DER SUMPF
»Man hat immer geglaubt, (Heinrich Seidel: »Die Nebeldroschke«) In diesem Land war Feuchtigkeit – mehr
Feuchtigkeit, als der Erde guttat. Und darum war sie nicht Erde. Nicht mehr.
Nicht nur. Daran änderte auch die auf festem Torf, Tonnen importierten
Schotters und einer dünnen Schicht angereicherter Schwarzerde errichtete
Mustersiedlung nichts – so wenig, wie die dammbewehrten Felder, die die
ortsansässige Bauernbevölkerung in einem jahrhundertelangen Kampf den
Krakenarmen des Sumpfes abgerungen hatte. Denn der Atem des Sumpfes war überall. Seine Irrlichter und Faulgase zogen bei Nacht wie die Kundschafter
einer ungreifbaren, schattenhaften Armee über die Felder und Gehöfte und machten
selbst vor den hohen Hecken und dicht gepflanzten Schutzsträuchern der
Mustersiedlung nicht halt, deren grelle Straßenbeleuchtung in Schwaden von
Moder und Pestilenz zu ersticken drohte. Bei Tag wich die schwere Fäule des Sumpfes nur scheinbar zurück, sättigte
die Luft mit einer monströsen Feuchtigkeit, einer fiebrigen Schwüle, die sich
den Bewohnern der Siedlung, sofern sie nicht von den Zubringer-Hubschraubern
zu ihren Arbeitsplätzen in der Distrikt-Hauptstadt geflogen worden waren,
wie ein Schleier aufs Gehirn legte und sie für Stunden in den
seerosenduftenden Schatten ihrer Gartenhäuschen trieb, unter die riesigen
Ventilatoren ihrer halbverdunkelten Wohnzimmer oder zu ausgedehnten, verzweifelt
heruntergespulten Schwimmkilometern in den großzügig dimensionierten Pools. Was blieb, war eine runzelige Froschhaut. Was blieb, war ein erschöpftes
Vor-sich-hin-Dösen auf der Veranda, das langsame Versinken in ungesunde
Tagträume und den torfigen Geschmack von hochprozentigem Schnaps, während die
Frösche in den Zierteichen enervierend quakten und Myriaden Mücken von den
Dotterblumen aufstiegen und den Tisch und die hellerleuchtete Glasfront des
Wintergartens umschwärmten. Nachmittag in der Sumpf-Siedlung. Erholung vom Nichtstun, vom Brüten
und dumpfen Sinnieren. Nichtstun also, Brüten und dumpfes Sinnieren. Und im Treibhaus des Gehirns wuchern
beklemmende Bilder – irritierend kurzlebige Chimären, bizarre Phantome aus
halbverschütteten Erinnerungs-Tümpeln, abstrakt und sehr fleischlich
zugleich. Wie ein solches Gaukelbild, gab Herr H. später zu Protokoll, wie
eine solche Fata Morgana des Unbewußten sei ihm sein ungebetener Gast ursprünglich
erschienen, der ihn an diesem Nachmittag, an diesem frühen Abend aufsuchte
(»heimsuchte« sollte Herr H. sich beim Lesen der Abschrift korrigieren), der
mit einem Mal neben der Hecke zum Grundstück seines abgängigen Nachbarn
stand, ohne daß Herr H. zuvor ein Geräusch gehört hätte oder seine aufwendige
Alarmanlage ausgelöst worden wäre. Der ungebetene Gast – der »Heckengast«, wie Herr H. ihn später nennen
sollte – schien sich kurz zu orientieren, schnupperte sogar in der Luft, sah
plötzlich geradewegs zur Veranda herüber, auf der Herr. H. aus seinen Tagträumen
hochgeschreckt war, und kam mit einem breiten Lächeln über den Rasen hinweg
auf ihn zu. Herr H., verdutzt und überrumpelt, erwartete den Eindringling im
Sitzen – mit einem Schnapsglas in der Hand und automatisch nach einem Stück
Schimmelkäse greifend, das auf der bislang unberührt gebliebenen kalten
Platte, von Fliegen umschwirrt, eine leicht bräunliche Färbung angenommen
hatte. »Das ist mir nicht sehr angenehm, wissen Sie«, sagte Herr H., als
der Mann herangekommen war, und dieser, verständnisvoll nickend, zog einen
zweiten Sessel an den Tisch, setzte sich, brachte aus einer Tasche seines
leichten, weißen Leinensakkos ein eigenes Schnapsglas zum Vorschein und
schenkte sich wie selbstverständlich aus Herrn H.’s etikettenloser Flasche
