GANERCS TRÄNEN

oder:

Die letzte Puppe

 

 

Eine Erzählung aus dem Perry Rhodan-Universum.

Mit einer Verbeugung vor »Don« Willi Voltz
– wo immer Du bist ...




 

 

Die Hauptpersonen der Geschichte:

 

Ganerc–Alaska – Dem Puppenspieler ist zum Heulen zumute.

Die achte Urpuppe – Sie ist mächtiger als die Mächtigen.

Don Willi – Ein Abgesanter von »über den Materiequellen«.

 

 

Er war einer der sieben Mächtigen gewesen – wenn auch der kleinste. Er war unsterblich gewesen – und hatte das Altern kennengelernt. Er war der Herr der Puppen gewesen und hatte sie alle – bis auf eine, nein, zwei – verloren.

Die kleine, gebeugte Gestalt stand in der Dämmerung des abgelegenen Planeten Derogwanien und warf einen monströsen Schatten über die menschenleere Landschaft. Die puppenleere Landschaft. Die fast puppenleere Landschaft.

Er war der letzten, nein, der vorletzten Puppe aus der verwaisten Stadt bis hierher an den Fluß gefolgt, im Abstand von wenigen Metern, einem sentimentalen Drang nachgebend, für den er sich haßte. Als ob er es nicht schon oft genug gesehen hätte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten: Wie sie hinausgegangen waren aus der Stadt, sporadisch, vereinzelt – und doch unaufhörlich. Wie sie querfeldein zum Fluß hinuntergestakst waren, auf dem keine Boote mehr schaukelten, an dem es keine Stege mehr gab. Wie sie im Lauf ihres gespenstischen und langwierigen Exodus einen regelrechten Pfad ausgetreten hatten – den »Pfad der Tränen«. Wie sie noch kurz am Fluß gestanden hatten, mit seltsam knackenden Gelenken und einem verlorenen Blick hinauf zu den Bergen, an deren Hängen die verwitterten Überreste von umgestürzten und zertrümmerten Statuen den Weg zum erloschenen Zeitbrunnen markierten.

Und wie sie dann ... wie sie dann für immer gegangen waren. Eine nach der anderen. Wie ferngesteuerte Marionetten. Wie terranische Lemminge. Seine Puppen, denen er seine Seele gegeben und seine Unsterblichkeit geopfert hatte.

Nun waren sie unwiederbringlich fort – bis auf diese letzte, diese vorletzte dort vorne am Fluß, dessen düsteren Ufern mehr und mehr Nebel entstieg, kalter Nebel, der die Berge und den »Pfad der Tränen« hinaufkroch, der durch ihn selbst hindurchkroch und von der verlassenen Stadt in seinem Rücken Besitz ergriff.

Die Puppe am Fluß schwankte leicht im Wabern der Nebelschwaden. Sie hob den Kopf, zeitlupenhaft langsam, und richtete den Blick hinauf in die Berge. Außer einem gelegentlichen Klacken ihrer Arm- und Beingelenke gab sie keine Geräusche von sich. Und dann, ruckartig und plötzlich, trat sie zwei Schritte vor und setzte ihrem aufgepfropften, ihrem geborgten Leben ein Ende.

Sie sprang nicht. Sie fiel nach vorne, schlug mit einem unspektakulären Platschen auf dem Wasser auf – und sank. Kein Zucken und Zappeln, ein Schemen nur, der schnell verschluckt wurde, ein Rattenschwanz blubbernder Luftblasen, konzentrisch verebbende Ringe auf der Oberfläche, dann nichts mehr: Tod einer Puppe.

 

*


 

Er war einer der sieben Mächtigen gewesen – wenn auch der kleinste. Er war der Wächter des Schwarms gewesen und hatte die Galaxien durchstreift. Er hatte die Zeiten durchstreift – und saß nun seit lächerlich kurzen und unsäglich langen Jahrzehnten auf diesem Planeten fest. Derogwanien lag in kosmischem Ödland. Im Umkreis ungezählter Lichtjahre gab es keine technischen Hochzivilisationen, keine galaktischen oder intergalaktischen Handelsrouten, keine vorgeschobenen Außenposten und Forschungsstationen. Nicht einmal Robotsonden oder Hyperfunkrelais schickten ihre einsamen Signale durch die schütteren Spiralarme dieser entlegenen Galaxis. Derogwanien lag in einem toten Winkel der Evolution – und als es ihn hierher verschlagen hatte, kurz vor seiner Verbannung aus dem Verbund der Zeitlosen, war ihm das durchaus recht gewesen.

