DIE LITANEI VON DER GNADE

 

 

 »muß ich um gnade wimmern?«

(leonard cohen)

 

»jedes kleine kind weiß,

daß jeder in den himmel kommt«

(jack kerouac)

 

gnade für reagan und gorbatschow

denn sie wissen was sie nicht tun

nachts träumen sie inseln in ihre landkarten

weiße territorien

wo niemand den präsidenten kennt

sie werden erlöst werden

 

gnade für adolf hitler

zuletzt im bunker war er wieder dort

am anfang

ein weinendes aquarell

im schoß der eva braun

granaten im herzen

tellerminen in der iris

und dieser gestank des fleisches

den das fleisch nicht mehr riecht

die 60 millionen werden ihm vergeben

sie haben es längst getan

 

gnade den astronauten

ein seufzen ging durch das all

als armstrong den mond betrat

wer kennt den schmerz des leeren raums?

wer kennt den gesang der verwaisten sonnen

das glosen im zentrum der schwärze?

»ICH BIN GEKOMMEN

DIE STERNE ZU ERLÖSEN«

sagte major tom

aber was er erlöste war nichts

als die pure gestalt seines körpers

gnade für major tom

 

gnade den langschläfern

»ist gut«

sagt die sonne

»ich reg mich nicht auf«

und rollt weiter

 

gnade den fetten agenten des hungers

gnade gott im penthouse der fruit company

gnade den richtern von sacco und vanzetti

gnade den dreizehn verwaltern des geld-pogroms

gnade den virus-generälen

gnade gnade gnade

 

bitte für uns dame sanftmut

leg ein gutes wort für uns ein

schwester schweigen

laß uns nicht hängen

lady losgelöst

wir sind noch nicht fertig

wir müssen noch üben

erbarmungsloser achtstundentag

erbarme dich unser

mit deiner monströsen maschine

verschone uns mutter mond

 

gnade den irren musikanten mohammeds

gnade den raketen-erzengeln

gnade dem ayatollah

sein sand wird gesegnet werden

sein schreiendes gehirn wird ruhen

 

gnade den schändern des sonnengeflechts

gnade den säufern die ihren nächsten quälen

den unversehrten leib

ihre haut soll gereinigt werden

ihre schultern sollen blühen

und licht soll es sein

im tapferen garten ihres körpers

gnade den botschaftern der urämie

gnade den elstern der selbstverlorenheit

man wird ihre lügen vergessen

 

gnade den lustlosen schatzmeistern des sex

gnade den orgasmus-händlern

gnade den opfern von coitus interruptus

und hasenliebe

sie finden das tantrische tor

am achten tag der woche

gnade für martin humer

sein geschlecht wird verwandelt werden

 

gnade den hausmeistern

ihre häuser werden leer sein

gnade den briefträgern

an jenem morgen um 5 uhr früh

wird eine einsame karte am verteilertisch liegen:

 

ALLE VERHANDLUNGEN

ERFOLGREICH BEENDET

ALLE VERTRÄGE

GLÜCKLICH ABGESCHLOSSEN

ALLE LIEBESBRIEFE

GESCHRIEBEN GELESEN

UND FÜR RICHTIG BEFUNDEN

DER KRIEG IST AUS

SIE KÖNNEN NACH HAUSE GEHEN

 

gnade den jugendrichtern

ihre kinder werden mitleid haben

gnade den polizisten

eine blume wächst aus ihren lenden

und sie werden gegrüßt werden

 

gnade den wäldern

die holzfäller werden ihre wunden verbinden

ihr harz wird wie honig fließen

und eine generation von chemikern

schwört den eid auf die bäume

 

gnade den beamten

ihr rücken wird auferstehen

ihre augen werden sich klären

ihre akten werden sich ordnen

und durch das guckloch des schalters

drückt dieser geduldige mann

den stempel des verstehens

auf ihre stirn

 

gnade den stiegenhaus-hyänen

gnade den käufern käuflicher frauen

gnade den huren für haus und herd

gnade den lauschenden müttern

gnade dem erfinder des münzklos

gnade den stechuhr-sadisten

gnade den zeitungszaren

gnade goebbels und gnade den werbetextern

gnade gnade gnade

 

gnade dem papst

der das ungeborene leben vor den eltern schützt

doch nicht das geborene der eltern

und das zertrampelte unserer zarten mutter gaia

genannt die erde

und das gefolterte von chile

und das gefährdete von nicaragua

er wird sich vergeben müssen

 

mach uns nicht fertig

vater freßsucht

gib grünes licht

general gelbsucht

laß gut sein

leutnant lüge

komm aus dem urlaub zurück

doktor demut

warum sollten wir zusammenbrechen

hauptmann hoffnungslos

wenn es nicht einmal einen boden gibt

auf dem wir liegenbleiben könnten?

