DIE VERWUNSCHENE UBAHN

 

 

»Schon vor Jahren hatte ich begriffen,

 daß in der Welt kein Ding ist,

das nicht Keim einer möglichen Hölle wäre ...«

 

(Jorge Luis Borges: »Deutsches Requiem«)


 

 

In den Archiven der Stadt Wien findet sich, sofern man zu finden ver­steht, unter U wie »Unerklärliche Ereignisse« oder unter U wie »Ubahn« ein schwarzer Aktenordner, der die Vermerke »In Evidenz« und »WNNRR« trägt. WNNRR be­deu­tet »Weiterleitung nur nach Rück­sprache Rathaus« und heißt in der Regel, daß eine solche Weiterleitung tun­lichst zu unterblei­ben habe.

Zuverlässigen Quellen zufolge wird der Aktenordner laufend ergänzt und in nicht allzu ferner Zeit einen zweiten, noch dickeren zur Seite gestellt bekommen, da er die Fülle des anfallenden Materials nicht mehr allein zu fassen vermag. Allem Anschein nach beziehen sich die so unter Verschluß gehaltenen Dokumente und Untersuchungsprotokol­le, die Zeugenaussagen und amtlichen Vermerke, die Gutachten und Gegengutachten, die Photos und Skizzen aus dem Gedächtnis meisten­teils auf die verwirrenden Folgen eines Vorfalls, der sich zu Anfang des Wiener Ubahnbaus zugetragen haben soll, als das bereits in Betrieb ge­nommene Netz noch rührend fragmentarisch war, und dessen Bekannt­werden damals unterdrückt worden war, um das Ansehen des neuen Verkehrsmittels nicht zu diskreditieren.

Was an jenem späten Novembertag des Jahres 1978 wirklich gesche­hen ist, läßt sich schwer sagen und ist in Wahrheit von wenig Belang – jedenfalls forderte das Ereignis min­destens ein Todesopfer, wahr­scheinlich zwei, und wenn wir uns inzwischen daran gewöhnt haben, daß Selbstmörder und wohl auch Mörder einfahrende Ubahnzüge für ih­re Zwecke gebrauchen, wenn wir uns inzwischen so sehr daran gewöhnt haben, daß diese Fälle und Unfälle den Zeitungen, wenn überhaupt, nicht mehr als eine 5-Zeilen-Notiz wert sind, so ändert das doch nichts an der Tatsache, daß das Ereig­nis, von dem die Rede ist, das erste sei­ner Art in Wien und womöglich der Auftakt zu einer Reihe rätselhafter Erscheinungen war, die Großstadtmythologen unter dem Sammelbegriff »Die verwunschene Ubahn« subsummieren.

 

*

 

Die, was man so nennt, bloßen Fakten sind schnell erzählt – jeden­falls, wenn wir uns vorstellen, daß sie das sind­: bloß Fakten, nackt und be­ziehungslos wie Adam vor der Erschaffung Evas.

Ein Mann, so heißt es, vermutlich Mitte 50, und seine Frau, 15 Jahre jünger, waren einkaufen.

Zumindest stellen wir uns das vor.

Es war zu Beginn der Adventzeit, stellen wir uns vor, am ersten lan­gen Einkaufssamstag. Über der Kärntner Straße funkelten die Lichtbrücken der Weihnachtsdekoration, und darunter schoben einander die Menschen von Kaufhaus zu Kaufhaus, verzweigten sich in die Gassen der Altstadt, flossen am Graben wieder ineinander, umbrandeten die Pestsäule samt ihrem fest­lichen Ausschlag bunter Glühbirnen, trieben am Stephansdom vorbei und ergossen sich ins Judenviertel zur Linken der Rotenturmstraße.

