DIE VERWUNSCHENE UBAHN
»Schon
vor Jahren hatte ich begriffen, daß in der Welt kein Ding ist, das nicht
Keim einer möglichen Hölle wäre ...« (Jorge
Luis Borges: »Deutsches Requiem«) In den Archiven der Stadt Wien findet sich, sofern man zu finden versteht,
unter U wie »Unerklärliche Ereignisse« oder unter U wie »Ubahn« ein schwarzer
Aktenordner, der die Vermerke »In Evidenz« und »WNNRR« trägt. WNNRR bedeutet
»Weiterleitung nur nach Rücksprache Rathaus« und heißt in der Regel, daß
eine solche Weiterleitung tunlichst zu unterbleiben habe. Zuverlässigen Quellen zufolge wird der Aktenordner laufend ergänzt
und in nicht allzu ferner Zeit einen zweiten, noch dickeren zur Seite
gestellt bekommen, da er die Fülle des anfallenden Materials nicht mehr
allein zu fassen vermag. Allem Anschein nach beziehen sich die so unter
Verschluß gehaltenen Dokumente und Untersuchungsprotokolle, die
Zeugenaussagen und amtlichen Vermerke, die Gutachten und Gegengutachten, die
Photos und Skizzen aus dem Gedächtnis meistenteils auf die verwirrenden
Folgen eines Vorfalls, der sich zu Anfang des Wiener Ubahnbaus zugetragen
haben soll, als das bereits in Betrieb genommene Netz noch rührend
fragmentarisch war, und dessen Bekanntwerden damals unterdrückt worden war,
um das Ansehen des neuen Verkehrsmittels nicht zu diskreditieren. Was an jenem späten Novembertag des Jahres 1978 wirklich geschehen
ist, läßt sich schwer sagen und ist in Wahrheit von wenig Belang – jedenfalls
forderte das Ereignis mindestens ein Todesopfer, wahrscheinlich zwei, und
wenn wir uns inzwischen daran gewöhnt haben, daß Selbstmörder und wohl auch
Mörder einfahrende Ubahnzüge für ihre Zwecke gebrauchen, wenn wir uns
inzwischen so sehr daran gewöhnt haben, daß diese Fälle und Unfälle den
Zeitungen, wenn überhaupt, nicht mehr als eine 5-Zeilen-Notiz wert sind, so
ändert das doch nichts an der Tatsache, daß das Ereignis, von dem die Rede
ist, das erste seiner Art in Wien und womöglich der Auftakt zu einer Reihe
rätselhafter Erscheinungen war, die Großstadtmythologen unter dem
Sammelbegriff »Die verwunschene Ubahn« subsummieren. * Die, was man so nennt, bloßen Fakten sind schnell erzählt – jedenfalls,
wenn wir uns vorstellen, daß sie das sind: bloß Fakten, nackt und beziehungslos
wie Adam vor der Erschaffung Evas. Ein Mann, so heißt es, vermutlich Mitte 50, und seine Frau, 15 Jahre
jünger, waren einkaufen. Zumindest stellen wir uns das vor. Es war zu Beginn der Adventzeit, stellen wir uns vor, am ersten langen
Einkaufssamstag. Über der Kärntner Straße funkelten die Lichtbrücken der
Weihnachtsdekoration, und darunter schoben einander die Menschen von Kaufhaus
zu Kaufhaus, verzweigten sich in die Gassen der Altstadt, flossen am Graben
wieder ineinander, umbrandeten die Pestsäule samt ihrem festlichen Ausschlag
bunter Glühbirnen, trieben am Stephansdom vorbei und ergossen sich ins
Judenviertel zur Linken der Rotenturmstraße. Besagter Mann – er kam wohl aus dem zwanzigsten Bezirk und dürfte
Frühpensionist der Österreichischen Bundesbahnen gewesen sein – hatte seiner
um 15 Jahre jüngeren Frau seit sechs Stunden mit Händen und Brieftasche zur
Seite gestanden, jetzt, gegen Abend, war letztere leer, und erstere, seine
Hände, waren so vollbepackt, daß er kaum über den Paketturm hinwegsehen
konnte, um sich einen Weg zur neuerrichteten Ubahnstation Stephansplatz zu
bahnen. Der Mann, stellen wir uns vor, fluchte in wenig christlicher Diktion,
und seine Frau, Lodenkatholikin, wie man sagt, rümpfte indigniert die Nase.
