19. KALEIDOPHON

30.4.-2.5.2004

 

Selten zuvor wurde die Absicht einer in sich schlüssigen Dramaturgie durch den Kaleidophon-Programmierer so deutlich wie heuer, als Alois Fischer, der Primus inter pares des Ulrichsberger Jazzateliers, jeden der drei Festivaltage nach gewissen Gesichtspunkten ausrichtete. Tag eins wurde Rock-nahen Künsten zugeordnet, Tag zwei dem Jazz aus einst und jetzt – mit Ausflugsmöglichkeit in zwei Randgebiete, Tag drei widmete sich dem Phänomen Braxton und den Folgen, wurde allerdings (andere Baustelle!) eingeleitet von einem Kirchenkonzert der Small Worlds in der Regie von Werner Dafeldecker, mit John Tilbury am Klavier und Klaus Lang an der Orgel, etwas weihevoller Strenge im Parterre und hintergründigen bis pfiffigen Einwürfen im Empore. Vielleicht ist Lang ja der wahre Punk der Neuen Musik, auch wenn er das vehement abstritte, oder wenigstens ein Hort ständiger Subversion.

So, jetzt kann man von der Einteilung in Disziplinen halten, was man will. Am Beispiel der jährlichen „Falter“-Charts etwa, wo die besten Musiken Jahr für Jahr schlicht nicht vorkommen, weil sie sich a) gegen jede Disziplinierung sträuben und daher b) ihrer Propagierung – an der wir Journalistinnen bekanntlich die Hauptschuld tragen – namentlich zum Opfer fallen, erweist sich der ganze Unsinn stilistischer Einschränkungen. So wurde Morgan Guberman, zusammen mit der prima Posaunistin Gail Brand, in der Planter Box an den 1. Tag vermietet, wohl weil er nebenbei auch in diversen Punkbands singt/schreit/performt. Völlig unerheblich, er ist halt dort und da daheim, Hauptsache die Leute, mit denen er sich abgibt, sind cool genug. Ein sagenhafter Stimm-Improvisator, dieser Guberman, der mit den Mitteln der Sprache, der Lautmalerei, der Geräusche, des Spontanen und der Wandlungsfähigkeit dazwischen hingebungsvoll spielt, um mit Brands rasanten Posaunen(ober)tönen in einen wahlweise witzigen und/oder tiefschürfenden Dialog zu treten.

 

Das hübsch genaue Gegenteil an ästhetischer Palettenbreite legte, wie schon damals auf der Saalfelden-Hauptbühne, das Scorch Trio ans Ende des Tages. Eine eindimensionale Fusion-Nudelsuppe von Björkenheim, Nilssen-Love beim kläglichen Versuch des Free-Rock-Schlagzeugens, Haker Flaten wie ein Novize am E-Bass. Nur gut, dass das schon die einzige deutliche Niederlage am dreitägigen Match in Ulrichsberg gewesen sein sollte. War doch unmittelbar davor ein Triumph im Programm zu feiern: Thermal, die Verknüpfung der Elemente Jazz (John Butcher), Impro-Rock (Andy Moor) und Elektronik (Thomas Lehn) – zugegeben, erst recht wieder nach Disziplinen aufgelistet. Stilistisch gesehen: drei unterschiedliche Charaktere; charakterlich gesehen: ein gemeinsamer Stil. Allein die körperlich sichtbare Art Lehns, an den Knöpfchen zu drehen, flankiert von Butchers Feinheiten und Moors rauer Schönheit, besticht. Und immer wenn Andy das Ruder übernimmt, in seinem Fall das Stromruder, ist der Estrich so gut wie gelegt für fantasievolles Spiel.

 

Den Tag der Arbeit – im Mühlviertel von der bäuerlichen Bevölkerung traditionell boykottiert bis hintertrieben (mit demonstrativer Feldarbeit! Adel!), zugleich aber durch die Grenznähe unmittelbarer Schauplatz der mit diesem Tag datierten EU-Erweiterung – nahm die Gruppe Monocle zum Anlass für Seltsames. Drei Clavichords, die historischen Vorläufer des Cembalos, dazu eine Blöckflöte und ein Notebook: Was sich am Papier sowas von abgefahren liest, versenkt sich realiter in Übungen schier maßloser Zurückhaltung. Schon der dünne, kaum wahrnehmbare Sound der Clavichords steigert diese Übungen ins Zen-Buddhistische. Eine Schule der Aufmerksamkeit, die allerdings nur punktuell belohnt wird. Wer angesichts der nagelneuen Monocle-CD (auf Extraplatte) den Kopf schüttelte, hoffte auch live umsonst auf neue Aufschlüsse.