ein. »Ich weiß«, sagte der ungebetene Gast. »Natürlich weiß ich.« Ein Flugzeug flog über das Haus, wie das in Kriegszeiten üblich ist,
und irgendwo über dem Sumpfgebiet waren die dumpfen Explosionen zweier
Raketen zu hören, gefolgt von einer Art heiserem Keckern, das nervöses
Maschinengewehrfeuer sein konnte, aber auch das Fluchtgeschrei eines größeren
Vogelschwarms. »Das ist nicht alltäglich«, sagte Herr H. und richtete sich
unbehaglich in seinem Korbsessel auf, »... daß jemand einfach durch die
Gartenhecke kommt und sitzt auf der Veranda, und dann muß man ihn bewirten.« »Nicht alltäglich, gewiß«, nickte der Gast. »Zumal ...«, sagte Herr H., den die freundliche Einsilbigkeit seines
Gastes bedeutend mehr irritierte als sein ungewöhnliches Auftauchen, »... zumal
das Alarmsystem so gut wie neu ist. Sie wollen mir nicht verraten, wie Sie
durch die Hecke gekommen sind?« »Nein«, sagte der Gast mit einem entschuldigenden Lächeln. »Natürlich«, beeilte sich Herr H. zu sagen und nahm noch ein Stück Käse,
das diesmal weniger nach Schimmel als vielmehr nach alten, luftgetrockneten
Nüssen schmeckte. »Natürlich. Das hatte ich mir gedacht. Verzeihen Sie meine
Neugier.« Hinten am Teich blitzte eine gewaltige Eidechse in der diesigen
Nachmittagssonne auf, während ein weiteres Flugzeug in niedriger Höhe das
Grundstück überflog und sich rasch entfernte. Die zahlreichen Frösche, aufgeschreckt
durch den Flugzeuglärm, stimmten ein dissonantes Quaken an, das sich nur
langsam beruhigte und in ein gelegentliches, amphibisches Blöken überging. »Diese Flugzeuge«, sagte Herr H. und nippte unmutig an seinem
Schnaps. »Immer diese Flugzeuge. Es ist der Krieg, wissen Sie. Im Krieg muß
man sich an Flugzeuge gewöhnen. Auch an Hubschrauber. Sie haben nicht
vielleicht etwas mit dem Krieg zu tun? Ich bin Patriot, das ist allgemein
bekannt. Ich bin ein anständiger Staatsbürger. Mehr noch ...« »Ja«, sagte der Gast in der geduldigen, unverbindlichen Art eines
Beichtvaters. »ja natürlich.« »Man kann mir nichts nachsagen«, schloß Herr H. »Noch einen Schnaps
vor dem Essen? Oh, ich sehe, Sie haben sich schon genommen. Ein guter
Schnaps. Von einem hiesigen Bauern. Nicht, daß ich mit den Bauern auf besonders
gutem Fuß stünde, das wollte ich damit nicht sagen. Im Gegenteil.« »Ein guter Schnaps«, bestätigte der Gast. »Der geht die Kehle runter, was?« »Der geht die Kehle runter.« »Priscilla!« rief Herr H. plötzlich in eine unbestimmte Richtung,
die sowohl den weitläufigen Garten als auch das Haus einschließen konnte.
»Priscilla! Wo bleibt denn das Essen? Unser Gast wird Hunger haben. Sie haben
doch Hunger, nicht?« »Sie ist schön, Ihre Frau«, sagte der Gast, der weder die kalte
Platte anrührte, noch auf Herrn H.’s Einladung eingehen zu wollen schien. »Priscilla, ja sie ist schön. Aber ...« – Herr H. beugte sich vor
und gab seiner Stimme einen eindringlichen, beinahe verschwörerischen Ton –
»... Ich will Ihnen etwas anvertrauen: Sie wandelt. Sie ist Schlafwandlerin,
verstehen Sie? Somnambul. Nicht ganz da. Sie wissen, was ich meine? Sie wandelt
auch am Tag. Eigentlich wandelt sie immer.« »Das liegt an den Wegen«, sagte der Gast, wurde aber von einem Flugzeug
übertönt, das sich – scheinbar direkt aus dem Sumpf kommend – mit heulenden
Triebwerken in den Himmel stürzte und über den Wolken verschwand. »Ich fürchte, ich habe Sie nicht verstanden ... Diese Flugzeuge,
immer diese Flugzeuge ...« »Die Wege«, sagte der Gast. »Wenn keine da sind, dann muß man wandeln.« Herr H. verschüttete einen Teil seines randvollen Schnapsglases, als
er hysterisch loszulachen begann. »Ein guter Witz!« prustete Herr H. »Ein
wirklich guter Witz!« Und, lauter: »Hast du das gehört, Priscilla? Priscilla!
