«Die? Richten? Damit sie wieder geht?» fragte der Antiquar erstaunt, schob seine Brille auf die Stirn und blickte mich verdutzt an; «warum wollen Sie eigentlich, dass sie wieder geht? Sie hat doch nur einen einzigen Zeiger – und keine Ziffern auf dem Weiserblatt», setzte er hinzu, die Uhr beim grellen Schein der Lampe versonnen betrachtend, «nur Blumengesichter, Tier- und Dämonenköpfe statt der Stunden.» Er begann zu zählen, sah mich fragend an: «Vierzehn? Man teilt den Tag doch in zwölf Teile ein. Hab’ noch nie ein so seltsames Werk gesehen. Ich rate Ihnen, lassen Sie sie wie sie ist. Schon zwölf Stunden im Tag sind schwer genug zu ertragen. Von diesem Zifferblatt die richtige Zeit abzulesen? Wer gäbe sich heute die Mühe. Nur ein Narr.»
Ich wollte nicht sagen, dass ich ein Menschenleben lang ein solcher Narr gewesen war, nie eine andere Uhr besessen hatte, vielleicht deshalb sehr oft zu früh gekommen war, wo ich hätte warten sollen – und schwieg.
Der Antiquar schloss daraus, ich wolle auf meinem Wunsch beharren, sie wieder gehen zu sehen, schüttelte den Kopf, nahm ein Elfenbeinmesserchen und öffnete behutsam das edelsteinverzierte Gehäuse, darauf in Email ein Fabelwesen gemalt war, auf einer Quadriga stehend: ein Mann mit Frauenbrüsten, zwei Schlangen statt der Beine, einem Hahnenkopf und in der rechten Hand die Sonne, in der linken eine Peitsche.
«Vermutlich ein altes Familienstück», riet der Antiquar. «Erwähnten Sie nicht vorhin, sie sei diese Nacht stehengeblieben? Um zwei Uhr? Der kleine rote Büffelkopf mit den beiden Hörnern bedeutet doch wohl die zweite Stunde?» Ich war mir nicht bewußt, etwas derartiges gesagt zu haben, aber tatsächlich war die Uhr in der vergangenen Nacht um zwei stehen geblieben. Mag sein, ich hatte davon gesprochen, jedoch: ich konnte mich nicht erinnern, ich fühlte mich noch zu angegriffen – ich hatte um dieselbe Zeit einen schweren Herzkrampf gehabt und geglaubt, ich müsse sterben. Im Wanken meines Bewußtseins hatte ich mich noch an den Gedanken geklammert: wenn nur die Uhr nicht stehen bleibt. Im Dämmer meiner schwindenden Sinne mußte ich Herz und Uhr in den Begriffen verwechselt haben. Vielleicht denken Sterbende ähnlich. Vielleicht bleiben aus diesem Grunde so oft die Uhren in den Todesstunden ihrer Herren stehen? Wir kennen die magischen Kräfte nicht, die bisweilen einem Gedanken innewohnen.
«Es ist merkwürdig», sagte der Antiquar nach einer Weile, hielt sein Vergrößerungsglas in die Nähe der Lampe, so dass der blendende Brennpunkt scharf auf die Uhr fiel, und wies mir eingravierte Buchstaben auf dem inneren goldenen Deckel. Ich las:
«Summa Scientia Nihil Scire.»
«Es ist merkwürdig», wiederholte der Antiquar, «diese Uhr ist ein Werk des ‘Wahnsinnigen’, ist in unserer Stadt gemacht worden. Ich glaube nicht zu irren. Es gibt nur sehr wenig solcher Stücke. Ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich gehen könnte. Hab sie für Spielerei gehalten. Eine kleine Marotte von ihm, in alle seine Uhren die Devise zu schreiben: ‘Höchstes Wissen, nichts zu wissen’.»
Ich begriff nicht recht, was er meinte; wer mochte der «Wahnsinnige» sein, von dem er sprach? Die Uhr war sehr alt, sie stammte von meinem Großvater, aber was der Antiquar soeben gesagt, hatte doch geklungen, als lebe der «Wahnsinnige», aus dessen Hand sie hervorgegangen sein sollte, noch heute!
Ehe ich fragen konnte, sah ich im Geiste – deutlicher und schärfer, als ginge er durchs Zimmer – einen Mann durch eine Winterlandschaft schreiten, einen schlanken hochgewachsenen Greis, ohne Hut, mit vollem, im Winde wehenden schneeweißem Haar, der Kopf sonderbar klein in Kontrast zu der ragenden Gestalt, das scharfgeschnittene Gesicht bartlos, die Augen schwarz, fanatisch blickend und dicht beieinander stehend, wie die eines Raubvogels. In einem langen, verschabten, verschossenen Mantel aus Samt; wie ihn einst die Nürnberger Patrizier trugen, schritt er einher.