 

Ah, da sind wir eh schon bei Höhepunkt numero zwo: beim supersympathischen Larry Ochs, postiert zwischen Miya Masaoka an der Koto und Peggy Lee am Cello. Nur wenig Plingpling am Beginn, dann gehts gleich zur Sache. Kammermusik de luxe: Ochs lotet alle Höhen und Tiefen seines schwer verrauchten Tenorsax‘ aus, Lee sägt hart, Masaoka traktiert ihr gut zweieinhalb Meter langes Trumm mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Fa-bel-haft, nicht nur an den stillen, mit Melancholie gefütterten, bis zur inneren Erschütterung bewegenden Stellen. Sondern durch das Unter-einen Hut-Bringen des Spröden und des Anmutigen, des Intellekts und der Emotion. Ein Glücksgefühl, auch für Nachschlagbedürftige: die herrliche, gleichfalls nagelneue CD „Fly Fly Fly“ (Intakt), nur mit der leider erkrankten Kronos-Quartett-Cellistin Joan Jeanrenaud anstelle von Peggy Lee. Da störte es dann wenig, dass die daran anschließende Partie von Ab Baars, Kinda Dukish, mit ihrer heutigen Sicht auf die gestrigen Ellington-Sachen nur hartgesottene Jazzfans nicht kalt ließ.

 

Und, wo gehen wir nachher hin? In die Disco? Nein, lieber in die Tiefgarage der nahe gelegenen Firma, zu deren Produkten man nicht Leberkäse sagen darf. Xavier Charles und Martin Tetreault treffen sich dort unter dem Kürzel MXCT und bringen die Dinge zum Schwingen: Kugeln, Becher und andere Objekte auf vibrierenden Oberflächen, weit nicht so spektakulär wie in Charles‘ Silent Block, aber immerhin. Dazu Tetreaults Grobheiten gegen Platten und Elektronen. Alles mehr beschaulich als wüst angelegt, schön zum Anschauen, die Wurzeln der Improvisierens und des Techno in einen Topf pflanzend. Eh voll okay, aber doch unter den nach zwei Welt bewegenden Silent-Block-Konzerten weit hinauf geschraubten Erwartungen.

 

Last but not least: Anthony Braxton. Der (59 Jahre) alte Meister, der seit jeher die afroamerikanische mit der europäischen Avantgarde in Einklang bringt, war nach zehn Jahren Unzugänglichkeit wegen dessen Lehrtätigkeit an der Wesleyan-Uni in Middletown, Connecticut, wieder für Ulrichsberg verfügbar. Braxton startete mit einem Hurra in sein Altsax-Soloset, dass man dachte, er wolle das gesamte Charlie-Parker-Repertoire in zwei Minuten reflektieren, wechselte aber unvorhergesehen in die epische Breite, sprang von der Härte in die Weichteile und flößte dem gebannten Publikum den gleichen Respekt vor dem Kräftigen wie vor dem Flüchtigen ein, verlor dabei insoweit den Boden unter den Füßen, als er sich erst mit sporadischem Augenaufschlag vergewisserte, wohin ihn die Obsession gerade verschlug, richtete sich wieder frontal ein – und hob erneut ab. Nach einer Stunde Intensivkurs zwang ihn ein Schwächeanfall zum Aufhören, mehrmalige Wiederversuche schlugen fehl, bis er endlich, konfrontiert mit gleich reihenweise stehenden Ovationen seiner Fans, denen schon der Atem stockte angesichts von Braxtons körperlichem Zustand, das Handtuch warf. – Tja, und zur Zugabe des abschließenden Quartetts von Frank Gratkowski stand er wieder auf der Bühne und blies munter mit. In einem Ensemble, das nach dem fulminanten Braxton-Erlebnis nur reißbrettartig konstruiert wirken konnte. Kurzfazit: Man wird den 2004er Kaleidophon-Jahrgang eine Zeitlang in Erinnerung behalten müssen. Aber gern.

 

DURRUTI