Mal Waldron

I’m Gonna Be Around A Long Time

Mal Waldron (1980) by Hans Kumpf

Die Karriere des Pianisten Mal Waldron, Jahrgang 1926 (oder 1925, die Angaben variieren), beginnt Mitte der 50-er Jahre im Jazz Composers Workshop von Charles Mingus, in dem Third-Stream Experimente mit Bebop und ersten Ahnungen von Freejazz-Avantgarde verschmelzen. Mingus, der Pianist, sei sein größter Einfluss gewesen, Monk ein weiterer, sagt er. Mit Billie Holiday schließlich, deren letzter Pianist er ist, verbindet ihn eine tiefe Freundschaft und die Erkenntnis, dass das Bewusstmachen der jeweiligen Songtexte seinen Soli eine zusätzliche Tiefe verleiht. Ende der 50-er Jahre ist Waldron als vielbeschäftigter Hauspianist bei Prestige als Begleiter und als Komponist an unzähligen Plattenaufnahmen beteiligt. Zur Dämmerstunde des Freejazz ist er bei wichtigen Sessions u.a. mit John Coltrane, Eric Dolphy und Max Roach dabei. Musikalische und politische Radikalität sind die Zeichen der Zeit. Und es kommt zur ersten einer lebenslangen Serie von Kooperationen mit Steve Lacy: Sie spielen Monk-Themen.

Waldrons Produktivität ist Anfang der 60-er Jahre enorm. Aber ihr steht ein ebenso enormer Druck gegenüber. Schlechte Arbeitsbedingungen, Rassismus, kulturelle Ignoranz, Alkohol und Drogen beherrschen den Alltag des Jazzmusikers. Nur knapp entgeht Waldron dem tragischen Schicksal vieler seiner Kollegen, die zu früh das kreative oder gar das physische Ende erleiden. Als Langsamentwickler braucht er eben länger als Dolphy oder Coltrane, die in wenigen Jahren ihren gültigen Beitrag formulieren und dann abtreten können. 1963: Einjähriger Klinikaufenthalt nach einem Totalzusammenbruch. Elektroschocks. Er lernt zum zweiten Mal, Klavier zu spielen, indem er seine eigenen Aufnahmen zu Hilfe nimmt. 1965: Emigration nach Europa, wo er endlich die ersehnte Anerkennung erfährt und einen förderlichen Kulturboden vorfindet. Er lässt sich in München nieder und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der europäischen Jazzszene. Zwei seiner Alben stehen am Anfang von ECM und ENJA und einer großen Fülle von weiteren Plattenaufnahmen mit den verschiedensten Formationen und musikalischen Partnern. Vermehrt spielt er auch solo und im Duo, oft mit seinem Alter Ego Steve Lacy, einem anderen Wahleuropäer. Seine Spielweise wird gleichzeitig freier, einfacher und ausgeprägter. In Japan wird er zum gefeierten Star.

"Ich werde noch lange Zeit hier sein, weil meine Sache noch nicht abgeschlossen ist; sie müssen mich hier unten lassen bis es soweit ist". Das sagt Mal Waldron vor 19 Jahren. Sein Leben entwickelt sich langsam. Er braucht Zeit, seine Kunst zu entfalten. Das sind die Konstanten in seinem Schaffen: Zeit und Entwicklung. Entwicklung braucht Zeit. Sein persönlicher Stil entfaltet, vertieft und verbreitert sich über Jahrzehnte hinweg – von Swing über Third Stream zu Bebop und Free - in der gleichen Weise, wie er ein musikalisches Thema seziert und breit klopft, die Noten auswringt, bis sie nichts mehr hergeben, und sich dann den nächsten zuwendet. Darin ist er ein Verwandter Thelonious Monks. Die Kraft der Wiederholung ist die Kraft der Verstärkung. Ihr Ziel und Zweck ist jedoch das Freilegen tiefster Emotion, nicht musikalische Strukturanalyse. "Ich will nur emotional spielen, auf emotionaler Ebene reagieren, ohne dass die Musik eine Form, rhythmische Muster oder harmonische Struktur hat." Seine Musik hat zwar all das, aber entscheidend ist, dass ihr eigentliches Wesen auf einer höheren Ebene angesiedelt ist: auf der Gefühlsebene. Und vielleicht zielt sie sogar noch weiter, in Richtung Transzendenz. Einfachheit, Intensität und Schönheit sind die Begleiter dorthin.

Mal Waldron repräsentiert den raren Typus des ausdauernden, zielstrebigen Künstlers, der die Kraft hat, seinen Weg trotz vielfältiger Schwierigkeiten und anscheinend völlig unbeirrt von jeglicher Mode zu beschreiten. Sein beständiges Schaffen hält ungebrochen bis zum Sommer 2002 an. Waldron stirbt am 2.12.2002 in Brüssel nach kurzer Krankheit. Er wird noch lange um uns sein, sehr lange. In Form seiner zeitlosen Musik.

(Robert Stubenrauch; Zitate basieren auf einem Interview mit Graham Lock in dessen Buch "Chasing The Vibration")