«Ganz recht», murmelte der Antiquar und nickte zerstreut, «ganz recht, der ‘Wahnsinnige’.»
Warum sagt er «ganz recht?» dachte ich bei mir. «Es ist ein Zufall», wußte ich sofort; «leere Worte sind’s, nichts weiter. Ich habe doch den Mund garnicht aufgetan. Er hat dies ‘ganz recht’ nur gebraucht wie es so oft geschieht wenn man einen soeben gesprochenen Satz bekräftigen will; es hat keinen Bezug auf den alten Mann, den ich als Erinnerungsbild gesehen habe, keinen Bezug auf den – ‘Wahnsinnigen’! Als ich, ein kleiner Junge damals noch, in die Schule ging, immer mußte ich an einer langen, kahlen, mannshohen Mauer vorbei, die einen Park von Ulmen umschloss, Jahre hindurch, Tag für Tag war mein Gehen zum Laufen geworden, wenn mich der Weg daran entlang führte, denn jedesmal packte mich eine unbestimmte Furcht. Vielleicht – ich weiß es heute nicht mehr – weil ich mir einbildete – oder gehört hatte – ein Wahnsinniger hause darin, ein Uhrmacher, der behauptete, Uhren seien lebendige Wesen… oder irrte ich mich? Wäre es eine Erinnerung an ein Erlebnis aus meiner Schulzeit, wie konnte es sein, dass etwas, was ich wohl tausendmal gefühlt, bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis schlummernd gelegen hatte, um jetzt erst mit solcher Lebendigkeit aufzubrechen? …Freilich, wohl vierzig Jahre waren seitdem vergangen; aber gab das eine Erklärung?»
«Vielleicht habe ich es in der Zeit erlebt, die meine Uhr mehr zeigt als eine gewöhnliche!» sagte ich belustigt. Der Antiquar blickte befremdet auf und starrte mich verständnislos an.
Ich grübelte weiter und kam zur Gewissheit: die Mauer, die den Park umschließt, steht heute noch. Wem hätte daran gelegen sein können, sie einzureisen? Damals hat’s doch geheißen, sie sei die Grundmauer einer Kirche, die später zu Ende gebaut werden sollte. So etwas zerstört man nicht! Vielleicht lebte auch der Uhrmacher noch? Sicherlich würde er meine Uhr, die ich so liebte, wieder richten können. Wenn ich nur wüßte, wann und wo ich ihm begegnet war? Es konnte vor kurzer Zeit unmöglich gewesen sein, denn jetzt war Sommer, und in der Erinnerung soeben – hatte ich sein Bild in Winterlandschaft im Geiste gesehen! Zu tief in Gedanken versunken, als dass ich der langen Erzählung hätte folgen können, in der sich, mit einem Male redselig geworden, der Antiquar erging, vernahm ich nur in Pausen einige abgerissene Sätze. Sie rauschten auf mich zu, verstummten und kamen wieder, wie brandende Wellen; dazwischen das Sausen in den Ohren; das Brausen des Blutes, das der alternde Mensch vernimmt, wenn er lauscht, und nur im Lärm des Tages vergißt; – das unablässige, drohende, ferne Sausen des aus den Schlünden der Zeit her langsam sich nähernden Geiers ‘Tod’…
Ich wußte kaum: war er’s, der da, die Uhr in der Hand, zu mir sprach, oder war’s der Mund jenes Wesens in mir, das zuweilen aufwacht in einem einsamen Herzen, wenn man an die verschlossenen Schreine rührt, die vergessene Erinnerungen heimlich behüten, damit sie nicht zu Moder verfallen? Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich dem Antiquar zunickte und dann wußte ich: er hat etwas gesagt, was mir bekannt gewesen war, aber wollte ich mir die Worte überlegen, so gelang es mir nicht, sie glitten nicht, wie sonst gesprochene Worte tun, in nahe Vergangenheit hinab, aus der ich sie zurückfangen und mit dem Verstehen hätte betasten können – nein, sie erstarrten zu leblosen Gestalten, dem Ohr fremd und unfassbar, kaum, dass ihr Klang erloschen war; ich begriff ihren Sinn nicht mehr; sie hatten sich aus dem Reiche der Zeit in das Reich des Raumes verirrt und umstanden mich als tote Masken.
«Wenn doch die Uhr wieder gehen wollte!» sagte ich laut in meiner Qual mitten hinein in die Rede des Händlers. Ich hatte damit mein Herz gemeint, denn ich fühlte, es wollte vergessen zu schlagen, und mir graute bei dem Gedanken, der Zeiger meines Lebens könnte plötzlich stehen bleiben vor einer phantastischen Blume, dem Gesicht eines Tieres oder eines Dämonen, wie der Weiser auf jenem Zifferblatt mit den vierzehn Stunden. Ewig gebannt wäre ich in geronnener Zeit.
Der Antiquar gab mir die Uhr zurück – er glaubte wohl, ich spräche von ihr.
