden nun in den jeweiligen Gesangbüchern Lieder der anderen Konfessionen
aufgenommen. Unser EG ist diesem Trend entgegengekommen indem es "ökumenische Fassungen" von vertrauten Liedern neben die altgewohnten evangelischen
setzt: z.B. "Sonne der Gerechtigkeit", 262 und 263, "Lobe den Herren, den mächtigen König", 316 und 317.
Einen wichtigen Impuls zum ökumenischen Singen brachte Taizé. Das Konzil der Jugend, das Kontemplation und Aktion zum Programm erhob, erleichterte die
Zusammenschau einer Gerechtigkeit aus dem Werk und aus der Gnade. So sind es vor allem Junge und Junggebliebene, die aus der Spiritualität von Taizé
leben. Die vielen Wiederholungsgesänge, die eine neue Form des meditierenden Singens ermöglichen, haben Eingang gefunden in der Praxis der Meditation im
römisch katholischen wie im lutherischen Bereich. Das ruminierende Singen, bei dem es möglich ist, sich ganz in den Wortklang fallen zu lassen, ohne das
einzelne Wort kognitiv mitzudenken, nimmt Elemente des Rosenkranzes ebenso auf wie die alte Tradition des ostkirchlichen Herzensgebets. So beleben diese Gesänge
die Praxis des Herzensgebets auf eine neue Weise. Oft sind es auch ökumenisch zusammengesetzte Gruppen, die sich der Spiritualität von Taizé
öffnen oder eben gemeinsam den Weg der Kontemplation gehen. Darüber hinaus haben sich einige der Ordinariumsgesänge von Taizé eine festen
Platz in manchen lutherischen Gemeindeliturgien erobert.
In den jungen geistlichen Bewegungen hat der von mir abgewandelte Sinnspruch, dass das Lied Rückschlüsse auf die Theologie zulässt, eine leicht zu
überprüfende Bedeutung.
Wie ich es von den drei Studierenden beschrieben habe, singen die Anhängerinnen und Anhänger der charismatischen, geistlichen Gemeindeerneuerung fast
ausschließlich "ihre" Lieder. Meist sind sie vom Text theologisch flach, das "einfache Evangelium" wie es Superintendent R. Schwarz in
seinen Büchern über Gemeindeerneuerung nannte, wird angeboten, oder auf eine schlichte Formel gebracht: "Jesus liebt dich". Unüberhörbar
sind in diesen Liedern auch adhortative Formulierungen, die oft moralisierend wirken oder eben Spiegel einer fundamentalistischen Bibelauslegung sind.
Musikalisch sind sie sehr oft nur von Tonika und Dominante geprägt, somit leicht zum Mitsingen, oft kann man auch ohne Probleme eine zweite und dritte Stimme
dazusingen. Einen gewissen Pfiff bekommen sie einerseits durch die Begleitung mit elektronisch verstärkter Gitarre oder Keyboard, andererseits – und das gilt
natürlich jetzt nur für den deutschsprachigen Raum – dadurch, dass die deutschen Texte mit amerikanischem Akzent gesungen werden. Darin spiegelt sich der
Ursprung der Gemeindeerneuerungstheologie im angloamerikanischen Raum. Bei uns sind die meisten dieser Gruppen gegründet oder zumindest begleitet von Menschen,
die aus den USA kommen. Theologisch sind diese Gruppen, die sich oft in freien Gemeinden oder aber auch nur in losen Gebetsgruppen organisieren, mitunter stark von
den Baptisten geprägt.
Daneben steht das sowohl vom Text als auch von der Melodie höchst anspruchsvolle neue geistliche Lied. Das Wort, die zeitgemäße Auslegung biblischer
Texte, die Betonung theologisch formulierter Einsichten, sie prägen diese neuen Lieder, die oft synkopierte Weisen haben mit schwierigen melodischen
Sprüngen. So sind diese neuen Lieder zum Gesang musikalisch gut gebildeter lutherischer Gemeinden geworden. (z.B. "Es wird sein in den letzten
Tagen", 426; "Die ganze Welt hast du uns überlassen", 360; O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens", 416; "Das
Kreuz ist aufgerichtet", 94) Bei der Jugend finden diese Lieder oft wenig Echo, da sie sie nicht als modern in ihrem Sinn verstehen – es ist eben moderne
E-Musik und keine U-Musik.
Dieser stehen eher noch einige der Kirchentagslieder nahe, moderne Kirchenschlager, die sich als Ohrwürmer in die Herzen singen und die Kirchentagsgemeinde
seit vielen Jahren begleiten. Auch dies ist eine eigene Zielgruppe mit einer eigenen Spiritualität, die sich alle zwei Jahre auflädt. Nur wenige dieser
Lieder sind zum Standardrepertoir der Durchschnittsgemeinden geworden.
Kritische Jugendgruppen und begeisterungsfähige Schülergruppen singen die Lieder der Umweltbewegungen und der Friedensinitiativen. In den 70er Jahren
entstanden diese Lieder unter dem Einfluss des Berichts des Club of Rome, im Zusammenhang mit Antiatomkraftinitiativen und der Friedensbewegung. So wesentlich
das Wort bei diesen Liedern ist, so sehr sind sie meist auch melodiebetont.
Auch von den Kirchentagen her geprägt ist die geistliche Musik am Rande esoterischer Klänge, wie Hufeisen. Viele der Texte stammen von Jörg Zink,
und in letzter Zeit auch von Anselm Grün, die es beide verstehen, biblische Inhalte in einer Sprache von heute auszudrücken. Diese Lieder sprechen vor
allem Menschen mittleren Alters an, also jene, die sich eben auch mehr oder weniger hingezogen fühlen zu Phänomenen am Rande unserer lutherischen
Tradition. Dies sind allerdings keine Gemeinschaftsgesänge, ganz individuell sind sie Musik zum Zuhören und bestenfalls Mitsummen.
Das geistliche Lied war immer von Spiritualitäten geprägt und umgekehrt hat es selbst wieder Spiritualitäten hervorgebracht und beeinflusst.
Das war schon im Alten Testament bei den Psalmen so, die z.T. unerhörte politische Sprengkraft in sich haben. Das war aber besonders so bei den Spirituals,
die oft in alttestamentlichen Bildern die Unterdrückung der Schwarzen in Nordamerika umschrieben, die politisch brisant mit Chiffren biblischer Bilder zum
Kampf und zum Durchhalten ermutigten, gegründet auf ein tiefes und fast unerschütterliches Gottvertrauen. Viele Elemente der Spirituals haben Eingang
gefunden in die spätere geistliche Lieddichtung, in Rhythmus und Melodien nicht nur der Gospels.
Spiritualität braucht Orte und Zeiten und Formen. Wenn wir heute in unseren Kirchen von Spiritualität reden, dann meinen wir Ausdrucksformen,
Lebensformen des Glaubens im Alltag dieser Welt. In der Endlichkeit unseres Seins eingebunden brauchen wir Raum und Zeit, um unsere Frömmigkeit zu leben.
Das geistliche Lied ist eine der Ausdrucksformen spiritueller Übung.
Möge Gottes Heiliger Geist, sein Spiritus Sanctus, geben, dass unser Singen und Beten an allen Orten und zu allen Zeiten zu Gottes Ehre geschehe, soli Deo Gloria.
Das Lied als geistliche Übung (109KB)