Wo steckt sie denn? Wo ist sie denn überhaupt?« »Sie wandelt. Dort hinten am Teich. Bei den Fröschen.« »Wir haben keine Frösche«, widersprach Herr H., schlagartig ernster
und unwirsch. »Der Nachbar hat Frösche. Sie müssen sich irren.« »Es werden wohl Eidechsen sein« – der Gast schenkte sich abermals
ein und sah Herrn H. eindringlich ins Gesicht, weniger seine Augen als
vielmehr seine Stirn und seine Schläfen fixierend. »Eidechsen, ja«, nickte
Herr H. »Ganz sicher sind es Eidechsen. Noch einen Schnaps? Oh, ich sehe, Sie
haben sich schon genommen ...« Sein Gast gab Herrn H. zu denken, seine, wie er später zu Protokoll
geben sollte, ambivalente Aufmachung, eine Ungreifbarkeit seiner Bewegungen,
ein ständiges Auseinanderfließen seiner Gesichtszüge, ohne dieselben
deswegen verschwommen wirken zu lassen. Im Gegenteil, die Miene seines Gastes
sei ihm hart erschienen, wird Herr H. später zu Protokoll geben, haltlos
hart. Am Teich huschten die dunkelgrünen Schatten der Frösche über Seerosen,
Dotterblumen und die Blätter einer ausladend fleischigen Feuchtpflanze, die
wie eine aufgeschwemmte Flechte einen Großteil des lauwarmen Wassers
bedeckte, in der Hecke verfing sich ein stickiger Wind, und jenseits der
Straße, am Rand der Siedlung, kehrte der erste Hubschrauber aus der
Hauptstadt zurück, landete vor den Wellblechbaracken des frisch geteerten
Flugplatzes und ließ die erhitzten Rotorblätter gemächlich ausflappen. Dahinter ein Streifen Grasland – von kränklich gelber Farbe und doch
auch sehr fruchtbar und fett, unterbrochen von den Ausläufern einiger modriger
Felder, die starrköpfige Bauern bis an den Rand des Feuchtgebiets
vorangetrieben hatten, unkrautverwachsen und ohne einen anderen Nutzen als
den ihrer demonstrativ rechteckigen Existenz. Und nach den Feldern, den weidenbestandenen Dämmen, den stehenden
Teichen und Weihern, den labyrinthisch ineinander verschlungenen Altwassern
in scheinbar jeder Richtung der Sumpf, das Moor, das Sumpf-Moor, das
kilometerweit in seine eigene Weglosigkeit reichte. Schilf- und algenverwachsen,
schwankend und dunstig feucht, übersät mit den düsteren Torsi verfaulender
Baumstämme, in denen die Larven prähistorischer Insekten nisteten. Eine
bodenlose, schlammige Wärme, durchtaucht und durchwühlt von bleichhäutigen,
blinden Würmern, von geschlechtslosen Maden und den unterirdischen
Wiedergängern eines viel älteren, halb flüssigen, halb mineralischen Proto-Lebens,
das den Sumpf wie ein gelblicher
Schimmel durchzog, zeitlos, unschlüssig – ein subkutanes Krebsgeschwür der
morastigen Erde, das sich selbst überwucherte, das sich wieder und wieder
erstickte und verschlang. Und verdaute. Und gebar – aus Kot und spontaner Fäulnis. Der Sumpf. Das Moor. Der Morast. Und der erdschwere Nebel. Darüber, irgendwo, ein seltsam farbloser Himmel, unter dem sich die
Schatten unsäglich langsam versinkender Weiden duckten, während Schwärme
schwarzer Vögel eine Lichtung suchten, eine trockene Wiese, ein Feld
vielleicht, das trotzig wie eine umspülte Halig in das weglose, feuchte
Dickicht reichte. In solcher Nachbarschaft lag die Siedlung. Über diesem Gelände tobte
der Krieg, schnitten die Kampfflugzeuge donnernd und meist unsichtbar durch
die schwüle und dennoch wie ausgemergelte Luft, die vor der Erde