Als ich durch die verödeten nächtlichen Gassen schritt, geradeaus, dann kreuz und quer über schlafende Plätze und an träumenden Häusern vorbei, von blinkenden Laternen geleitet und doch meines Weges gewiss, da mußte ich denken, der Antiquar habe mir anvertraut, wo der Uhrmacher ohne Namen wohne, wo ich ihn finden würde und wo die Mauer stünde, die den Ulmenpark umschließt. Hatte er denn nicht gesagt, nur der Alte könnte meine Uhr wieder gesund machen? Woher wüßte ich es sonst: auch den Weg zu ihm mußte er mir geschildert haben, und hatte ich selbst mir ihn auch nicht gemerkt – meine Füße schienen ihn genau zu wissen: sie führten mich hinaus aus der Stadt auf die weiße Straße, die zwischen sommerhauchenden Wiesen hinein in die Unendlichkeit lief.
An meine Fersen geheftet, glitten die schwarzen Schlangen hinter mir drein, die das grelle Mondlicht aus der Erde gelockt hatte. Waren sie es, die mir die vergifteten Gedanken schickten: Du wirst ihn nimmermehr finden, er ist vor hundert Jahren gestorben!
Um ihnen zu entrinnen, bog ich scharf ab nach links in einen Seitenpfad, und da tauchte auch schon mein Schatten aus dem Boden und schluckte sie in sich ein. Er ist gekommen mich zu führen, begriff ich, und es war mir eine tiefe Beruhigung, ihn so unbeirrbar und, ohne zu wanken, schreiten zu sehen; beständig blickte ich auf ihn hin, froh, des Weges nicht achten zu müssen. Allmählich kam jenes unbeschreiblich seltsame Gefühl wieder über mich, das ich als Kind gehabt, wenn ich für mich allein das Spiel spielte: mit geschlossenen Augen festen Schrittes vor mich hin zu gehen, unbekümmert, ob ich fallen würde oder nicht: – es ist wie ein Losreißen des Körpers von aller irdischen Furcht wie ein Jauchzen des Innern, wie ein Wiederfinden des unsterblichen Ichs, das da weiß, mir kann nichts geschehen! Da ließ der Erbfeind von mir ab, den der Mensch in sich trägt: Der nüchterne, kalte Verstand, und mit ihm der letzte Zweifel, ich würde den, den ich suchte, nicht finden. Dann, nach langer Wanderung, eilte mein Schatten auf einen breiten, tiefen Graben – entlang der Straße – zu, schwand hinab und ließ mich allein; ich wußte: jetzt bin ich am Ziel. Warum hätte er mich sonst verlassen!

Die Uhr in der Hand stand ich in der Stube dessen, von dem ich wußte, nur er allein kann sie wieder in Gang bringen. Er saß vor einem kleinen Ahorntisch und blickte durch eine Lupe, die an einem Kopfband vor seinem Auge befestigt war, regungslos auf ein glitzerndes winziges Ding auf dem hellgemaserten Holz. Hinter ihm an weißer Wand – im Kreis geordnet, wie ein großes Zifferblatt – stand in verschnörkelter Schrift der Satz:
«Summa Scientia Nihil Scire.»
Ich atmete tief auf: hier bin ich geborgen! Der Bannspruch hält alles verhaßte Denkenmüssen fern, jegliches Rechenschaftsfordern: wie bist du herein gekommen, durch die Mauer, durch den Park?
Auf einem Bord, bezogen mit rotem Samt, liegen Uhren: wohl an die hundert – aus blauem, aus grünem, aus gelbem Email – juwelengeschmückt, graviert, gerippt, glatte und geperlte, manche flach, manche bauchig wie Eier. Ich höre sie nicht: sie zirpen zu leise, aber: Die Luft, die über ihnen schwebt, muss lebendig sein, von dem unmerklichen Geräusch das sie erzeugen. Vielleicht rast dort der Sturm eines Zwergenreichs.
Auf einem Postament steht ein kleiner Felsen aus fleischfarbenem Feldspat, geädert, bunte Blumen aus Halbedelstein wachsen daraus: mitten unter ihnen, als plane er nichts Böses, wartet der Knochenmann mit der Sense, sie abzumähen: Eine «Tödleinsuhr» aus romantischem Mittelalter. Wenn er mäht, dann schlägt er mit dem Griff seiner Sense auf die feine Glasglocke, die neben ihm steht, halb Seifenblase halb wie der Hut eines großen Märchenpilzes. Das Weiserblatt darunter ist der Eingang zu einer Höhle, darin Zahnräder starren.
Bis hinauf zur Decke des Zimmers, links und rechts sind die Wände mit Uhren behängt, mit Uhren: alte mit stolzen ziselierten Gesichtern, kostbar und reich, gelassen die Perpendikel schwingend, predigen sie mit tiefem Bass ihr ruhevolles Tack-Tack.