Besagter Mann – er kam wohl aus dem zwanzigsten Bezirk und dürfte Frühpensionist der Österreichischen Bundesbahnen gewesen sein – hatte sei­ner um 15 Jahre jüngeren Frau seit sechs Stunden mit Händen und Brief­tasche zur Seite gestan­den, jetzt, gegen Abend, war letztere leer, und er­stere, seine Hände, waren so vollbepackt, daß er kaum über den Paketturm hin­wegsehen konnte, um sich einen Weg zur neu­errichteten Ubahnstation Ste­phansplatz zu bahnen. Der Mann, stellen wir uns vor, fluchte in wenig christlicher Diktion, und seine Frau, Lodenkatholikin, wie man sagt, rümpfte indigniert die Nase. Der Mann – sie umrundeten eben den Nordturm des Doms – stieg in einen Haufen Roßknödel, und seine Frau, von einer eher anti­septischen Tierliebe, nannte ihn einen Tolpatsch. Der Mann, schwitzend in der nassen Kälte, verlor ein Paket, und seine Frau, soeben darüber räso­nierend, daß sein Geld nicht einmal für ein Taxi reiche, lachte bissig, wäh­rend ein herbeigedrängter Kava­lier das Paket aufhob, dem Mann wieder un­ters Kinn schob und der Frau mit seinem Taschentuch einen Spritzer Schneematsch von den Strümpfen wischte.

 

Gerechterweise muß gesagt werden, daß die Frau den eifri­gen Kava­lier in seine Schranken verwies, wenngleich sie damit wartete, bis seine wi­schende Hand ihre weiß be­strumpften Oberschenkel erreicht hatte und unter dem Saum ihres grauen Faltenrocks zu verschwinden begann. Aber schließ­lich war sie Katholikin, man befand sich vor Sankt Ste­phans steinstarrendem Portal, und rundumher nahmen die Vorbereitun­gen für die alljährliche Wie­derkehr des Herrn ihren eiligen Gang – von ihrem Mann ganz abzusehen, der vollbepackt daneben stand und dessen Gesichtsfarbe trotz der Kälte und sei­nes kurzen Atems drauf und dran war, von einem sehr fleischigen Rosa in ein sehr kalkiges Weiß umzu­schlagen.

Ungefähr so muß es gewesen sein, und ungefähr so ging es weiter: Hier die Frau, unwillig weiterdrängend in Richtung Ubahn und die verdor­bene Gelegenheit bedauernd, da der Mann, hinterdreinstolpernd mit seinen Paketen und seiner weißen Wut, leicht zitternd, fast schnaufend und unge­fähr zu einem Mord aufgelegt.

Wir dürfen annehmen, daß sich das friedlose Paar, der ÖBB-Frühpen­sionist und seine um 15 Jahre jüngere Frau, schweigend und voneinan­der wegstarrend über die funkel­nagelneuen Rolltreppen in die Tiefe bewegte, und wir können davon ausgehen, daß sie nicht allein waren, weder mit ihren Paketen noch mit ihrer Verstimmung oder ihrer Ungeduld.

Der Ungeduld, nach Hause zu kommen, bei ihr.

Der Ungeduld, sie loszuwerden, bei ihm.

 

*

 

Warum wird ein Mann zum Mörder? Weil er plötzlich begreift, daß er zum Mörder werden kann, und weil diese plötzlich begriffene Mög­lichkeit darauf pocht, bestätigt zu werden.

Jedenfalls nehmen wir das an.

Es war wohl um 17 Uhr 30, und auf der neuen Linie U1 – zur Zeit der mo­dernsten Ubahnlinie der Welt – verkehrten die silbernen Triebwagen in vor­weihnachtlichen Katastrophen­intervallen, automatisch gesteuert, automa­tisch beschleu­nigt, automatisch gestoppt. Eben hatte ein Zug die hell­erleuchtete Stationsröhre verlassen, schon brauste ein neuer aus dem Tunnel heran, ver­scheuchte einige fürwitzige Tauben vom Rand des Bahnsteigs und öffnete seine Türen den abgekämpften Vertretern einer wildentschlossenen Chri­stenheit.

 

Wild entschlossen war er nicht, der Mann, von dem wir reden. Wir ver­muten sogar, daß er weniger entschlossen als vielmehr getrieben war, weniger getrieben als vielmehr treibend. Wir glauben, daß er weniger trieb als still in sich ruhte – in sich und seiner Wut, in sich und seinem plötzlich erwachten Haß, der plötzlich so heiter wurde, ja lustig, mordlustig.

 

Hier nun beginnen die bruchstückhaften Berichte und Rekon­struktio­nen – denn was wir bisher erzählt haben, stützt sich auf bruchstückhafte Be­richte und Rekonstruktionen – voneinander abzuweichen. Wie es scheint, stellte der Mann, nicht im geringsten darauf bedacht, seine Absicht zu ver­schleiern, indem er etwa ein Stolpern vorgetäuscht hätte, die Pakete fein säu­berlich auf den Bahnsteig, was von seiner um 15 Jahre jüngeren Frau, die sich selbst in einem Videoschirm der Überwachungsanlage betrachtete, nicht bemerkt wurde. Der nächste Zug fuhr ein, der Mann, besagter ÖBB-Früh­pensionist, gab seiner Frau einen Stoß, das heißt, eher schob er sie, und sie, die Frau, fiel lautlos, erstaunt und im Fallen ihren Rock glattstreichend, dem Triebwagen vor die Räder.