zurückzuweichen schien, die über dem Nebel des Sumpfes – gleichsam als
Ausgleich für so viel dunstige Schwere – höher wirkte, leichter und freilich
auch dünner. »Ein Hubschrauber«, sagte Herr H., der geistesabwesend vor sich hinstarrte,
als könnte er einige Handbreit vor seinen Augen den längst verstummten Rotor
sehen, einen technoiden Kreisel, dessen langsames und immer langsameres
Rotieren düstere Schatten auf die Innenseite seines Schädels warf. »Ein Hubschrauber, zweifellos«, bestätigte der Gast. »Es sind sehr viele heutzutage«, meinte Herr H. »Aber man gewöhnt
sich daran. Die beste Methode, vorwärtszukommen in dieser Gegend. Das ganze
Gelände hier ist eigentlich nichts als Sumpf, wissen Sie. Mit einer dünnen
Torfschicht darüber. Sehr fruchtbar, der Torf. Sehr fruchtbar. Aber manchmal
ist es, als würde sich die Erde bewegen. Als würde sie atmen. Als wollte sie
aufbrechen.« »Als wollte sie wandeln«, ergänzte der Gast. »Als wollte sie wandeln, ja.« – Herr H. bedachte seinen Gast mit einem
raschen Seitenblick, einem jener Blicke, die auf ein plötzliches Erkennen
hindeuten, eine unvermittelt hervorbrechende Erinnerung, aber so schnell, wie
seine Augen aufgeblitzt, wie sich seine Pupillen geweitet hatten, zog sich
der Funke auch wieder zurück, schrumpfte zu einem schwachen Schemen, einem
vegetativen Irrlicht, das nervös über seine Netzhaut wanderte. »Ich glaube«, sagte Herr H., »... ich glaube, sie erinnert sich. Sie
erinnert sich an das, was sie einmal war. Daß sie Sumpf war, Moor. Daß WIR
nicht da waren. Nur die Molche. Die Lurche. Die Eidechsen.« »Und die Frösche«, sagte der Gast mit höflichem Nachdruck. Herr H. fuhr sich fahrig durch die dünnen, aschenhaft angegrauten
Haare, schenkte sich und dem Gast abermals nach, wollte nach der kalten
Platte greifen, zögerte, runzelte die Stirn, setzte zu einem Satz an, winkte
wie im lautlosen Selbstgespräch wieder ab, betrachtete seine Fingernägel,
betrachtete den Garten, betrachtete die Hecke, den Himmel über der Hecke,
und leerte, ohne seinen Gast dabei anzusehen, in einem entschlossenen Zug
sein Glas. »Sehr zum Wohl«, sagte der Gast, lächelte und trank. »Es liegt an den Wegen«, meinte Herr H. und wandte sich seinem Gast
wieder zu. »Das haben Sie doch gesagt, nicht wahr? Daß es an den Wegen liegt,
haben Sie gesagt.« »Sie erhalten den Gang«, sagte der Gast. »Die Wege. Die eigenen.« »Eigene Wege«, sinnierte Herr H. »Als ob es die gäbe. Als ob wir wählen
könnten.« Und wie zur Bestätigung seines alkoholschwangeren Fatalismus
grollten in der Ferne die Explosionen mehrerer Granaten, beantwortet von
dumpfem Mörserfeuer und einem maschinellen Fauchen, das auf den Einsatz eines
Raketenwerfers hinzudeuten schien, dessen Einschläge unerklärlicherweise
auf sich warten ließen und endlich ganz ausblieben. »Aber mit den Fröschen haben Sie schon recht«, sagte Herr H. und
lachte trocken auf. »Das wissen Sie ja.« »Das weiß ich«, bestätigte der Gast. Die Sonne stand mittlerweile merklich tiefer, vom verwaisten und zügig
verwildernden Grundstück des Nachbarn wurde ein Büschel abgefaulten
Sumpfgrases über die Hecke geweht, und hinten am Teich begannen die Frösche,
deren Existenz Herrn H. so sehr zu beunruhigen schien, ihr schwülstiges