In der Ecke eine in gläsernem Sarg, ein aufrechtstehendes Schneewittchen, tut, als schliefe es, aber ein leises rhythmisches Zucken mit dem Minutenzeiger verrät, dass es die Zeit nicht aus dem Auge läßt. Andere, nervöse Rokokodämchen – das Schönheitspflästerchen als Schlüsselloch – sind mit Zierat überladen und ganz außer Atem, so trippeln sie sich ab, einander den Rang abzulaufen, und den Sekunden zuvor zu kommen. Daneben die winzigen Pagen, sie kichern dazu und hetzen: Zick-Zick, Zick.
Dann eine lange Reihe, strotzend, in Stahl, Silber und Gold – wie schwergeharnischte Ritter; sie scheinen bezecht zu sein und zu schlummern, denn bisweilen schnarchen sie laut auf oder rasseln mit ihren Ketten, als ob sie mit dem Gotte Kronos selbst einen Strauß auszufechten gedächten, wenn sie aus ihrem Rausch erwachen.
Auf einem Sims sägt ein Holzknecht mit Mahagonihosen und funkelnder Kupfernase die Zeit entzwei in Sägespäne… Worte des Alten rissen mich aus meiner Beschaulichkeit: «Alle sind krank gewesen, ich habe sie wieder gesund gemacht.» Ich hatte seiner so gänzlich vergessen, dass ich zuerst glaubte, es sei das Schlagen einer der Uhren gewesen.
Die Lupe an dem Kopfband saß emporgeschoben, jetzt an der Mitte seiner Stirn – wie das dritte Auge des Schiwa und ein Funke glomm darin: Widerschein der Ampel an der Decke.
Er nickte mir zu und hielt meinen Blick mit dem seinigen fest. «Ja, krank sind sie gewesen; sie haben gedacht, sie könnten ihr Schicksal ändern, wenn sie schneller gehen oder langsamer. Sie hatten ihr Glück verloren an den Dünkel, sie seien die Herren der Zeit. Ich habe sie von diesem Wahn befreit und ihnen die Ruhe ihres Lebens wiedergegeben. So mancher findet, wie du, in den Nächten des Mondes im Schlaf den Weg aus der Stadt heraus zu mir, bringt mir seine kranke Uhr, klagt und bittet, ich solle sie heilen, aber am nächsten Morgen hat er alles wieder vergessen – auch meine Arznei.»
«Nur die, die den Sinn meines Wahlspruches erfassen», er deutete über die Schulter auf den Satz an der Wand, «nur die lassen die Uhren hier in meiner Obhut.»
Ich ahnte dunkel: in dem Bannspruch lag noch ein Geheimnis verborgen. Ich wollte fragen, aber der Greis hob drohend die Hand: «Nicht wissen wollen! Lebendiges Wissen kommt von selbst! Dreiundzwanzig Buchstaben hat der Satz; sie stehen als Ziffern auf dem Weiserblatt der großen unsichtbaren Uhr, die eine Stunde weniger zeigt als die Uhren der Sterblichen, aus deren Rund es kein Entrinnen gibt; darum spotten die ‘Verständigen’: – sieh da! der Wahnsinn! – sie höhnen, sie sehen die Warnung nicht: ‘Lass dich nicht fangen von der Kreisschlinge Zeit!’ – sie lassen sich führen vom tückischen Zeiger ‘Verstand’, der ewig neue Stunden verspricht und immer nur alte Enttäuschungen bringt.»
Der Alte schwieg. Ich reichte ihm mit stummer Bitte meine tote Uhr hin. Er nahm sie mit seiner schönen schmalen weißen Hand und lächelte kaum merklich, als er sie geöffnet und einen Blick hinein geworfen hatte. Behutsam tastete er mit einer Nadel in das Räderwerk und nahm die Lupe wieder vor. Ich fühlte: ein gütiges Auge spähte mir ins Herz hinein.
Nachdenklich betrachtete ich sein ruhevolles Gesicht. Wie habe ich mich nur – als Kind – so vor ihm fürchten können, fragte ich mich.
Dann faßte mich ängstlicher Schrecken an: er, auf den ich doch hoffe und vertraue, ist nicht wirklich – jetzt, jetzt wird er verschwinden! Nein, zum Glück: nur das Licht der Ampel hatte geflackert und meine Augen zu täuschen versucht. Und wieder starre ich ihn an und grübelte: heute zum ersten Male habe ich ihn gesehen! Das kann nicht sein! Wir kennen uns doch seit…? Da durchzuckte mich Erinnerung wie ein heller Blitz: niemals war ich als Schulbub an einer weißen Mauer entlang gelaufen; niemals hatte ich mich vor einem wahnsinnigen Uhrmacher gefürchtet, der hinter ihr hausen sollte; das leere, mir unverständliche Wort «wahnsinnig» wars gewesen, das mich geschreckt hatte in frühester Jugend, als man mir drohte, ich würde «es» werden, wenn ich nicht bald zu Verstand käme.