 


Hernach ein metallisches Knirschen, kein Rumpeln freilich, kein Schreien vorerst, nur dieses dumpfe Implodieren eines ungläubigen Schreckens.

Dies die eine Version.

In dieser einen Version hätte der Mann, besagter ÖBB-Früh­pensionist aus dem zwanzigsten Bezirk, die Pakete wieder aufgenommen, wäre unbe­helligt zur Rolltreppe gegangen und kurz darauf im Gewühl der Kärntner Straße verschwunden. Dort hätte ein gemischter Chor der Ka­tholischen Ju­gend Österreichs zur selben Zeit »In dulci jubilo« gesungen.

Heißt es.

In der anderen Version – oder sollen wir sagen: in einer der anderen Versionen? – hätte die Frau die Bewegung ihres Mannes im Video­schirm wahrgenommen. Sie hätte sich halb umgedreht, seinen Arm er­griffen, und beide, der Mann wie die Frau, wären gemeinsam, ja in der Luft umschlun­gen, vor den Zug gestürzt.

Auf der Kärntner Straße hätte ein gemischter Chor der Katholischen Ju­gend Österreichs zur selben Zeit »Nun freue dich, du Christenheit« ge­sun­gen.

 

Über den weiteren Hergang herrscht Klarheit: Man verschleierte. Die Ubahn wurde aus witterungstechnischen Gründen geräumt. Die noch wenig erprobten elektronischen Systeme hätten einen Defekt, hieß es. Wer etwas Außergewöhnliches gesehen habe, hätte einen Defekt, hieß es.

Es gab keine Zeitungsberichte.

Anderntags beging Wien den ersten Adventsonntag. Der Stephans­dom reckte seinen erodierenden Turm in den fallen­den Schnee, und unten zo­gen warm vermummte Paare ihre kontrapunktischen Spuren durch den Matsch.

 

Jedenfalls stellen wir uns das vor.

 

*

 

Zum ersten Mal tauchte die verwunschene Ubahn drei Wochen spä­ter auf, in der Nacht zum 21. Dezember, der sogenannten Thomas­nacht also, die die erste Rauhnacht ist.

Ein Streckenprüfer, ein Fahrdienstleiter und drei Putzfrauen bezeugten die nachmitternächtliche Erscheinung. Ihre Aussagen finden sich im erwähnten Aktenordner U/G.127 WNNRR.

Um 2 Uhr 23, so der Streckenprüfer – und er wisse die Zeit deshalb so genau, weil sieben Minuten später sein Dienst zu Ende ging bezie­hungs­weise zu Ende gehen hätte sollen –, sei er, vom Überstellungsgleis Schotten­tor kommend, in den Haupttunnel eingebogen, als ihm erst ein Luftzug – man wisse schon, nicht eigentlich ein Luftzug, vielmehr dieses Kribbeln im Ohr –, dann ein Geräusch und endlich zwei weiße und rasch größer wer­dende Scheinwerfer das Herannahen eines Zuges aus Rich­tung Schweden­platz an­gezeigt hätten. Er habe sich in eine Schutznische gedrückt, verwun­dert zu­erst und dann beunruhigt – schließlich, das wußte er, waren keine Überstel­lung, kein Sonderzug und erst recht kein fahrplanmäßiger Verkehr vorgese­hen. Wirklich mulmig sei ihm aber erst geworden, als ihm die völlig über­höhte Geschwindigkeit des Zuges so kurz vor der Station aufge­fallen sei – das Streckensignal habe näm­lich auf Rot ge­standen, die automatischen Zug­bremsen hätten also längst schon greifen müssen, und dann, hol’s der Teufel, ob man ihm glaube oder nicht, habe er diese Frau im Führerstand ge­sehen.

Bleich sei sie gewesen, mit so einem Grinsen im Gesicht, wie das die Astronauten haben, wenn sie beim Start in die Sitze gedrückt werden. So ein gequältes Grinsen, genau so ein Grinsen sei das gewesen.