Abendkonzert, ihr enervierendes Quaken, das manchmal stakkatoartig knatterte
und dann wieder in einen auf- und abschwellenden Sirenenton überging, in die
langgezogenen Locklaute einer sehr alten, amphibischen Sexualität. Ein Flugzeug flog mit blinkenden Positionslichtern über das Haus und
schrumpfte schnell. »Ekelhaft, einfach ekelhaft«, erregte sich Herr H. »Neulich«, sagte
er leiser, wie zu sich selbst und sehr tonlos, »... neulich soll einer
seinen Nachbarn erschossen haben. Wegen der Frau. Ich meine, wegen der
Frösche. Wegen des Quakens, Sie verstehen? Weil sie die ganze Nacht gequakt
haben, die Frösche. Sogar am Tag haben sie gequakt.« Der Gast nickte aufmerksam. »Aber so bin ich nicht«, beteuerte Herr H. »Ich bin nicht so
gewalttätig. Es heißt ja auch, er wollte die Frösche erschießen. Nicht ihn,
nicht den Nachbarn.« »Er konnte nicht hüpfen?« fragte der Gast. »Er konnte nicht hü ... Ha! Sie sind mir schon einer. Das muß man
gehört haben. Er konnte nicht hüpfen! Hast du das gehört, Priscilla?« »Sie ist nicht da«, sagte der Gast. »Nein, natürlich nicht«, sagte Herr H., während im Sumpfgebiet
abermals das dumpfe Explodieren – oder eigentlich Implodieren – eines Geschosses
zu hören war. »Sie wandelt. Immer wandelt sie ...« »Dieser Mann, der seinen Nachbarn erschossen hat«, fragte Herr H. unbehaglich
zögernd und gleichsam zum sofortigen Rückzug bereit, »... es will mir so
scheinen, als ob Sie mehr darüber wüßten, als Sie sagen.« »Ich habe gar nichts gesagt«, meinte der Gast. »Nein? Sie haben wohl wirklich nichts gesagt, richtig?« »Richtig.« »Man redet zu wenig«, seufzte Herr H. »Man sagt sich zu wenig. Vielleicht
tut man auch zu wenig.« »Vielleicht« – Der Gast griff nach der Flasche, deren klaren,
hochprozentigen Inhalt jetzt, in der rötlichen Abenddämmerung, die Phantome
ungreifbarer Quallen zu durchschwimmen schienen, trübe Reflexe und Spiegelungen,
die vom dickwandigen Boden der Flasche aus aufwärts trieben und einander
schwerfällig umtanzten. »Sie hingegen!« fuhr Herr H. unvermittelt eifrig fort. »Sie sind ein
Mann nach meinem Geschmack. Sie wissen sich auszudrücken. Trinken wir noch
einen? ... Oh, vielen Dank, ich hätte mir selbst genommen ... Haben Sie vielen
Dank ...« »Nicht der Rede wert«, sagte der Gast und stellte die Flasche auf
den Tisch zurück. Vielleicht war es tatsächlich die Erde, die sich erinnerte.
Vielleicht war es tatsächlich das Land, das im Zwitterlicht der
Abenddämmerung seine Wiedergänger ausschwitzte: Insekten und Würmer. Frösche,
Lurche, Kröten. Augenloses Getier aus nekrogenen Sickergruben – aber auch
jene ungleich komplexeren, ungleich beunruhigenderen Hervorbringungen eines
einsam vor sich hin brütenden Gehirns, bestürzend greifbare Gespenster, die
sich direkt aus der fiebrigen Feuchtigkeit unserer Angstträume schälen, aus einem
schuldzerfurchten Spiegelbild in der Schnapflasche, aus dem erinnerungsschweren
Schreien der Frösche. »Quak, quak!« erregte sich Herr H. »Quak quak! Dieses ewige Quaken!«,
und sein Gast schob ihm wie zur Beruhigung die schon stark riechende Käseplatte
über den Tisch. »Nehmen Sie dagegen meine Eidechsen«, sagte Herr H. gedankenvoll
kauend. »Die wissen sich zurückzuhalten. Und sie sind sauber. Und älter. Sie