Der Mann – sie umrundeten eben den Nordturm des Doms – stieg in einen Haufen
Roßknödel, und seine Frau, von einer eher antiseptischen Tierliebe, nannte
ihn einen Tolpatsch. Der Mann, schwitzend in der nassen Kälte, verlor ein
Paket, und seine Frau, soeben darüber räsonierend, daß sein Geld nicht
einmal für ein Taxi reiche, lachte bissig, während ein herbeigedrängter Kavalier
das Paket aufhob, dem Mann wieder unters Kinn schob und der Frau mit seinem
Taschentuch einen Spritzer Schneematsch von den Strümpfen wischte. Gerechterweise muß gesagt werden, daß die Frau den eifrigen Kavalier
in seine Schranken verwies, wenngleich sie damit wartete, bis seine wischende
Hand ihre weiß bestrumpften Oberschenkel erreicht hatte und unter dem Saum
ihres grauen Faltenrocks zu verschwinden begann. Aber schließlich war sie
Katholikin, man befand sich vor Sankt Stephans steinstarrendem Portal, und
rundumher nahmen die Vorbereitungen für die alljährliche Wiederkehr des
Herrn ihren eiligen Gang – von ihrem Mann ganz abzusehen, der vollbepackt
daneben stand und dessen Gesichtsfarbe trotz der Kälte und seines kurzen
Atems drauf und dran war, von einem sehr fleischigen Rosa in ein sehr
kalkiges Weiß umzuschlagen. Ungefähr so muß es gewesen sein, und ungefähr so ging es weiter:
Hier die Frau, unwillig weiterdrängend in Richtung Ubahn und die verdorbene
Gelegenheit bedauernd, da der Mann, hinterdreinstolpernd mit seinen Paketen
und seiner weißen Wut, leicht zitternd, fast schnaufend und ungefähr zu
einem Mord aufgelegt. Wir dürfen annehmen, daß sich das friedlose Paar, der ÖBB-Frühpensionist
und seine um 15 Jahre jüngere Frau, schweigend und voneinander wegstarrend
über die funkelnagelneuen Rolltreppen in die Tiefe bewegte, und wir können
davon ausgehen, daß sie nicht allein waren, weder mit ihren Paketen noch mit
ihrer Verstimmung oder ihrer Ungeduld. Der Ungeduld, nach Hause zu kommen, bei ihr. Der Ungeduld, sie loszuwerden, bei ihm. * Warum wird ein Mann zum Mörder? Weil er plötzlich begreift, daß er
zum Mörder werden kann, und weil
diese plötzlich begriffene Möglichkeit darauf pocht, bestätigt zu werden. Jedenfalls nehmen wir das an. Es war wohl um 17 Uhr 30, und auf der neuen Linie U1 – zur Zeit der
modernsten Ubahnlinie der Welt – verkehrten die silbernen Triebwagen in vorweihnachtlichen
Katastrophenintervallen, automatisch gesteuert, automatisch beschleunigt,
automatisch gestoppt. Eben hatte ein Zug die hellerleuchtete Stationsröhre
verlassen, schon brauste ein neuer aus dem Tunnel heran, verscheuchte einige
fürwitzige Tauben vom Rand des Bahnsteigs und öffnete seine Türen den
abgekämpften Vertretern einer wildentschlossenen Christenheit. Wild entschlossen war er nicht, der Mann, von dem wir reden. Wir vermuten
sogar, daß er weniger entschlossen als vielmehr getrieben war, weniger
getrieben als vielmehr treibend. Wir glauben, daß er weniger trieb als still
in sich ruhte – in sich und seiner Wut, in sich und seinem plötzlich
erwachten Haß, der plötzlich so heiter wurde, ja lustig, mordlustig. Hier nun beginnen die bruchstückhaften Berichte und Rekonstruktionen
– denn was wir bisher erzählt haben, stützt sich auf bruchstückhafte Berichte
und Rekonstruktionen – voneinander abzuweichen. Wie es scheint, stellte der
Mann, nicht im geringsten darauf bedacht, seine Absicht zu verschleiern,
indem er etwa ein Stolpern vorgetäuscht hätte, die Pakete fein säuberlich
auf den Bahnsteig, was von seiner um 15 Jahre jüngeren Frau, die sich selbst
in einem Videoschirm der Überwachungsanlage betrachtete, nicht bemerkt wurde.