Nein, normalerweise sitze da niemand im Führerstand bei den nächtli­chen Zugsüberstellungen, schon gar keine Frau. Alles ferngesteuert und mit Computer und so. Und außerdem sei sie nicht gesessen, sondern gestanden, im Führerstand gestanden, jawohl, dieses Weib mit ihrem grünen Cape und so einer weißen Bluse, ganz weiß, richtig blendend, und ja, einen grauen Rock habe sie getragen. Davon habe er aber nicht viel gesehen, und schließ­lich sei ja auch alles so schnell gegangen, wie sie da an ihm vorbei und in die Station ... und hol’s der Teufel, einfach durch die Station durch, trotz der automatischen Bremsen und all so Sachen.

Das beschwöre er bei der Ehre seiner Großmutter, der Treue seiner Gabi und dem Meistertitel Rapids.

Soweit der Streckenprüfer.

 

Die Putzfrauen, zwei Polinnen und eine Slowenin, bestätig­ten seine Aussage und ergänzten sie um ein wichtiges Detail – wenn wir einmal ganz davon absehen, daß sie be­haupteten, der Ubahnzug sei nicht gefah­ren, son­dern über den Gleisen geflogen und ein frostiger Nebel, so was wie feiner Hagel, sei aus den Türspalten und aus den Fenstern gequollen.

 

Wir erinnern uns: Es war die erste Rauhnacht.

Diese Ubahn, so die Putzfrauen, sei mit einem schrecklich schrillen Ton, wie wenn eine Gabel über einen Teller kratzt, genau so sei sie durch die Station gebraust, und die Frau im Führerstand – der Herr sei ihrer armen Seele gnädig – habe lauthals gelacht, als ihr der Mann ... der habe wie ver­rückt gewinkt, der Mann, ganz vorne am Bahnsteig, und geschrien habe er, aber davon habe man nichts gehört in dem Lärm ... als ihr also der Mann so winkend und schreiend, Gott behüte, direkt vor den Zug gefallen sei.

Ja, dieser Mann sei schon vorher aufgetaucht, so die Slowenin, noch vor der verwunschenen Ubahn – so nannte sie die Erscheinung –, und er sei durch ihren Schaumteppich spaziert, ohne einen Abdruck zu hinterlassen mit seinem Stapel Paketen, und die wollte er ihnen schenken, die Pa­kete. Ganz grausig sei das gewesen, wo man doch wisse, was für Ge­schenke das ma­che, das Thomasmandl, die brächten Unglück, da sei die Madonna davor.

 

Anders die Polinnen: Sie hätten den Mann sehr nett gefun­den, obwohl sie ja nicht wußten, woher er kam und was er da zu suchen hatte um halb drei Uhr früh – schließlich seien die Gitter oben schon lange ge­schlossen gewesen. Aber ein Sandler, nein, ein Sandler sei er sicher nicht gewesen, sondern irgendwie ein Herr, ein richtiger kleiner Herr mit gütigen Augen, und die seien verweint gewesen, die Augen, sagten die Polinnen.

»Verhext«, sagte die Slowenin.

»Aber wo«, sagten die Polinnen. Die habe ja gar nichts mehr mit­ge­kriegt, die Sladyana, weil sie sich eingesperrt hätte am Klo.

»Nicht wahr«, sagte die Slowenin.

»Doch!« sagten die Polinnen. »Slowenin«, sagten sie, das sage doch alles. Dieser Herr jedenfalls, sagten sie, der hätte nicht reden kön­nen. Ganz stumm sei er gewesen, und dann habe er ihnen so gedeutet, daß er ihnen seine Pakete schenken wollte. Die hätten sie aber nicht an­genommen, nur einen kleinen Karton mit Lebkuchen, den schon. Gut seien die gewesen, diese Lebkuchen, aus einem ganz noblen Ge­schäft. Sie hätten doch wohl nichts Unrechtes nicht getan? Ja schon, die hätten sie alle aufgegessen, die Leb­kuchen, und die Packung hätten sie weg­geworfen. Obwohl: Der Fahr­dienstleiter, der habe doch die anderen Pa­kete genommen, das mit dem Kas­settenrecorder und das mit dem Kleid. Wo er doch unverheiratet sei, der Fahrdienstleiter. Deshalb hätten sie ja auch gedacht, das habe schon seine Ordnung irgendwie, weil sie doch wußten, daß der Fahrdienstleiter noch oben im Kontrollstand war und sie sehen konnte über die Kameras, und den Mann natürlich auch. Der hätte doch eingegriffen, der Fahrdienstleiter, wenn da irgend etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Und er sei ja dann auch herunterge­kommen, als der Mann aufs Gleis gefallen war und dieser Zug über ihn drüber, und meinerseel, wo sei der nur hingekommen, der Mann?