Aber, der Greis da – vor mir – wer war es? Auch das glaubte ich zu wissen: ein Bild – ein Bild, kein Mensch! Was konnte es anderes sein! Ein Bild, das – eine Schattenknospe meiner Seele – in mir heimlich gewachsen war; ein Samenkorn, hatte es Wurzel gefangen, als ich zu Beginn meines Lebens in einem kleinen weißen Bette lag, an der Hand gehalten von der alten Kinderfrau, und ihre eintönigen Worte in den Schlaf hinübernahm… ja, wie hatten sie nur gelautet? Wie hatten sie nur gelautet?…
Bitterkeit stieg mir in die Kehle, brennende Trauer: so war also doch alles haltloser Schein hier rings um mich! Vielleicht nur eine Minute noch und ich stehe – ein erwachter Schlafwandler – draußen im Mondlicht und muss heimwandern zu den verstandesbesessenen geschäftigen Lebenden – Toten in der Stadt!
«Gleich, gleich ist’s vorüber!» hörte ich des Uhrmachers beruhigende Stimme, aber es gab mir keinen Trost; denn mein Glaube an ihn war aus meiner Brust genommen. Wie haben die Worte der Kindsfrau gelautet? – wollte, wollte, wollte ich wissen… Langsam, langsam tauchten sie mir auf – Silbe für Silbe:
«Bleibt in der Brust das Herz dir stehen,
bring’s ihm nur;
jede Uhr
macht er wieder gehn.»
«Da hat sie recht gehabt», sagte der Uhrmacher gelassen, legte die Nadel aus der Hand, und im Nu zerstoben meine düsteren Gedanken.
Er stand auf und hielt die Uhr fest an mein Ohr; ich hörte, sie ging – regelmäßig und genau im Takt mit dem Pulsschlag meines Blutes.
Ich wollte ihm danken – fand die Worte nicht, erstickt von Freude und von – Scham, an ihm gezweifelt zu haben. «Gräm dich nicht!», tröstete er, «es war nicht deine Schuld. Hab ein kleines Rad herausgenommen und wieder eingesetzt. Uhren wie diese sind sehr empfindlich, sie vertragen bisweilen die zweite Stunde nicht! Hier! Nimm sie wieder, aber verrate niemand, dass sie geht! Man würde dich nur verhöhnen und dir zu schaden trachten. Sie hat dir von Jugend an zu eigen gehört, und du hast an die Stunden geglaubt, die sie zeigt: vierzehn statt eins bis – Mitternacht, sieben statt sechs, Sonntag statt Werktag, Bilder statt toter Zahlen! Bleib ihr weiter treu, doch sage es niemand! Nichts dümmer, als ein eitler Märtyrer sein! Trag sie verborgen am Herzen, und in der Tasche trage eine der bürgerlichen Uhren, der staatlich geaichten, mit dem braven schwarzweißen Zifferblatt, damit du auch immer nachsehen kannst, wie spät es für die anderen ist. Und lass dich nie vergiften vom Pesthauch der ‘Zweiten Stunde’! Tödlich ist sie wie ihre elf Schwestern. Rot fängt sie an, verheißungsvoll wie Morgenrot, schnell wird sie rot wie Feuersbrunst und Blut. Die Stunde des Ochsen nennen sie die alten Völker des Ostens. Jahrhunderte versinken, und friedlich läuft sie ab: Der Ochs pflügt. Aber plötzlich – über Nacht – werden die Ochsen zu brüllenden Büffeln, gehetzt vom Dämon mit dem Stierkopf, und zertrampeln in blinder, viehischer Wut die Fluren; dann: Lernen sie wieder ackern; die bürgerliche Uhr geht ihren alten Gang – doch den Weg aus dem Bannkreis des Menschentieres weisen auch ihre Zeiger nicht. Trächtig sind alle ihre Stunden – jede mit einem anderen Ideal – aber was zur Welt kommt, ist ein Wechselbalg.
Deine Uhr ist stehen geblieben um zwei, um die Stunde der Vernichtung; an ihr ist sie gnädig vorbeigegangen. Andere sterben daran und verirren sich ins Reich des Todes; sie hat den Weg zu mir gefunden – zu dem, aus dessen Händen sie hervorgegangen ist. Das dankt sie dir! Sie konnte es nur, weil du sie ein Leben lang liebevoll behütet und nie Ärgernis genommen hast an ihr, dass ihre Zeit nicht die der Erde ist.»
Er geleitete mich zur Tür, gab mir die Hand zum Abschied und sagte: «Vor einer Weile hast du gezweifelt, ob ich lebe. Glaube mir: ich bin lebendiger als du! Du kennst jetzt genau den Weg zu mir. Bald sehen wir uns wieder; vielleicht kann ich dich lehren, wie man kranke Uhren gesund macht. Dann» – er deutete auf seinen Wahlspruch auf seiner Wand –, «dann mag der Satz sich schließen für Dich zur Vollendung:
Nihil Scire – Omnia Posse.