Die kleine, gebeugte Gestalt stand am Fluß – am abrupten Ende des »Pfads der Tränen« – und fröstelte. Sie war die letzte Puppe. Sie war Ganerc-Alaska.

Der Puppe, in der die Reste seines Über-Ichs hausten, den Namen »Alaska« zu geben war einer der galligen Scherze des ehemals Mächtigen gewesen. Vor Zeiten hatte Alaska Saedelaere, der Mann mit der Maske, einen herrenlosen Hund – einen entsetzlich herrenlosen Hund auf der zur Gänze entvölkerten Erde – nach ihm benannt. Solo come un cane, dachte Ganerc-Alaska mit bitterer Belustigung in einer der zahlreichen altterranischen Sprachen, die ihm geläufig waren. Schließlich hatte er das alte Terra, das auf dem Hochplateau von Tiahuanaco über einen eigenen – jetzt erloschenen – Zeitbrunnen verfügte, im Lauf der Jahrtausende viele Male nach geeigneten »Wächtern« und »Suchern« durchkämmt. Nun, die Suche war glücklos beendet, und Wächter wurden nicht mehr benötigt, weder solche, die nach dem »Anzug der Vernichtung« Ausschau hielten, noch irgendwelche mehr oder weniger freiwilligen »Wächter des Schwarms« – wie er selbst einer gewesen war.

Oder: Sie wurden benötigt, aber woanders. Oder: anderwann.

Der RUF erging nicht mehr an ihn und seinesgleichen (sofern seinesgleichen überhaupt noch existierten). Vielleicht erging er gar nicht mehr. Vielleicht war dieser Teil des Multiversums von den Mächten jenseits der Materiequellen einfach aufgegeben worden – wie eine nachlässig betriebene Liebhaberei, eine kurzfristige Zerstreuung am faulen Sonntagnachmittag der Schöpfung.

 

Hier auf Derogwanien war es nicht Nachmittag, sondern Abend, und der Abend zeigte eine ausgeprägte Schlagseite zur Nacht. Drei der fünf Monde waren bereits aufgegangen und übergossen das nebelverhangene Flußtal mit einem unwirklichen, silbrigen Licht. Wenn Ganerc-Alaska sich umdrehte, wirkte der Nebel wie ein steigendes Meer, das über die verlassene Puppenstadt mit ihren hohen Giebeln und filigranen Erkern hinwegschwappte. Einige der spitzen Dächer ragten als enorme Haifischflossen aus der silbergrauen Flut, die weit entfernte Kuppel des »Ideellen Zentrums«, in der noch immer die Überreste der Callibso-Puppe lagen, glich dem Buckel eines wuchtigen Wals, und hie und da erhob sich die schmale Silhouette eines der wenigen Türme, die dem Wüten der sieben Urpuppen entgangen waren, wie der gesplitterte Mast eines untergegangenen Segelschiffes: Abenddämmerung auf Derogwanien. Puppendämmerung.

Ganerc-Alaska wandte sich wieder dem Fluß zu und wischte sich mit den klammen Fingern seiner sechsfingrigen Hand über den weißen Spitzbart, auf dem ein feuchtes Kondensat des Nebels im Licht der Monde glitzerte. Der Bart reichte seinem gnomenhaften, nur etwa einen Meter großen Puppenkörper bis fast zu den Füßen. Aus irgendeinem düsteren Grund hatte Ganerc allen Puppenkörpern, die er schon bewohnt hatte – oder bewohnen hatte müssen –, das groteske Aussehen jener einen Puppe gegeben, jener unglückseligen Puppe namens Callibso, die seinen echten Körper, den hünenhaften Körper eines Mächtigen, erschlagen hatte. Ganerc-Alaska trug den Zylinder, den er schon als Ganerc-Callibso getragen hatte. Er trug einen Schal um die Hüfte. Und er trug eine Kunststoffmaske im Gesicht, die er nicht brauchte und die ihm dennoch das Gefühl gab, auf eine subtile und sicher auch etwas abwegige Weise mit zumindest diesem einen Gefährten aus seiner Vergangenheit verbunden zu sein.