Sie könnten sich das nicht erklären.

Sagten die Polinnen.

»Teufelswerk«, sagte die Slowenin.

 

»Verleumdung«, sagte der Fahrdienstleiter.

Es sei ja wohl klar, daß es nie irgendwelche Pakete ge­geben habe, schon gar keins mit einem Grundig-Kassetten­recorder drinnen, so wie es diesen ominösen Mann nie gegeben habe. Das sei ja lachhaft. Dann hätte man doch irgendwelche Spuren finden müssen, Blut oder sonst­was, und habe man die vielleicht gefunden? Nein, die habe man nicht gefunden, aber­gläubisches Geschwätz, das alles.

Ja, er gebe allerdings zu, daß da dieser Zug gewesen sei, und der be­wußte Vorfall müsse in der Tat aufs sorgfältigste über­prüft werden – er habe bereits alles in die Wege geleitet. Ersten Untersuchungsergebnis­sen zufolge habe sich zur fraglichen Zeit keine Garnitur auf der fragli­chen Strecke be­funden, wenngleich man mit Gewißheit zur Stunde na­tür­lich noch gar nichts ausschließen könne. Es habe tatsäch­lich den An­schein, als hätte die elek­tronische Streckenüberwachung zur bewußten Zeit ein Objekt registriert, das, vorläufigen Auswertungen zufolge, ein Doppeltriebwagen samt dreier Zwischenwagen der Marke Simmering-Graz-Pauker sein hätte können, wo­gegen freilich die Tatsache spreche, daß das Objekt auf keines der automati­schen Bremssignale reagiert ha­be, was bei den hochentwickelten Betriebs­systemen der modernsten Ubahnlinie der Welt schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit sei.

Unter Umständen, er sage unter Umständen, habe sich mög­licher­weise ein Fehler in die Benutzerprogramme der Elektronik eingeschlichen, wofür, das müsse er hier dezidiert feststellen, auf keinen Fall die Wie­ner Verkehrsbetriebe verantwortlich gemacht werden könnten. Er plä­diere dafür – wie übrigens schon einmal vor drei Wochen –, eine generelle Überprüfung auf Kosten des Ausstatters vornehmen zu lassen und allen­falls, sollte sich das als notwendig erweisen, die betreffende Firma auf Schadenersatz wegen fortgesetzter Betriebsstörungen infolge inak­zeptabler Unregelmäßigkeiten zu klagen.

 

Was seine erste Aussage betreffe, seine angebliche Sich­tung des be­wuß­ten Objekts, so müsse er sie insofern rela­tivieren, wenn nicht gar, er sa­ge wenn nicht unter Umstän­den sogar revidieren, als er inzwischen nach reiflicher Überlegung zum Schluß gekommen sei, daß ihm vielleicht seine Nerven, er sage womöglich und mit Vorbehalt ... schließlich habe er in zu­gegebenermaßen vielleicht etwas übereifriger Diensterfüllung etliche Über­stunden absol­viert, man wisse schon, in seiner Position sei das manch­mal unumgänglich ... daß sie womöglich überreizt gewesen seien, seine Nerven, das könne man nicht ausschließen.

Ja, so der Fahrdienstleiter, ja, er bestehe allerdings auf einer rückhalt­losen Aufklärung des Vorfalls. Schließlich sei die modernste Ubahn­linie der Welt keine Geisterbahn. Und nun wolle man ihn entschuldi­gen, er habe noch mit diesen drei pflichtvergessenen Putzfrauen zu re­den und einen Strecken­prüfer wegen Trunkenheit im Dienst fristlos zu entlassen.

 

Es gab keine Zeitungsberichte.

 

*

 

Die gab es nie, und das erstaunt uns nicht weiter.

So, wie es uns kaum erstaunt, wenn wir der verwunschenen Ubahn – den Namen wollen wir beibehalten – in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder begegnen. Vorausgesetzt, wir trauen einem gewis­sen Akten­ordner und unserer eigenen Vorstellung.