Nichts mehr wissen – alles können!»

[Gustav Meyrinck]


Die Metaphysik des Uhrmachers
Die Novelle «Der Uhrmacher», in der Gustav Meyrink seine eigene Initiation dargestellt hat, folgt genau der gnostischen Tradition. Die Erzählung bis zum Finden des Uhrmachers gliedert sich nach den zwölf Häusern des Tierkreises; daran schließt sich die siebenstufige Unterweisung im Hause des Uhrmachers.
(I) Im ersten Bild – dem Haus der Person – kommt der Erzähler zum Antiquar, um seine Uhr richten zu lassen, die vierzehn anstatt zwölf Stunden mit nur einem Weiser zeigt. Die Stunden bezeichnen Doppelstunden: es handelt sich also um die 28 Zeiteinheiten der «Mondhäuser», welche die mechanische Zeit der geistigen Entfaltung unterordnen; zu den zwölf Doppelstunden treten die vier geheiligten Momente, die im Sonnenlauf den Äquinoktien und Solstizien entsprechen: Aszendent oder Neumond, Deszendent oder Vollmond, Medium Coeli oder abnehmender Halbmond, Immum Coeli oder zunehmender Halbmond. Diese vier Mondstellungen waren das Vorbild der Einrichtung des siebten Tages, an welchem sich der babylonische König mit seiner Gemahlin auf die Spitze des Turmes zurückzog, um menschliche Fruchtbarkeit und himmlische Inspiration zu vermählen. In der Bibel galt der Sabbat als Vorgeschmack der Ewigkeit: In sechs Tagen schuf Gott die Erde, und immer schloss ein Abend und eine Nacht das Tagwerk ab; am siebten Tag ruhte Gott, und es gab keinen Abend und kein Ende der Zeit. Im Unterschied zur exoterischen Religion unterschied nun die gnostische Tradition auch im Alltag vier geheiligte Augenblicke, wo die irdische Existenz sich mit der himmlischen vereint: den Sonnenaufgang, in welchem Gott als der Quell des Bewußtseins und Wollens erlebt wird – in Entsprechung zum Neumond, wo die Eigenvorstellung ausgelöscht ist; die Mittagszeit, wo der eigene Beruf, die Macht der Stellung im Sinne des abnehmenden Mondes zum Symbol der Demut in der Berufung wird – «ich muss abnehmen, auf dass er wächst»; im Jahreslauf der Sonne entspricht dieses Mondhaus der Geburt des Erlösers zu Weihnachten; der Sonnenuntergang in Entsprechung zum Vollmond, wo es gilt, im anderen Menschen über die Liebe dessen Fülle, dessen höchste Möglichkeit zu erkennen, und damit den Egoismus zu überwinden; und schließlich die Mitternacht, in Entsprechung zum zunehmenden Mond, wo die eigenen Wünsche und Triebe sich im Traum als Vorboten der geistigen Entwicklung offenbaren. Wer dieses Wissen besitzt, begeht höchstens den Fehler, dass er die Dinge zu früh erreichen will, anstatt zu warten. Der Antiquar, also der Verwalter der Altertümer, des irdischen Wissens, kann kein Heiler des geistigen Weges sein, dessen Uhr stehen geblieben ist. So beginnt mit der falschen Suche, der falschen Frage ein Weg, der schließlich das Heil erreichen wird.
(II) Diese Uhr trägt ein Symbol; es zeigt einen Mann mit Frauenbrüsten, also die alchemistische Vereinigung, die auf den hermetischen Weg hindeutet; der Hahnenkopf bedeutet die Notwendigkeit der steten Erinnerung an die himmlische Herkunft, so wie der Hahn den Petrus erinnerte; die zwei Schlangen als Beine weisen darauf hin, dass die Geschlechtskraft zur Energie des Weges werden soll. Die Figur steht auf einer Quadriga, auf einem Wagen, der von vier Pferden gezogen wird; die Pferde entsprechen den Triebkräften des Gemüts: im Unterschied zur scholastischen Tradition mit ihren drei Seelenkräften unterschied die Gnosis vier Funktionen in Entsprechung zu den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer: Das Empfinden der Sinnesdaten der Wachwelt; das Fühlen, das aus Trieben und Wünschen der Traumwelt gespeist wird; das Denken, das Wahrnehmungen des Empfindens und Triebe des Fühlens zu Vorstellungen im Medium der Sprache zusammenfügt, und als viertes das Wollen, das im Entscheiden und Handeln die verfügbare Kraft für die im Denken geklärten Ziele einsetzt. Die Unterscheidung der vier Funktionen befähigt den Menschen, die unbewußte passive Seele zu zügeln, was in der Peitsche der linken Hand ausgedrückt wird, und das bewußte geistige Handeln aus dem Wesenskern zu vollziehen, wie es die in der rechten Hand getragene Sonne verdeutlicht.