Obwohl gerade Alaska Saedelaere einer der Hauptverursacher seines Unglücks gewesen war. Damals, als er ihm den »Anzug der Vernichtung« zurückgebracht und aus purer Nachlässigkeit die mordlüsterne Callibso-Puppe aktiviert hatte, während sein eigener Körper seelen- und wehrlos zwischen den Statuen und Säulen am Zeitbrunnen gelegen hatte.

Ermordet von seiner Lieblingspuppe. Gezwungen, im Körper seines Mörders weiterzuleben. Und endlich gezwungen (nun ja, vielleicht nicht gezwungen, sondern ... sondern durch sein Gewissen genötigt), in allen Körpern aller seiner Puppen zu leben. Um Sühne zu tun. Um dem zerstörerischen Sog, in den die sterile und sinnentleerte Puppenzivilisation geraten war, entgegenzuwirken. Um seinen Geschöpfen eine halbwegs erfüllte Existenz zu ermöglichen, eine Existenz freilich, die ausnahmslos in einen traurigen Tod durch Ertrinken mündete.

Der ehemalige Puppenspieler starrte in das Wasser und fühlte sich von seinem ruhigen, fast lautlosen Fließen wie magisch angezogen.

Es ist Zeit, flüsterte es in seinem Gehirn. Zeit zu gehen. Zeit, nach Hause zu kommen. Ganerc hielt die mentale Stimme für seine eigene. Er wußte plötzlich sehr gut, weshalb er hierher an den Fluß gekommen war: Er würde seinen Puppen folgen. Er würde sich entleiben. Entpuppen. Ganerc-Alaska lachte bei diesem Gedanken lustlos auf. Nicht, daß er ernsthaft daran glaubte, sowas wie ein Schmetterling zu werden. Ein Seelenschmetterling vielleicht. Nein, dachte er, absurde Idee. Die verzweifelte Idee eines Sterblichen – der er war.

Ganerc spürte, daß beim Tod der letzten, der vorletzten Puppe etwas mit ihm geschehen war – so wie beim Tod aller Puppen zuvor. Das letzte Bewußtseinsfragment war zu ihm zurückgekehrt. Und dennoch würde der Rest der Mentalenergie, die er einst auf seine Puppenzivilisation aufgeteilt hatte, nicht mehr ausreichen, um sich aus dem einzigen übriggebliebenen Puppenkörper zu befreien – auch wenn er einige seiner früheren Fähigkeiten wiedererlangt hatte. Das mechanische Leben der Puppen hatte zu viel von seiner Lebenskraft aufgezehrt. Er konnte die verhutzelte Gnomengestalt, in der sein Über-Ich gefangen war, nicht mehr verlassen – und er hätte auch den Zeitbrunnen nicht mehr aktivieren können, um zumindest von Derogwanien wegzukommen.

Der Zeitbrunnen. Das Tor durch die Dimensionen. Das vielverzweigte Wurmloch ohne Anfang und Ende: Erloschen. Außer Betrieb. Dichtgemacht von den selbstgerechten Mächten jenseits der Materiequellen.

Ganerc-Alaska sah zu den Bergen hinauf, nahm geistesabwesend seinen Zylinder ab und holte ein kleines Gerät daraus hervor. Er hielt seine nachtsichtigen Augen weiter auf den geschwungenen Pfad gerichtet, der zum Zeitbrunnen hochführte, während er das handtellergroße Gerät bediente. Zwischen den Bergen und dem Fluß begann die Luft stellenweise brüchig zu werden und regelrecht aufzureißen – was nichts mit den herumvagabundierenden Nebelfetzen zu tun hatte. Der Raum selbst begann sich zu verändern: Er faltete sich, und Augenblicke später war die Entfernung zwischen dem Fluß und einer bestimmten Stelle in den Bergen auf wenige Schritte zusammengeschrumpft.

Ganerc-Alaska trat vor und stand an der dunklen Öffnung des Zeitbrunnens. Das heißt: Von einer Öffnung konnte nicht mehr die Rede sein. Was da in einer von zerborstenen Säulen und den Trümmern archaischer Statuen umstandenen Senke lag, war eine kreisrunde Fläche von etwa 20 Meter Durchmesser. Sie wirkte spiegelglatt, aber sie reflektierte nichts. Sogar das Licht der inzwischen vollzählig am Himmel versammelten Silbermonde wurde von der finsteren Scheibe restlos verschluckt. Der Zeitbrunnen war kein Durchgang mehr, sondern eine Art kosmischer blinder Fleck in einer Farbe jenseits von Schwarz: Erstarrte Zeit. Gefrorene Zeit.