stammen von den Panzerlurchen ab, wußten Sie das? Und die von den
Lungenfischen. Von den Lungenfischen! Allein das Wort. Allein das Wort läßt
einen, wie soll ich sagen ... nach Luft schnappen. Es läßt einen beinahe
ersticken.« »Beinahe atmen«, sagte der Gast. »Sozusagen träumen«, ergänzte Herr H. »Von einer Welt ohne Lungen. Und ohne Kiemen.« »Von Luft«, sagte der Gast. »Von Luft, ja. Wie haben Sie das erraten? Das war es, was ich sagen
wollte: Es läßt einen von Luft träumen. Sie sind ein bemerkenswerter Mann.« »Ich kann Ihnen nicht ernstlich widersprechen«, sagte der Gast. »Die Frösche hingegen«, fuhr Herr H. fort, »... an die Frösche werde
ich mich nie gewöhnen. Nie.« »Ich mochte sie.« »Entschuldigung?« »Die Frösche. Ich mag sie.« »Sie mochten sie, ich weiß«, brummte Herr H. »So, wie Sie Priscilla
mochten.« Der Gast nickte knapp und leidenschaftslos. In der Siedlung flammten die Lichter auf – die gelbe Straßenbeleuchtung,
die kugeligen, ins Orange gehenden Gartenlampen und das grellweiße Halogenlicht
von den Scheinwerfermasten, die das Flugfeld hinter den Hecken umstanden und
ihre scharfen, gleichsam skelettierten Schatten über die niedrigen Häuser,
die öden Felder und bis hinaus ins Sumpfland warfen, wo sie von einer
konturlosen Düsternis verschlungen wurden. Es war ein wenig windig geworden,
aber nicht kühler, und eine stickige, fußlahme Brise trug das tiefe Brummen
mehrerer großer Hubschrauber mit sich, die aus der Distrikthauptstadt
zurückkehrten, um all die Beamten und Ingenieure, die Fabriksvorsteher und
Militärangestellten, die Wissenschaftler, Nachrichtentechniker,
Geheimdienstleute und Propagandspezialisten auszuladen, deren privilegierter
Wohnsitz die Mustersiedlung war. Herr H. – beurlaubt für die Dauer der
Untersuchung seines Falls – horchte halb wehmütig, halb hämisch auf, während
die Hubschrauber näher kamen – behäbige, maschinelle Hummeln aus Licht und
Metall. Am Flugfeld quäkte ein Lautsprecher in den pochenden Lärm, die
großen Transporthubschrauber stoppten in der Luft, verharrten mit blinkenden
Landungslichtern, sanken tiefer, setzten auf und ließen die Rotoren auslaufen,
während zwei ihrer aggressiveren Artgenossen – flinke, wendige
Kampfhubschrauber, die sie eskortiert hatten – abdrehten und wieder Kurs auf
die Hauptstadt nahmen. »Was meinen Sie«, sagte Herr H. an seinen Gast gewandt, »ob der
Krieg bald zu Ende ist?« »Der Krieg ist nie zu Ende«, sagte der Gast, dem nun, nachdem die Sonne
endgültig untergangen war, das grelle Licht aus dem Wintergarten ein ungleich
schärferes Profil gab, eine wesentlich ausgeprägtere – wenngleich befremdlich
filigrane – Körperlichkeit auf dem exponierten Präsentierteller der Veranda.
»Der Krieg ist nie zu Ende, aber manchmal gibt es Pausen.« »Man könnte sich wieder in Ruhe unterhalten«, meinte Herr H. hoffnungsvoll.
»Ohne Hubschrauber. Ohne Flugzeuge. Ohne Raketen.« »Und ohne Frösche«, erinnerte der Gast. »Sie sind so glitschig!« – Herr H. schüttelte sich in seinem Stuhl
und stierte den Gast betrunken an. »So naß! Alles ist so naß hier! Besonders,
wenn es Abend wird. Sie sind auch naß. Sehen Sie sich nur Ihr Hemd an. Das
ist der Sumpf. Die Dämpfe. Der Nebel. Oder haben Sie Ihren Schnaps
verschüttet? Warten Sie, ich habe hier irgendwo ein Taschentuch ... Aber ...