(III) Ohne dass der Erzähler weiß wieso, findet der Antiquar, dass die Uhr um die zweite Stunde des Ochsen, also zwischen zwei und vier Uhr morgens im astrologischen Hause des Stieres welches das Leben und die Sorge um die materielle Existenz bedeutet, stehen blieb. Jener erlebte nun um diese Zeit einen Herzkrampf, und erfährt – im dritten Haus der Beziehungen – den magischen Zusammenhang zwischen dieser Uhr und seinem Herzschlag: Daher der inbrünstige Wunsch, sie wieder zum Gehen zu bringen.
(IV) Der Antiquar, der irdisch Wissende, kann die Uhr nicht richten; er erkennt in ihr ein Werk des «Wahnsinnigen» also eines Wesens einer anderen Bewußtseinslage. Er sagt, er habe nie geglaubt, dass dessen Uhren auch gehen könnten. In dieser Uhr steht der gnostische Leitspruch eingraviert, dass die Summe allen Wissens das Nichtwissen ist – also im Sinne des Nirvanas der Buddhisten oder der sokratischen Weisheit.
(V) Der Erzähler versteht nicht sogleich den Sinn – für sein Alltagsbewußtsein stammt diese Uhr aus seiner eigenen Vergangenheit, von seinem Großvater; nun scheint es aber, dass dieser Wahnsinnige noch heute lebt. Plötzlich erahnt er die größere Wirklichkeit – das fünfte Haus ist das Zeichen der Sonne – und erlebt den Durchbruch zur Vision.
(VI) In einem Augenblick sieht er vor sich das Bild des sogenannten Wahnsinnigen, wie dieser in einer Winterlandschaft – also einem Leben jenseits der vegetativen Triebe aus geistiger Kraft – einherschreitet, mit kleinem Kopf, der unendliches Alter symbolisiert im Gegensatz zum übermäßigen Kopf des Kindes; mit den Raubvogelzügen des Visionärs, bekleidet mit dem Mantel eines alten Nürnberger Patriziers – in Nürnberg wurde bekanntlich die Taschenuhr erfunden.
(VII) Der Erzähler erinnert sich nun, dass er als Kind immer davon gehört hat, der Wahnsinnige lebe hinter einer Mauer, aus welcher dereinst eine neue Kirche – also eine neue religiöse Gemeinschaftsordnung – gebaut werden wird, von der aber bisher nur die Grundmauern stehen. Eine solche Stätte, die erst in der Zukunft zur Wirkung kommen wird, könne nicht zerstört werden. Damit erkennt er das Wesen seiner Uhr: Er erlebt nicht nur in der irdischen triebhaften Zeit des Alltags, sondern auch in der anderen geistigen, die seine Uhr über die irdische Zeit mit ihren Dämonen und Blumen hinaus zeigt.
(VIII) Aus diesem Zeiterleben vernimmt er nun das Brausen seines Blutes in den Ohren und erkennt, dass sich in ihm der herannahende Tod verbirgt – der langsam sich nähernde Geier; das achte Haus des Tierkreises ist das Haus des Todes. Nun spürt er das Wesen des Sterbens, in dem die Zeit zum Raum gerinnt wie die Worte des Antiquars, die nun sein Bewußtsein gleich Masken umstehen; und er fürchtet, auch der Zeiger seines Lebens möchte vor einem der schrecklichen Dämonenbilder stehen bleiben; er verläßt den Antiquar, und begibt sich auf die Suche nach dem Uhrmacher.
(IX) Im Haus der Reise macht er sich auf den Weg, aus der Stadt mit ihren Laternen hinaus auf die unendliche weiße Straße zwischen den ineinander verfließenden Wiesen, die vom Mondlicht beschienen wird.
(X) Doch hinter ihm auf der Straße der Unendlichkeit folgen im Haus des wachen Alltagsbewußtseins die schwarzen Schlangen, die das grelle Mondlicht aus der Erde gelockt hat – die Träger der vergifteten Gedanken; um ihnen zu entrinnen, wendet er sich scharf in einen Weg nach links, also von der bewußten weißen Straße in die Richtung des Unbewußten, der Schatten.
(XI) Sein eigener Schatten wird ihm im Haus der Wünsche zum Führer, und das erstemal erlebt er nun wieder das Glück seiner Kindheit, die Geborgenheit des Mutes, da er voraus mit geschlossenen Augen schritt; ein ungeheures Glücksgefühl überkommt ihn; endgültig überwindet er den kalten nüchternen Verstand, den er als den tödlichen Erbfeind seines Wesenskernes erkennt, im Vertrauen zu seinem Schatten.