Der nächste Zug fuhr ein, der Mann, besagter ÖBB-Frühpensionist, gab seiner
Frau einen Stoß, das heißt, eher schob er sie, und sie, die Frau, fiel
lautlos, erstaunt und im Fallen ihren Rock glattstreichend, dem Triebwagen
vor die Räder. Hernach ein metallisches Knirschen, kein Rumpeln freilich, kein
Schreien vorerst, nur dieses dumpfe Implodieren eines ungläubigen Schreckens. Dies die eine Version. In dieser einen Version hätte der Mann, besagter ÖBB-Frühpensionist
aus dem zwanzigsten Bezirk, die Pakete wieder aufgenommen, wäre unbehelligt
zur Rolltreppe gegangen und kurz darauf im Gewühl der Kärntner Straße
verschwunden. Dort hätte ein gemischter Chor der Katholischen Jugend
Österreichs zur selben Zeit »In dulci jubilo« gesungen. Heißt es. In der anderen Version – oder sollen wir sagen: in einer der anderen
Versionen? – hätte die Frau die Bewegung ihres Mannes im Videoschirm
wahrgenommen. Sie hätte sich halb umgedreht, seinen Arm ergriffen, und
beide, der Mann wie die Frau, wären gemeinsam, ja in der Luft umschlungen,
vor den Zug gestürzt. Auf der Kärntner Straße hätte ein gemischter Chor der Katholischen
Jugend Österreichs zur selben Zeit »Nun freue dich, du Christenheit« gesungen. Über den weiteren Hergang herrscht Klarheit: Man verschleierte. Die
Ubahn wurde aus witterungstechnischen Gründen geräumt. Die noch wenig
erprobten elektronischen Systeme hätten einen Defekt, hieß es. Wer etwas
Außergewöhnliches gesehen habe, hätte einen Defekt, hieß es. Es gab keine Zeitungsberichte. Anderntags beging Wien den ersten Adventsonntag. Der Stephansdom
reckte seinen erodierenden Turm in den fallenden Schnee, und unten zogen
warm vermummte Paare ihre kontrapunktischen Spuren durch den Matsch. Jedenfalls stellen wir uns das vor. * Zum ersten Mal tauchte die verwunschene Ubahn drei Wochen später
auf, in der Nacht zum 21. Dezember, der sogenannten Thomasnacht also, die die
erste Rauhnacht ist. Ein Streckenprüfer, ein Fahrdienstleiter und drei Putzfrauen
bezeugten die nachmitternächtliche Erscheinung. Ihre Aussagen finden sich im
erwähnten Aktenordner U/G.127 WNNRR. Um 2 Uhr 23, so der Streckenprüfer – und er wisse die Zeit deshalb
so genau, weil sieben Minuten später sein Dienst zu Ende ging beziehungsweise
zu Ende gehen hätte sollen –, sei er, vom Überstellungsgleis Schottentor
kommend, in den Haupttunnel eingebogen, als ihm erst ein Luftzug – man wisse
schon, nicht eigentlich ein Luftzug, vielmehr dieses Kribbeln im Ohr –, dann
ein Geräusch und endlich zwei weiße und rasch größer werdende Scheinwerfer
das Herannahen eines Zuges aus Richtung Schwedenplatz angezeigt hätten. Er
habe sich in eine Schutznische gedrückt, verwundert zuerst und dann
beunruhigt – schließlich, das wußte er, waren keine Überstellung, kein
Sonderzug und erst recht kein fahrplanmäßiger Verkehr vorgesehen. Wirklich
mulmig sei ihm aber erst geworden, als ihm die völlig überhöhte Geschwindigkeit
des Zuges so kurz vor der Station aufgefallen sei – das Streckensignal habe
nämlich auf Rot gestanden, die automatischen Zugbremsen hätten also längst
schon greifen müssen, und dann, hol’s der Teufel, ob man ihm glaube oder
nicht, habe er diese Frau im Führerstand gesehen. Bleich sei sie gewesen, mit so einem Grinsen im Gesicht, wie das die
Astronauten haben, wenn sie beim Start in die Sitze gedrückt werden. So ein
gequältes Grinsen, genau so ein Grinsen sei das gewesen. Nein, normalerweise sitze da niemand im Führerstand bei den nächtlichen
Zugsüberstellungen, schon gar keine Frau. Alles ferngesteuert und mit
Computer und so. Und außerdem sei sie nicht gesessen, sondern gestanden, im
Führerstand gestanden, jawohl, dieses Weib mit ihrem grünen Cape und so einer
weißen Bluse, ganz weiß, richtig blendend, und ja, einen grauen Rock habe sie
getragen. Davon habe er aber nicht viel gesehen, und schließlich sei ja auch
alles so schnell gegangen, wie sie da an ihm vorbei und in die Station ...