Aber das ist ja Blut! Sie bluten ja!« »Das ist kein Blut«, widersprach der Gast. »Das ist nur eine Erinnerung
an Blut.« »Sie meinen ... Sie meinen, der Körper erinnert sich?« »Der Körper erinnert sich, ja. Wie die Erde.« »Aber woran?« »An sich selbst.« »Ah, ich verstehe. Wie ungeschickt von mir.« – Herr H. war sich der
schwitzenden Schwere seines Körpers mit einem Mal sehr bewußt. Er richtete
sich steif im Sessel auf, schien eigentlich aufstehen, weggehen, schien unsichtbar werden zu wollen und fiel
dann wieder in sich zusammen. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, murmelte Herr H. »Nehmen
Sie noch einen Schnaps? Sie haben schon, natürlich. Verzeihen Sie.« »Darum bin ich hier«, sagte der Gast mit Betonung. Die Frösche quakten, Vögel schrien, in der Hecke raschelten namenlose
Kleintiere, und aus dem Sumpf wehte ein ungefähres Rauschen herüber – die
fernen Brecher eines Ozeans aus Finsternis und Fäule –, während sich die
Veranda wie die beleuchtete Kommandobrücke eines Schlachtschiffs über dem
dämmrigen Rasen mit seinem Swimmingpool, seinem Feuchtpflanzen-Biotop,
seiner Hecke und dem unglückseligen Froschteich dahinter erhob. Und dort, auf
dieser abendlichen Bühne, hätte ein Beobachter zwei ungleiche Personen sehen
können. Aufgeschwemmt und dennoch wie eingefallen der eine. Der andere hoch
aufgerichtet, stoisch stolz – und trotzdem sonderbar vage und wesenlos. »Sie müssen verstehen«, sagte Herr H. »Er war nicht sehr glücklich
mit ihr.« »Mit ihr?« fragte der Gast. »Mit seiner Frau. Er war nicht sehr glücklich mit seiner Frau.« »Er?« fragte der Gast. »Wegen des Wandelns. Und wegen des Nachbarn. Das hat ihn nicht
glücklich gemacht. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß sie mich verlassen hat?
Priscilla. Sie ist zu den Fröschen gegangen.« »Zu den Eidechsen«, verbesserte der Gast. »Ja, zu den Eidechsen, natürlich. Wo habe ich nur meinen Kopf? Das
stimmt nicht, mit den Schwänzen, wußten Sie das? Daß sie abfallen, wenn man
sie angreift. Ich hab’s probiert. Er ist nicht abgefallen. Im Gegenteil.« »Im Gegenteil?« fragte der Gast. Herr H. ging nicht auf ihn ein. Er starrte vor sich hin, und ein
epidemisches Zittern durchlief seine Schultern, seinen Brustkorb, seine Arme
und verebbte in den überraschend schlankgliedrigen Fingern, die nach der
Schnapsflasche griffen. »Aber was spielt das heute noch für eine Rolle, frage ich Sie?« –
Herr H. fragte den Himmel und die anbrechende Nacht im allgemeinen. »Nach alledem.
Nachdem ich ihn erschossen habe. Nachdem sie gegangen ist ...« (»Keine mehr«, sagte der Gast mit einer sehr fernen und tonlosen Stimme.) »... Was bleibt, sind die Frösche«, sagte Herr H. »Das ist es, was
bleibt. Immer die Frösche. Noch einen Schnaps, mein Freund? Sie ... Wo sind
Sie denn? Wo sind Sie denn hingekommen? Sie sollten das wirklich nicht tun.
Nicht auch noch Sie. Finden Sie das fair? Finden Sie das fair, he? Erst kommen
Sie einfach durch die Hecke, paff, einfach durch die Hecke, und dann, wenn
man sich gerade an Sie gewöhnt hat, sind Sie plötzlich nicht mehr da. Sind
plötzlich nicht mehr da. Wie Priscilla. Sie sollten zurückkommen und sich
entschuldigen! Das sollten Sie
wirklich tun, ja!« Herr H. war aufgesprungen, fuchtelte mit seiner Flasche und drohte
dem leeren Garten, den quakenden Fröschen, der Hecke und der Finsternis dahinter.
Ein Flugzeug flog mit grellem Getöse über das Haus, schrumpfte schnell und
zerschellte als fahler Lichtpunkt an seiner völligen Willkürlichkeit. Herr H. fröstelte, fiel in den Sessel zurück und weinte stumm. Er sei dann eingeschlafen, gab Herr H. später zu Protokoll, und was
seine Frau und seinen Nachbarn betreffe, so könnte letzterer schwerlich tot
sein, wenn er ihm Besuche abstatte. Beweise, nein, Beweise habe er keine.
Aber schließlich gäbe es auch keine Leichen. Nur Froschquaken und den Sumpf. Dieses ewige Froschquaken und diesen ewigen Sumpf. Erschienen
in Andreas Findig: »GÖDEL GEHT« |