Ekkehard Jost "Sozialgeschichte des Jazz"

gebunden, 420 Seiten, zweitausendeins
www.zweitausendeins.de

 

Josts Werk ist seit seiner Erstausgabe 1982 eines der lesenwertesten Bücher zum Thema. Nun liegt eine aktualisierte Neuausgabe vor, die in 100 Seiten die Betrachtungen auf die letzten 20 Jahre der Entwicklung ausdehnt ("Das letzte Kapitel?"). Dabei hat der Autor die Abschnitte, die die Zeit bis 1980 abdecken, unverändert übernommen und dies verlangt vom Leser ein besonderes Maß an kritischer Wachsamkeit. Denn je kürzer seinerzeit die Ereignisse zurücklagen, desto fragwürdiger erscheinen aus heutiger Sicht manche damals aufgestellten Behauptungen und lassen die Kapitel unfreiwillig selbst zu "Geschichte" werden.

 Die pauschale Verdammung der "Fusion" der 70er Jahre (getreu nach dem Dogma, jede kommerziell erfolgreiche Kunst könne nicht anders als unkreativ sein) und die konsequente Verurteilung von Miles Davis als "Verräter an der Sache" lässt sich heute in dieser Schärfe sicher nicht mehr halten. Einerseits stellt sich die Szene inzwischen durch eine Vielfalt seinerzeit nicht verfügbarer Tondokumente um einiges differenzierter dar, andererseits scheint Jost damals selbst vom Sog einer negativen "Fachpresse" erfasst gewesen zu sein. Etwas wovor er selbst wohl energisch gewarnt hätte, hätte er nur den leisesten Verdacht gehegt. Jost spricht die Problematik der fehlenden historischen Distanz im Vorwort an, ohne jedoch spezifisch zu werden.

Die Erstausgabe des Buches von 1982 hieß mit Recht präzisierend "Sozialgeschichte des Jazz in den USA". Jost bestätigt zwar, dass die wesentlichen Impulse der letzten 20 Jahre aus Europa kamen und der kreative Jazz ohne die Begeisterung des europäischen Publikums längst tot wäre, beschränkt sich bei der Aufarbeitung dieser Zeitspanne aber dennoch auf die Analyse rein amerikanischer Phänomene: auf den "Jazzkrieg" rund um den Ultrakonservativen Zirkel von Wynton Marsalis, die Knitting Factory, den Kreis um John Zorn und Steve Colemans M-Base. Wie schon in der Fusion-Periode, so verstellt die Konzentration auf "unangepasste Innovation" dem Autor auch den Blick auf einige Phänomene der letzten 20 Jahre (das "Groove-Revival" und dessen Verbindungen zur Sampling- und Elektronik-Szene, Strömungen des Acid- und Nu-Jazz, "World Music" usw.). Ob "kommerziell" oder nicht, ob willkommen oder abgelehnt, sie hätten – gerade in sozialgeschichtlicher Hinsicht - zumindest eine Erwähnung verdient, ohne gleich (ab)gewertet werden zu müssen. Das neutrale Aufzeigen von Entwicklungen scheint dem Autor allerdings – einst wie jetzt - nicht leicht zu fallen.

Trotz – oder wegen – der Fülle an kontroversiellen Aspekten: das Buch ist spannend und stilvoll geschrieben und damals wie heute ein mutiger, kompetenter und wertvoller Beitrag, über "Jazz und verwandte Musikarten" mit einer breiteren Perspektive zu diskutieren. Wenn der Leser dabei vergisst, dass sich bei solch einem Unterfangen die persönliche Sicht (letztlich Geschmack und Weltanschauung) nie gänzlich ausblenden lässt, ist er selbst schuld. (Stubenrauch)