Ganerc-Alaska, der durch eine vorübergehende Verzerrung der Raumtiefe mit einem einzigen Schritt vom düsteren Ufer des Flusses an den Rand des erloschenen Zeitbrunnens gelangt war, schüttelte sich, als ihm ein dünner Wind in die Kleider fuhr. Sein runzeliges, für gewöhnlich krebsrotes Gesicht unter der sonderbaren Kunststoffmaske wurde weiß vor Trauer und Wut.

»Kemoauc«, murmelte Ganerc-Alaska, während er den toten, den tauben Brunnen, wenn schon nicht mit den Augen so wenigstens mit seinem PSI-Organ zu durchdringen versuchte, »mein Bruder – wo bist du?« »Alaska«, sagte er lauter, »mein törichter Freund.« Und dann ballte der einsame Zwerg die winzigen Fäustchen und brüllte seinen ganzen ohnmächtigen Zorn in die heillose Stille des nächtlichen Derogwanien. »Ihr Mächtigen jenseits der Materiequellen!« brüllte er. »Ich verfluche euch!«

 

Er erwartete keine Reaktion – woher denn auch? Und dennoch geschah etwas. (In Wahrheit, so würde er später erkennen, geschah nichts: Ein Nichts ...) Das Echo seiner Worte war noch nicht verhallt, als sein PSI-Organ unter der Wucht einer plötzlichen Anwesenheit zusammenzuckte. Etwas, eine Intelligenz, hatte ihn wie ein klebriges Spinnennetz gestreift, bevor er seinen mentalen Tastsinn zurückziehen konnte, und im selben Moment begann die Oberfläche des Zeitbrunnens transparent zu werden. Von innen her. Von unten. Oder aber: Von  draußen.

»Gut gebrüllt, greiser Zwerg Ganerc«, flüsterte es in seinem Gehirn, »aber glaubst du, sie werden dich hören?«

Diesmal war es sicher nicht seine eigene Stimme, die da sprach. Ganerc-Alaska war wie erstarrt. Fassungslos blickte er auf den gerade noch völlig undurchlässigen Brunnen, der sich stellenweise zu kräuseln begann. Hie und da blitzte ein Stern in der Tiefe auf, das verschwommene Abbild einer Galaxie, das flüchtige Irrlicht einer Supernova. Der Brunnen, so erkannte er, taute auf! Und nun schob sich auch noch ein gewaltiger Schemen an die Oberfläche. Die zähe Raumzeit zerrann, der dunkle Schlund brach auf, und aus dem Zeitbrunnen erhob sich – eine Puppe.

Es war eine riesige Puppe. Und: Es war keine Puppe mit Gliedern und Gelenken, wie es seine eigenen gewesen waren. Das enorme, annähernd birnenförmige Ding zeigte nur andeutungsweise die Züge eines humanoiden »Yug«-Wesens. Es war eine grob vereinfachte, dreidimensionale Schablone, ein Anriß nur, der die menschenartige Grundkontur mehr nach innen hin versteckte als offen zeigte.

Ganerc erinnerte sich: Das alte Terra, eine Provinz namens »Rußland«, lange bevor Perry Rhodan ins All aufgebrochen war, lange vor der »Kosmischen Hanse« und der »LFT«. Diese Puppen hatten »Matroschkas« geheißen. Nur, daß sie aus glattpoliertem, bunt bemaltem Holz und ungleich kleiner gewesen waren. Und daß sie nicht gelebt hatten.

Die Aura der Riesenpuppe war erdrückend. Er hatte den Eindruck, mental in den Schwitzkasten genommen zu werden, in einen geistigen Klammergriff. Ganerc machte die Verfaltung des Raumes rückgängig und zog sich fluchtartig und distanzlos an den Fluß zurück.

Oben in den Bergen war ein gedämpftes Rumoren zu hören, und dann erschien der Umriß der monströsen, graphitgrauen Puppe am Rand der Senke, in der er sich gerade noch befunden hatte. Der Puppenkoloß hob sich in einer milchigweißen Korona gegen den sternenarmen Nachthimmel ab, neigte sich plötzlich nach vorne und kippte entschlossen und tatkräftig in die Tiefe. Er rollte und polterte den felsigen Abhang hinunter, übersprang dabei mehrmals in mächtigen Sätzen den serpentinenförmigen Pfad, bog am Fuß der Berge in Richtung Fluß ab und steuerte direkt auf die kleine Gestalt zu, die verloren an seinem Ufer stand.

