Der Pianist, Bandleader, Komponist, Dichter, Denker und Lenker Sun Ra war wohl eine der faszinierendsten Persönlichkeiten die die (Jazz)Welt je gesehen hat. Nicht nur sein musikalisches Schaffen polarisierte – geliebt von seinen Fans, von seinen Gegnern als Scharlatan abgetan – sondern auch seine zu Papier gebrachten Ansichten und Gedanken. Bisher vor allem Insidern gekannt, liegen nun die gesammelten Texte (endlich) in Buchform vor. Schon beim Auspacken des über 530 Seiten starken Buches werden bei mir Erinnerungen wach. Zum ersten Mal sah und hörte ich Sun Ra 1979 beim Jazzfestival in Wiesen. Das war damals als das Festival Wiesen nicht in Wiesen sondern im Steinbruch von Sauerbrunn stattfand und man nicht ausschließlich auf irgendwelche Jazzverschnitte setzte, die Massen anlocken. Der Auftritt Sun Ra muss irgendwann nach Mitternacht stattgefunden haben, so genau weiß ich das nicht mehr, aber ich weiß noch, dass mir Gilmore und Co. schon beim Intro das Hirn aus dem Schädel bliesen. Auf so etwas war ich nun wirklich nicht vorbereitet und als das Arkestra dann einfach so in eine Swingnummer kippte war ich vollends überfordert. Ich flüchtete vom (großen) Zelt ins (kleine) Zelt und ließ mich von Sun Ra in den Schlaf spielen. Nix mit Liebe auf den ersten Blick (oder beim ersten Hören) also. Doch ich hatte die Rechnung ohne die Wiener Kaufhäuser gemacht. In einem von ihnen entdeckte ich einige Monate später in der Ramschkiste der Schallplattenabteilung ein Exemplar von „Nothing Is..“ (ESP Disk). Weil die Platte gar so günstig war (fast geschenkt) griff ich zu und als ich sie dann hörte.. was soll ich sagen - „man, did I get hooked!“. Ab diesem Zeitpunkt ging die Jagd auf Sun Ra Platten los. Kein einfaches Unterfangen, denn viel gab es damals wirklich nicht auf dem Markt. Von Lesestoff ganz zu schweigen. Internet war nicht und so blieben halt die wenigen Seiten die sich in den Büchern von Behrendt oder Polillo fanden. Ab und zu eine Platten- oder Konzertrezension im Jazzpodium. Und dann… dann eröffnete in Wien das „Akut“, ein Plattengeschäft der anderen Art und eins, zwei, drei wuchs meine Sun Ra Sammlung. Da gab es ab und zu Scheiben, die Ra auf seinem Saturn Label veröffentlichte und die von den Musikern bei Konzerten verkauft wurden. Nicht die beste Tonqualität, null Informationen in Sachen Besetzung oder Titel aber von Hand aufgebrachte Rubbelbilder ominöser „Spaceagents“ oder dergleichen und handgemalte ägyptische Gottheiten. Das war fast schon das Schlaraffenland. Vor allem als sich eines schönen Tages eine Kopie von Tilman Stahls Sun Ra Diskographie im Laden fand und eine Jazzlive Ausgabe mit einem Artikel von „Gröli“ Stöger über Mr. Omniverse. Endlich Information! Ein Blick (wenn auch nur ein kleiner) in die Welt „Outer Space“. Und erstmals einige Kostproben „of his own words“. So ging es einige Jahre dahin. Freude über jede neu erstandene Platte, Freude über jeden, wenn auch noch so kurzen Artikel in den diversen Jazzmagazinen, Freude über jedes Ra Konzert. Und dann ganz plötzlich wiederholte sich der Urknall. Meine ach so geliebten schwarzen (manchmal auch roten oder blauen) Vinylscheiben waren im Handel rar geworden, stattdessen machten sich in den Regalen kleine Silberlinge breit. Der anfängliche Wehmut war spätestens dann verflogen, als das Label „Evidence“ ein großes Sun Ra Reissue Programm startete. Viele der alten „impulse!“ und „Saturn“ Aufnahmen, für die man bei Auktionen schweres Geld hinlegen musste waren plötzlich erschwinglich geworden. Das Paradies war auf die Erde zurückgekehrt und das war noch gar nicht alles. Jetzt tauchten auch noch Bücher zum Thema Sun Ra auf. „Space Is The Place: The Lives And Times of Sun Ra“ von John F. Szwed, Robert Campbells „The Earthly Recordings Of Sun Ra“ und vorher schon „Omniverse Sun Ra“ von Hartmut Geerken. Dieses Werk ist für mich immer noch eine der schönsten, wenn nicht die schönste Diskographie die in Buchform vorliegt. Hartmut Geerken war auch eine der treibenden Kräfte, die hinter dem nun vorliegenden Projekt steckten. Bei seiner Begegnung mit Sun Ra Anfang der siebziger Jahre des voreigen Jahrhunderts in Ägypten schrieb er einige Gedichte Sun Ras auf Papierservietten ab. Im Laufe der Zeit reifte der Gedanke Ras gesammelte Text in einem Buch vorzulegen. „Not an easy undertaking“ wie sich herausstellte. Die Veröffentlichung verzögerte sich immer wieder. Bereits 2003, in einer der letzten Ausgaben von JAZZLIVE durften wir Geerkens Anmerkungen zur Dichtung Sun Ras abdrucken. Dieser Text findet sich auch in einer englischen Übersetzung in „The Immeasurable Equation“. Dazu gibt es noch Essays von James L. Wolf, Sigrid Hauff, Klaus Detlef Thiel und Brent Hayes Edwards sowie einige bisher unveröffentlichte Fotos von Robert Lax und Angelika Jakob. Sun Ras Prosa umfasst zirka 30 Seiten, der Löwenanteil mit weit über 400 Seiten ist seinen Gedichten vorbehalten. Hier schließt sich für mich der Kreis. Es sind Gedichte, die mir manchmal, im Stile von Gilmore und Co. das Hirn aus dem Schädel blasen, die manchmal kindlich-naiv wie ein Song aus dem längst vergessenen Repertoire einer Swingband daherkommen, die mich manchmal heillos überfordern, ihren Sinn auch nach mehrmaligem Lesen nicht preisgeben um sich dann nach Zerpflücken und Zerlegen, nach Umkehren und von Innen nach Außenstülpen plötzlich offenbaren. Vieles was Sun Ra zu Papier brachte ist für mich wie eine aufgehende Sonne – strahlend, hell, klar. Vieles bleibt (noch) im Verborgenen, doch da ist es ähnlich wie mit seiner Musik. Manche Aufnahmen entwickeln eben erst nach mehrmaligem Hören ihren Reiz, manche möglicherweise überhaupt nie und manche „blasen mir noch immer das Hirn aus dem Schädel“! Pepsch Muska
SUN RA – THE IMMEASURABLE EQUATION The Collected Poetry and Prose Compiled and edited by James J. Wolf and Hartmut Geerken
WAITAWHILE Books on Demand, Norderstedt 2005. 530 S., 49,50 €.
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