und hol’s der Teufel, einfach durch die Station durch, trotz der
automatischen Bremsen und all so Sachen. Das beschwöre er bei der Ehre seiner Großmutter, der Treue seiner
Gabi und dem Meistertitel Rapids. Soweit der Streckenprüfer. Die Putzfrauen, zwei Polinnen und eine Slowenin, bestätigten seine
Aussage und ergänzten sie um ein wichtiges Detail – wenn wir einmal ganz
davon absehen, daß sie behaupteten, der Ubahnzug sei nicht gefahren, sondern
über den Gleisen geflogen und ein frostiger Nebel, so was wie feiner Hagel,
sei aus den Türspalten und aus den Fenstern gequollen. Wir erinnern uns: Es war die erste Rauhnacht. Diese Ubahn, so die Putzfrauen, sei mit einem schrecklich schrillen
Ton, wie wenn eine Gabel über einen Teller kratzt, genau so sei sie durch die
Station gebraust, und die Frau im Führerstand – der Herr sei ihrer armen
Seele gnädig – habe lauthals gelacht, als ihr der Mann ... der habe wie verrückt
gewinkt, der Mann, ganz vorne am Bahnsteig, und geschrien habe er, aber davon
habe man nichts gehört in dem Lärm ... als ihr also der Mann so winkend und
schreiend, Gott behüte, direkt vor den Zug gefallen sei. Ja, dieser Mann sei schon vorher aufgetaucht, so die Slowenin, noch
vor der verwunschenen Ubahn – so nannte sie die Erscheinung –, und er sei
durch ihren Schaumteppich spaziert, ohne einen Abdruck zu hinterlassen mit
seinem Stapel Paketen, und die wollte er ihnen schenken, die Pakete. Ganz
grausig sei das gewesen, wo man doch wisse, was für Geschenke das mache,
das Thomasmandl, die brächten Unglück, da sei die Madonna davor. Anders die Polinnen: Sie hätten den Mann sehr nett gefunden, obwohl
sie ja nicht wußten, woher er kam und was er da zu suchen hatte um halb drei
Uhr früh – schließlich seien die Gitter oben schon lange geschlossen
gewesen. Aber ein Sandler, nein, ein Sandler sei er sicher nicht gewesen,
sondern irgendwie ein Herr, ein richtiger kleiner Herr mit gütigen Augen, und
die seien verweint gewesen, die Augen, sagten die Polinnen. »Verhext«, sagte die Slowenin. »Aber wo«, sagten die Polinnen. Die habe ja gar nichts mehr mitgekriegt,
die Sladyana, weil sie sich eingesperrt hätte am Klo. »Nicht wahr«, sagte die Slowenin. »Doch!« sagten die Polinnen. »Slowenin«, sagten sie, das sage doch
alles. Dieser Herr jedenfalls, sagten sie, der hätte nicht reden können.
Ganz stumm sei er gewesen, und dann habe er ihnen so gedeutet, daß er ihnen
seine Pakete schenken wollte. Die hätten sie aber nicht angenommen, nur
einen kleinen Karton mit Lebkuchen, den schon. Gut seien die gewesen, diese
Lebkuchen, aus einem ganz noblen Geschäft. Sie hätten doch wohl nichts
Unrechtes nicht getan? Ja schon, die hätten sie alle aufgegessen, die Lebkuchen,
und die Packung hätten sie weggeworfen. Obwohl: Der Fahrdienstleiter, der
habe doch die anderen Pakete genommen, das mit dem Kassettenrecorder und
das mit dem Kleid. Wo er doch unverheiratet sei, der Fahrdienstleiter.