Ganerc-Alaska ahnte: Was da so wuchtig und unwuchtig zugleich auf ihn zukam, stammte nicht aus diesem Universum. Zumindest war es nicht an dieses Universum gebunden, sondern – er fragte sich irritiert, wie er auf diesen Gedanken kam –, sondern umgekehrt. Das Ding flog in einem hohen, die Schwerkraft Derogwaniens ignorierenden Bogen über die Ebene vor der Stadt, kam auf, überschlug sich ein letztes Mal, krachte vor Ganerc-Alaska senkrecht in den Boden – und schmunzelte. Jedenfalls vermittelte der ungegliederte, augen- und mundlose Kopf der fünf oder sechs Meter hohen Puppe, über den dennoch ständig eine Ahnung verschwommener Gesichtszüge geisterte, genau diesen Eindruck.

 

Und dann sprach die Monsterpuppe – in der Sprache der Mächtigen und, wie es schien, mit ihrem gesamten Körper.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie, »ich will dich nur trösten.«

»Wer bist du?« fragte der ehemals Zeitlose. »Was bist du?«

»Du kannst mich die achte Urpuppe nennen«, sagte die Puppe, und Ganerc kam es erneut so vor, als ob eine Art Lachen über ihre matt schimmernde Oberfläche irisierte.

»Die Urpuppen waren meine Geschöpfe!« protestierte er. »Ich habe sie erschaffen. Dich habe ich nicht erschaffen!«

»Natürlich nicht«, sagte die Puppe beschwichtigend, fast mitleidvoll und schien mit einem Mal  zu wachsen. Nein, sie teilte sich. Dort, wo bei Humanoiden der Bauch gewesen wäre, klaffte jetzt eine horizontale Spalte, die sich rasch vergrößerte. Der obere Teil der Puppe schwebte in die Höhe, verlor dabei gleichzeitig an Konsistenz und löste sich endlich völlig auf, während darunter das exakte, aber deutlich kleinere Ebenbild der Puppengestalt zum Vorschein kam, die sich auch um den Unterleib herum aufgelöst und verjüngt hatte.

»Natürlich hast du mich nicht erschaffen«, sagte die Puppe. »Ich wachse aus mir selbst. Von Anfang an wachse ich aus mir selbst. Ich wachse aus dem, was verfällt. Aus allem. Alles verfällt. Und ich wachse ...«

»Tust du nicht«, gab Ganerc trotzig zu bedenken. »Du wirst kleiner.«

Abermals blitzte der glatte Körper der Puppe auf: Erheitert. Amüsiert.

»Ich selbst werde größer«, sagte sie. »Nur meine Gestalt wird kleiner. Sieh genau hin, glückloser Puppenspieler, ohnmächtiger Zwerg Ganerc.«

»Einst war ich ein Mächtiger ...«

»Die Mächtigen fallen. Zeit vergeht. Ich wachse«, sagte die Puppe und verlor in scheinbarem Widerspruch zu ihren Worten sprungartig weiter an Umfang.

Sie schält sich, dachte Ganerc fasziniert. Die Puppe in der Puppe in der Puppe. Er erkannte, daß sein Vergleich mit den russischen Matroschka-Puppen überaus treffend gewesen war.

»Und das ist alles?« fragte er unmutig. »Wir fallen – und du wächst. Aus dir selbst? Aus irgendwas? Irgendwohin?«

»Nein, das ist nicht alles, Zwerg Ganerc«, sagte die Erscheinung, die mittlerweile zu seiner eigenen, wenig beeindruckenden Größe geschrumpft war. »Folge deinen Puppen. Triff mich am Berg der Schöpfung. Komm heim zur Mutter der Entropie.«

»Du bist Si kitu!« entfuhr es Ganerc-Alaska.

»Kahaba«, fügte er langsam und betont hinzu. »Die Hure ...«

Die unverhüllte Beleidigung war gewollt. Der ehemalige Puppenspieler sah der heftigen Reaktion, die zweifellos gleich erfolgen würde, mit einer ihn selbst überraschenden Gelassenheit entgegen. Sollte sie ihn doch vernichten. Er hatte genug von den kosmischen Mächten in ihrer mitleidlosen Selbstherrlichkeit. Und daß sich die vor seinen Augen dahinschwindende Gestalt als Sonderfall sah, machte die Sache nicht besser.