 

in allen uhren ist ruh

niemand hat zu tun

 

gnade den falschen propheten

von radio kino tv

gnade den gefühls-programmierern

gnade den gehirn-sezierern

gnade den neuronen-fischern

gnade den stuntmen der dichtung

gnade dante im inferno der poesie

gnade dem WORT

das schweinefleisch geworden ist

gnade den gedicht-trichinen

gnade den erben des orpheus

die ihre leier verkauften

für vorschuß und spesenkonto

gnade homer und gnade odysseus

der den gesang der sirenen verriet

für nichts als heimat und penelope

 

gnade den gnadenlosen

sie werden gnade finden

 

gnade für jean-luc godard

seine augen werden sich schließen

er kehrt zurück

ins niemandsland zwischen den kadern

ins lächeln der leeren leinwand

mit nichts dahinter

und nur dem tod im saal

 

gnade dem tod

er wird sterben

 

gnade den karma-clowns

gnade den tänzern im rollstuhl

gnade für charly rivel

im nabel der kuppel

entrollt sich ein rotes seil

das geräuschlos das firmament durchschlägt

und ungeschminkt schön

in der nacht verschwindet

 

gnade den verlierern

sie sind nicht die sieger

gnade den siegern

sie werden allein bleiben

 

ein gewisser ludwig van beethoven

verliert sein gehör

und erhält den befehl sich zu freuen

ein gewisser che guevara

wird generaldirektor der zentralbank von cuba

und träumt von der freiheitsstatue

die sein haupt auf einem silbertablett

ins sengende zentrum einer dollarnote hält

gnade

 

ein gewisser james douglas morrison

ersäuft seinen blutsbruder jim

in einer luxusbadewanne in paris

der weg nach afrika

führt über den friedhof père lachaise

ein gewisser ernesto cardenal

wird papst der reformierten kirche von nicaragua

und betet für ronald reagan

für michael jackson

für arnold schwarzenegger

und für den dalai-lama

und für die CIA

für coca-cola und pepsi-cola

für dynasty und denver

für polens schwarze madonna

und für die weißen von kapstadt

für teller

den engel der neutronenbombe

und lucifer

genannt DER MANN

der sitzet zur linken des broadway

im heulenden elend seiner 23-zimmer-suite

gnade für sie alle

 

o gnade gnade gnade

gnade den ölbaronen

gnade den grafen der schwerkraft

gnade den kohle-raubrittern

gnade den uran-großhändlern

gnade den grauen lords der gen-technologie

gnade den kernzertrümmerern

sie werden den zahn ihres wissens verlieren

und nichts als ein loch dazugewinnen

gnade den argonauten der anmaßung

das goldene vlies

ist ein putzlappen auf einem besen

 

ein gewisser judas

bleibt seinem job bis zuletzt treu

verschenkt 30 silberlinge

und wird nie als erlöser gelten

ein gewisser christopher columbus

dem es nicht gelingt

die schiffsroute nach indien zu entdecken

fällt in ungnade

und verbringt seine letzten tage

mit dem studium einer zerborstenen eieruhr

gnade

ein gewisser hannibal

verliert seinen lieblingselefanten

in einer schlucht der schweizer berge

und beschließt ihm zu folgen

der rest ist gelogen

ein gewisser sokrates tut ihnen den gefallen

ein gewisser jean amery behält recht

ein gewisser friedrich nietzsche

hat mitleid mit zarathustra

und exekutiert sein eigenes gehirn

ein gewisser robert falcon scott

erreicht nach zwei jahren und drei toten freunden

den südpol

der an der flagge norwegens zu erkennen ist

eis in den augen

ein gewisser neil armstrong

betritt den mond

spricht seinen text

und will nichts wie weg

ein gewisser georg trakl

mittelloser dichter

erhält per post eine summe

die blendet wie schnee

und stirbt am weg zum postamt

an einem gedicht über das homosexuelle debakel

seines kollegen orpheus

ein gewisser oskar werner

legt seine trommel weg

beginnt zu wachsen

und weint über den tod des besten hamlet

weint über den buckel goethes

und über den bierbauch jack kerouacs

über die sklaven rimbauds

die autos des james dean

den rechten arm des gustav gründgens

die stromrechnung otto königs

und daß er john hustons film nicht mehr sieht

 

gnade für john huston

gnade für malcolm lowry

da ist keine hölle unter dem vulkan

 

ein gewisser vincent van gogh

fängt seinen schwarzen vogel

und gibt ihm zu fressen

sein bruder hat eben ein ohr

an den louvre verkauft

ein gewisser charly chaplin

kommunistischer filmkommödiant

verläßt sein königreich new york

und lächelt betroffen

 

es ist nicht erbarmen

was wir wollen

sondern gnade

danke uns fehlt gar nichts

wir möchten bloß heim

 

gnade den volkvertretern

sie werden vertreten werden

gnade den pillen-dealern

sie werden nur noch schlucken

gnade den pharmazeutik-bossen

gnade den neurosen-gärtnern

gnade den psychiatern die mit der seele schachern

DIE GROSSE GESUNDHEIT

wird sie stürzen

ein serum von den sternen

ein kostenloses lachen

 

gnade den supermächten

sie werden nicht mächtig sein

gnade den bildschirm-soldaten

auf ihrem monitor wird eine linie erscheinen

die alle koordinaten sprengt

die ballistische flugbahn

einer durchaus fremden rakete

einer durchaus fremden armee

einer durchaus fremden welt

und das strategische ziel

dieses geflügelten geschosses

wird ihr herz sein

 

gnade den atombomben

sie werden demontiert werden

und wenn sie explodieren

gnade den panzern

sie werden verrosten

wie eisen im meer

gnade den kampfgasen

sie werden sich verflüchtigen

gnade den automatischen sternenkriegern

sie werden ihren orbit verlassen

und diesem biblischen kometen

in die sonne folgen

die sie wärmstens empfängt

 

gnade den zöllnern

sie werden einen mann durchsuchen

der kein gepäck trägt

keine schuhe kein geld keinen paß

und auf einmal

wird die grenze

nicht mehr da sein

 

DER KRIEG IST AUS

SIE KÖNNEN NACH HAUSE GEHEN

GEHEN SIE EINFACH NACH HAUSE

 

 

wien, im sommer 1985

 

 


 

Copyright © Andreas Findig
Erstmals erschienen in
»Der Himmel von hinten«, Resistenz Verlag 1996