Deshalb hätten sie ja auch gedacht, das habe schon seine Ordnung irgendwie,
weil sie doch wußten, daß der Fahrdienstleiter noch oben im Kontrollstand war
und sie sehen konnte über die Kameras, und den Mann natürlich auch. Der hätte
doch eingegriffen, der Fahrdienstleiter, wenn da irgend etwas nicht in
Ordnung gewesen wäre. Und er sei ja dann auch heruntergekommen, als der Mann
aufs Gleis gefallen war und dieser Zug über ihn drüber, und meinerseel, wo
sei der nur hingekommen, der Mann? Sie könnten sich das nicht erklären. Sagten die Polinnen. »Teufelswerk«, sagte die Slowenin. »Verleumdung«, sagte der Fahrdienstleiter. Es sei ja wohl klar, daß es nie irgendwelche Pakete gegeben habe,
schon gar keins mit einem Grundig-Kassettenrecorder drinnen, so wie es
diesen ominösen Mann nie gegeben habe. Das sei ja lachhaft. Dann hätte man
doch irgendwelche Spuren finden müssen, Blut oder sonstwas, und habe man die
vielleicht gefunden? Nein, die habe man nicht gefunden, abergläubisches
Geschwätz, das alles. Ja, er gebe allerdings zu, daß da dieser Zug gewesen sei, und der bewußte
Vorfall müsse in der Tat aufs sorgfältigste überprüft werden – er habe
bereits alles in die Wege geleitet. Ersten Untersuchungsergebnissen zufolge
habe sich zur fraglichen Zeit keine Garnitur auf der fraglichen Strecke befunden,
wenngleich man mit Gewißheit zur Stunde natürlich noch gar nichts ausschließen
könne. Es habe tatsächlich den Anschein, als hätte die elektronische
Streckenüberwachung zur bewußten Zeit ein Objekt registriert, das,
vorläufigen Auswertungen zufolge, ein Doppeltriebwagen samt dreier
Zwischenwagen der Marke Simmering-Graz-Pauker sein hätte können, wogegen
freilich die Tatsache spreche, daß das Objekt auf keines der automatischen
Bremssignale reagiert habe, was bei den hochentwickelten Betriebssystemen
der modernsten Ubahnlinie der Welt schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit
sei. Unter Umständen, er sage unter
Umständen, habe sich möglicherweise ein Fehler in die Benutzerprogramme
der Elektronik eingeschlichen, wofür, das müsse er hier dezidiert
feststellen, auf keinen Fall die Wiener Verkehrsbetriebe verantwortlich
gemacht werden könnten. Er plädiere dafür – wie übrigens schon einmal vor
drei Wochen –, eine generelle Überprüfung auf Kosten des Ausstatters
vornehmen zu lassen und allenfalls, sollte sich das als notwendig erweisen,
die betreffende Firma auf Schadenersatz wegen fortgesetzter Betriebsstörungen
infolge inakzeptabler Unregelmäßigkeiten zu klagen. Was seine erste Aussage betreffe, seine angebliche Sichtung des bewußten
Objekts, so müsse er sie insofern relativieren, wenn nicht gar, er sage
wenn nicht unter Umständen sogar
revidieren, als er inzwischen nach reiflicher Überlegung zum Schluß gekommen
sei, daß ihm vielleicht seine Nerven, er sage womöglich und mit Vorbehalt ... schließlich habe er in zugegebenermaßen
vielleicht etwas übereifriger Diensterfüllung etliche Überstunden absolviert,
man wisse schon, in seiner Position sei das manchmal unumgänglich ... daß
sie womöglich überreizt gewesen seien, seine Nerven, das könne man nicht
ausschließen. Ja, so der Fahrdienstleiter, ja, er bestehe allerdings auf einer
rückhaltlosen Aufklärung des Vorfalls. Schließlich sei die modernste Ubahnlinie
der Welt keine Geisterbahn. Und nun wolle man ihn entschuldigen, er habe
noch mit diesen drei pflichtvergessenen Putzfrauen zu reden und einen
Streckenprüfer wegen Trunkenheit im Dienst fristlos zu entlassen. Es gab keine Zeitungsberichte. * Die gab es nie, und das erstaunt uns nicht weiter. So, wie es uns kaum erstaunt, wenn wir der verwunschenen Ubahn – den
Namen wollen wir beibehalten – in den nächsten Monaten und Jahren immer