Aber die Puppe, die Inkarnation, reagierte nicht. Mehr noch: Das Ding, auf das er mittlerweile hinabsehen mußte, strahlte eine Art stummen Bedauerns aus. Und dann, als er sich schon damit abgefunden hatte, für seine brüske Provokation mit nichts als wortloser Verachtung gestraft zu werden, traf ihn der Schlag. Es war ein körperlicher Schlag – nicht der mentale Todesstoß, den er erwartet hatte. Es war eine läppische Ohrfeige, und sie kam von einem Wesen, einer absurden Kreatur, die von einer Sekunde zur anderen neben der schrumpfenden Puppe stand. Sie war eineinhalb Meter groß, größer also als Ganerc-Alaska, und wirkte aufgrund ihrer Proportionen dennoch wie ein verwachsener Kobold – mit einem grauen, affenartigen Gesicht, langen, dürren Ärmchen und in einem ponchoähnlichen, aus grellbunten Stoffetzen zusammengeflickten Kleidungsstück.

»Nenn sie nicht Hure!« keifte das unvermittelt aufgetauchte Wesen und versetzte ihm eine zweite Ohrfeige. »Zeige Respekt vor der Hüterin des Zweiten Thermodynamischen Hauptsatzes!«

Der Kobold holte zum nächsten Schlag mit seiner filigranen, dreifingrigen Hand aus, und Ganerc-Alaska war immer noch zu verblüfft über die lachhafte Attacke, um sich ernsthaft zur Wehr zu setzen.

In diesem Augenblick brach die zu einem unscheinbaren Ei reduzierte Puppe ihr Schweigen. Ihre Stimme schien aber nicht mehr aus dem kümmerlichen Rest ihres fast zur Gänze vom Bodennebel verschluckten Körpers, sondern aus ebendiesem, den Fluß und einen Großteil der nächtlichen Landschaft bedeckenden Nebel zu kommen.

»Laß gut sein, Furaha«, sagte die Stimme.

Und dann, als von der Puppe endgültig nichts mehr zu sehen war, als sie zur Gänze in den Nebel und, wie es schien, in den Boden selbst hineindiffundiert war: »Komm mir nach, Zwerg Ganerc. Ich bin die einzige Mutter. Die einzige Mutter, die du hast. Die ihr alle habt ...«

Ein leichter, fast unmerklicher Windstoß fuhr über das ruhig dahinfließende Wasser, und Ganerc spürte, daß Si kitu Derogwanien verlassen hatte. Er war mit ihrem sonderbaren Adjutanten, der seine Angriffe schlagartig gestoppt hatte, allein.

»Verschwinde!« sagte Ganerc-Alaska verdrießlich. »Hau ab!«

»Paß auf, was du sagt, häßlicher Zwerg«, sagte Si kitus Vertrauter, dessen Gestalt mit einem Mal ungleich weniger komisch und  aufrechter wirkte.

»Nicht auch noch du«, meinte Ganerc-Alaska müde. »Verwandelst du dich jetzt in eine Riesenpuppe? In eine meiner Urpuppen? Eure Taschenspielereien können mir gestohlen bleiben. Hau einfach ab!«

Der Kobold, der vormalige Kobold, zeigte sich unbeeindruckt und veränderte tatsächlich seine Gestalt. Hier wird mir zu viel gemorpht, dachte Ganerc, der die Verwandlung mit grimmigem Gleichmut beobachtete und dennoch in inneren Aufruhr geriet als er sein nun eindeutig terranisches Gegenüber im ersten Moment für keinen anderen als Alaska Saedelaere hielt. Vor dem ehemals Mächtigen stand nun ein schlanker Mann mit – nein, das war nicht Alaska Saedelaere –, mit einem Schnurrbart, mit dunklen Haaren, dichten Augenbrauen und belustigt blitzenden Augen.

»Darf ich mich vorstellen«, sagte der Mann: »Don Willi von über den Materiequellen. Abgesandter der Phantasie. Logokrat. Ritter der Relativität. Puppenmacher. Puppenspielermacher. Mensch. Und schon lange dein Freund.«

»Wenn du mein Freund bist«, sagte Ganerc gereizt, »dann kannst du mir sicher sagen, was hier eigentlich geschieht.«

»Du weißt, was geschieht«, sagte der Mann – Don Willi. »Wie sagt doch ein altes terranisches Sprichwort: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.«

»Wer«, fragte Ganerc herausfordernd, »der Brunnen?«

»Nein, der Krug.«

»Was bedeutet das?« fragte Ganerc.