Einmal aufgetaucht, wurde der nachmitternächtliche Spuk zu einer fe­sten Einrichtung, zu einer Legende, die unter Angestellten der Wiener Ver­kehrsbetriebe genauso selbst­verständlich ist, wie es der Klabauter­mann in früheren Zeiten für die Seefahrer war. Und wenn wir davon ausgehen, daß es immer die Freibeuter und mit Bann Belegten waren, die dem Klabauter­mann oder dem Fliegenden Holländer be­gegneten, die Gesetzlosen, die Lan­desflüchtigen, Schiffbrüchigen und Aussätzigen – der Schiffsjunge eher als der Maat, der versoffene Steuermann eher als der Kapitän –, so können wir sagen, daß es immer die Randexistenzen waren, die die verwunschene Ubahn sahen oder aber darauf beharr­ten, sie gesehen zu haben: Einsame Streckenprüfer, ausländische Putz­frauen, Obdachlose und Sandler, verirrte Nachtschwärmer, delirierende Dichter, Huren auf der Flucht vor einem ge­walttätigen Freier, schlaflose Männer auf der Suche nach der Dritten Frau, somnambule Großstadt­jäger – ohne Waffe, ohne Hochstand, ohne Wild.

 

In jenem Winter 78/79 soll die verwunschene Ubahn sowohl in den Stationen als auch in der Wendeanlage Favoriten gesehen worden sein, so­wohl stehend oder schwebend als auch in voller Fahrt, sowohl als flüchtiges Phantom als auch in aller furchteinflößenden Schönheit.

Denn das soll sie gewesen sein: Schön.

Und das soll sie verbreitet haben: Furcht.

Bis zum Dreikönigstag kehrte sie jede Nacht wieder. Und immer stan­den entweder diese Frau oder dieser Mann im Führerstand, und immer war­fen sich entweder dieser Mann oder diese Frau vor den Zug. Und immer wurde nichts gefun­den. Und immer wurde nichts berichtet. Und immer blieb nur ein leichter Geruch von Zimt in den Stollen zurück, von Lebkuchen und einem schweren weiblichen Parfum.

Später, in den darauffolgenden Jahren, soll sich die verwunschene Ubahn nach und nach mit anderen Leuten ge­füllt haben – oder müssen wir sagen: mit den Gespenstern anderer Leute? Mit jugendlichen Selbstmördern, gebrech­lichen Senioren, unglücklichen Liebespaaren und abgängigen Kin­dern. Mit ruhelosen Wiedergängern, die bleich auf den Sitzen lungern, im Mittelgang auf und ab gehen oder wie Gekreuzigte an den Haltestangen lehnen.

Das seien die Geister der Ubahntoten, heißt es. Das seien die unerlös­ten Seelen all jener, die Woche für Woche unter die Räder kommen.

 

Und ist es nicht so, daß wir manchmal innehalten, wenn die Lautspre­cher eine Betriebsstörung bekanntgeben, und uns fragen, wer es diesmal war?

Wer diesmal gegangen ist und warum?

Und könnte es nicht sein, daß eine verlorene Geliebte, daß ein ver­schwundener Freund Nacht für Nacht in jener Ubahn sitzt und die Sta­tionen nach einem Lichtblick absucht?

Nach uns.

Und wachen wir nicht manchmal auf, in jenen elektrischen Nächten, in denen die Stadt wie ein riesiges Tier in den Himmel stöhnt, wachen wir dann nicht auf und hören ein Pochen, das an die Fundamente unserer Häuser rührt, ein Pochen, dumpfer als unser Puls und tiefer als unser Herz?

Und dann ein Beben. Und dann ein Knirschen. Und dann ein epide­mi­sches Knattern, als würden Tausende Käfer zerdrückt, Chitin auf Stahl, der Schorf reißt auf, und ist es nicht diese silberne Ubahn, die dann durch unsere Adern fährt, parabolisch heulend, singend, halb durchsichtig, diese verwun­schene Ubahn, die durch unsere Köpfe kreist, die durch unser Becken kreist, diese verwunschene Ubahn, die endlos kreist und kreist und kreist – ein computerge­steuerter Geist in den unterirdischen Schluchten Wiens, ein Phantom, ein Maschinenzombie, der einzige Zug von Linie Null.

 

 


 

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