wieder begegnen. Vorausgesetzt, wir trauen einem gewissen Aktenordner und
unserer eigenen Vorstellung. Einmal aufgetaucht, wurde der nachmitternächtliche Spuk zu einer festen
Einrichtung, zu einer Legende, die unter Angestellten der Wiener Verkehrsbetriebe
genauso selbstverständlich ist, wie es der Klabautermann in früheren Zeiten
für die Seefahrer war. Und wenn wir davon ausgehen, daß es immer die
Freibeuter und mit Bann Belegten waren, die dem Klabautermann oder dem
Fliegenden Holländer begegneten, die Gesetzlosen, die Landesflüchtigen,
Schiffbrüchigen und Aussätzigen – der Schiffsjunge eher als der Maat, der
versoffene Steuermann eher als der Kapitän –, so können wir sagen, daß es
immer die Randexistenzen waren, die die verwunschene Ubahn sahen oder aber
darauf beharrten, sie gesehen zu haben: Einsame Streckenprüfer, ausländische
Putzfrauen, Obdachlose und Sandler, verirrte Nachtschwärmer, delirierende
Dichter, Huren auf der Flucht vor einem gewalttätigen Freier, schlaflose
Männer auf der Suche nach der Dritten Frau, somnambule Großstadtjäger – ohne
Waffe, ohne Hochstand, ohne Wild. In jenem Winter 78/79 soll die verwunschene Ubahn sowohl in den
Stationen als auch in der Wendeanlage Favoriten gesehen worden sein, sowohl
stehend oder schwebend als auch in voller Fahrt, sowohl als flüchtiges
Phantom als auch in aller furchteinflößenden Schönheit. Denn das soll sie gewesen sein: Schön. Und das soll sie verbreitet haben: Furcht. Bis zum Dreikönigstag kehrte sie jede Nacht wieder. Und immer standen
entweder diese Frau oder dieser Mann im Führerstand, und immer warfen sich
entweder dieser Mann oder diese Frau vor den Zug. Und immer wurde nichts
gefunden. Und immer wurde nichts berichtet. Und immer blieb nur ein leichter
Geruch von Zimt in den Stollen zurück, von Lebkuchen und einem schweren
weiblichen Parfum. Später, in den darauffolgenden Jahren, soll sich die verwunschene
Ubahn nach und nach mit anderen Leuten gefüllt haben – oder müssen wir
sagen: mit den Gespenstern anderer Leute? Mit jugendlichen Selbstmördern,
gebrechlichen Senioren, unglücklichen Liebespaaren und abgängigen Kindern.
Mit ruhelosen Wiedergängern, die bleich auf den Sitzen lungern, im Mittelgang
auf und ab gehen oder wie Gekreuzigte an den Haltestangen lehnen. Das seien die Geister der Ubahntoten, heißt es. Das seien die
unerlösten Seelen all jener, die Woche für Woche unter die Räder kommen. Und ist es nicht so, daß wir manchmal innehalten, wenn die Lautsprecher
eine Betriebsstörung bekanntgeben, und uns fragen, wer es diesmal war? Wer diesmal gegangen ist und warum? Und könnte es nicht sein, daß eine verlorene Geliebte, daß ein verschwundener
Freund Nacht für Nacht in jener Ubahn sitzt und die Stationen nach einem
Lichtblick absucht? Nach uns. Und wachen wir nicht manchmal auf, in jenen elektrischen Nächten, in
denen die Stadt wie ein riesiges Tier in den Himmel stöhnt, wachen wir dann
nicht auf und hören ein Pochen, das an die Fundamente unserer Häuser rührt,
ein Pochen, dumpfer als unser Puls und tiefer als unser Herz? Und dann ein Beben. Und dann ein Knirschen. Und dann ein epidemisches
Knattern, als würden Tausende Käfer zerdrückt, Chitin
auf Stahl, der Schorf reißt auf, und ist es nicht diese silberne Ubahn, die
dann durch unsere Adern fährt, parabolisch heulend, singend, halb
durchsichtig, diese verwunschene Ubahn, die durch unsere Köpfe kreist, die
durch unser Becken kreist, diese verwunschene Ubahn, die endlos kreist und
kreist und kreist – ein computergesteuerter Geist in den unterirdischen
Schluchten Wiens, ein Phantom, ein Maschinenzombie, der einzige Zug von Linie Null. Copyright © Andreas Findig als
gezippte Word 2000–Datei |