»Daß Zeit vergeht. Daß Dinge enden. Die, nun, du weißt schon – die Entropie. Die zunehmende Entropie.«

»Ach ja«, sagte Ganerc. »Dieser unselige Zweite Thermodynamische Hauptsatz. Ich vermute, die Mächtigen bilden da keine Ausnahme?«

»Keine Ausnahme«, bestätigte Don Willi. »Alles verfällt.«

»Und dann?« fragte Ganerc müde. »Was kommt danach?«

»Danach kommt das, was war«, sagte Don Willi. »Ein Nichts. Vielleicht auch einige Nichts. Viele Nichts vielleicht.«

Ganerc-Alaska funkelte ihn an: »Es ist ziemlich geschmacklos, Scherze auf Kosten einer alten, ausgeleierten Puppe zu machen.«

»Ich scherze nicht«, sagte Don Willi. »Ich scherze ganz und gar nicht.«

 

»Und jetzt tu das, was du tun mußt ...«, sagte Don Willi, verschmolz mit der Nacht und war verschwunden. Die kleine, gebeugte Gestalt stand am Fluß – am abrupten Ende des »Pfads der Tränen« – und war allein.

Sehr allein.

 

*

 

Er war einer der sieben Mächtigen gewesen – wenn auch der kleinste. Er war unsterblich gewesen – und hatte das Altern kennengelernt. Und nun lernte Ganerc das Weinen kennen.

Ganerc-Alaska weinte. Und als er seine Maske abnahm, als er sie mit einem energischen Wurf hochschleuderte, über den Fluß und darüber hinaus – mit einer Kraft, die den lahmen Gesetzmäßigkeiten der Physik hohnsprach und noch einmal, ein letztes Mal, den ehemals Mächtigen verriet –, kam darunter kein Cappin-Fragment zum Vorschein, sondern ein verrunzeltes, tränenüberströmtes Zwergengesicht. So ist das also, dachte Ganerc, so also ist das Weinen: Es wäscht den Schmerz aus der Seele.

Folge deinen Puppen, flüsterte es in seinem Hirn. Folge deinen Tränen.

Laß dich fallen, flüsterte es in seinem Hirn. Nun laß dich schon fallen!

Und Ganerc fiel seinen Tränen hinterher.

Und im Fallen wurde Ganerc, der Kleine, noch kleiner. Er schrumpfte, während er fiel. Er fiel und schrumpfte und stürzte auf sein eigenes Spiegelbild zu, das auf der schillernden Oberfläche einer riesenhaften Träne rasant größer wurde, und schließlich erreichte er die Membran dieses planetengroßen Gebildes, durchschlug sie und tauchte unter. Er tauchte ein in sich selbst – in sein ganz privates Universum.

Ein Universum, in dem die Zeitbrunnen noch nicht versiegt und die kosmischen Burgen noch nicht demontiert waren. Ein Universum, in dem sich die sieben Mächtigen noch auf der »Ebene« trafen, um über die Zukunft ganzer Galaxien zu entscheiden. Ein Universum, in dem das Echo des RUFS noch zwischen den Sternen hallte, in dem seine Puppen als friedfertige Intelligenz-Agenten das All durchstreiften – und in dem die Mutter der Entropie und Don Willi, der Abgesandte von über den Materiequellen, am Berg der Schöpfung leise lächelnd auf ihn warteten.

 

Über den verlassenen – jetzt völlig verlassenen – Planeten Derogwanien galoppierte ein rotes Pferd und verschwand mit wehender Mähne hinter dem Ereignishorizont der Phantasie. Eine verwaiste Gesichtsmaske trieb ziellos auf der Oberfläche eines unergründlich tiefen Zeitbrunnens. Ein Psion, das »Strömer« hieß, strömte weiter und weiter und weiter ...

 

 

E N D E ?

 


 

Copyright © Andreas Findig
Story zum William Voltz-Kurzgeschichtenwettbewerb 1998, erschienen in DAS CON-BUCH (HJB-Shop) zum WeltCon 2000 in Mainz
Copyright © der Illustration: Michael Wittmann