(XII) In einem weiten Graben verschwindet, vom Mond geleitet, der Schatten. Der Erzähler weiß sich am Ziel, da der Schatten ihn verläßt; und ohne zu wissen, wie und auf welche Weise er hinkam, ist er nun in der Stube des Uhrmachers; die Straße ist zu Ende und die sieben Stufen beginnen.
(1) Die erste Stufe bringt das Gefühl der erlösenden Geborgenheit. Der Uhrmacher sitzt in seinem Zimmer, und blickt auf ein glitzerndes Ding auf einem Holz; hinter ihm hängt an der Wand zum Kreis geordnet, die Schrift: Nihil Scire Summa Scientia. Dieser Spruch wird als Beginn des Aufstiegs erkannt.
(2) Auf rotem Samt liegen Uhren der drei weiteren Grundfarben, blau, gelb und grün. Jede der Uhr-Typen entspricht einer Menschenart: die würdig Gelassenen dem phlegmatischen Typus, die rokokoartigen Dämchen und Pagen dem sanguinischen, die geharnischten Ritter dem cholerischen und schließlich der Sensenmann mit den Blumen und das schlafende Schneewittchen dem melancholischen Typus. Dazu sägt ein Holzknecht mit Mahagonihosen und Kupfernase – Symbol der gestaltenden Venus – die Zeit in Sägespäne entzwei: Der Arbeiter vereint die Typen, verliert sich jedoch an seine Tätigkeit.
(3) Wie bei den eleusinischen Mysterien gibt sich der Mystagoge auf der dritten Stufe als der Heiler zu erkennen: seine Lupe auf die Stirn geschoben erscheint als das dritte Auge, das das Licht der Deckenlampe funkelnd spiegelt. Alle, so sagt er, waren sie krank, bevor sie den Weg zu ihm zurückfanden. Manche heilt er im Schlaf, da sie nicht vom Alltagsbewußtsein zum geistigen Bewußtsein überwechseln können; manche, die passiv gläubigen, überlassen ihm die Uhr fortan zu treuen Händen; nur derjenige kann, wie sich in weiterer Folge herausstellt, die Uhr behalten, der selbst zum Adepten dieses Weges wird.
(4) Im Erzähler beginnt nun die Frage aufzukeimen nach dem Sinn des Nichtwissens. Der Greis erhebt drohend die Hand:«Nichts wissen wollen! Lebendiges Wissen kommt von selbst!» Hier ist die mittlere entscheidende Stufe des Aufstiegs; nur wer sich dem Wissen öffnet – dem Geist, wie er weht – der kann ihn assimilieren. 23 Stunden hat die große Uhr, die aus den 23 Buchstaben des Sinnspruches gebildet ist – die Anzahl der menschlichen Chromosomen, die seine Geschlechtskraft und damit den Schlüssel zur Erlösung bestimmen; 24 Stunden schließen den Kreis zur Zeitschlinge, in der der irdische Mensch gefangen ist; doch kann er aus der 23. Stunde, aus der Mitte des zwölften Hauses den Weg in die Freiheit der Erlösung, die Sonntagsruhe, einschlagen.
(5) Zwei Schwellen halten den Menschen im Alltagsbewußtsein fest und verhindern sein Erwachen: Traum und Tiefschlaf oder Tod. Die erste Schwelle überwand der Erzähler, als er sich im XI. Haus seinem Schatten, seinem traumhaften Unbewußten anvertraute, der ihn zum Uhrmacher geführt hat. Doch die größere Schwelle, die Todesangst, ergreift ihn jetzt, da seine Uhr wieder zum Gehen gebracht werden soll; fast fällt er der Angst zum Opfer, alles sei Illusion, obwohl der Uhrmacher beruhigend auf ihn einspricht. Da erinnert er sich an den Spruch seiner Kindsfrau, dass der große Uhrmacher jedes stehende Herz, das man ihm anvertraut, wieder zum Gehen bringt. Das innere Kind in seinem Vertrauen weiß die Wahrheit, die der Uhrmacher nun bestätigt: die Uhr geht wieder.
(6) Voll der Scham nimmt der Erzähler sie in Empfang und hört nun als sechste Stufe Weisheit und Mahnung: Menschen des geistigen Weges, die Kinder Gottes, scheitern oft in der menschlichen Wirklichkeit des zweiten Hauses im Zeichen des pflügenden Ochsen. Doch manchmal ist dieses Scheitern oder Zögern ein Vorbote großer Katastrophen, wenn der Ochse zum Büffel wird und in der glutrote Farbe der Wut die vernünftige Arbeitswelt periodisch zerstört. Genau wie alle anderen menschengeformten Ideale ist auch der Wohlstand des Stierhauses ein Dämon; wer sich ihm anvertraut, dessen Erzeugnis wird ein trügerischer Wechselbalg. Aber dieses Wissen darf nicht Unberufenen weitergegeben werden: daher gilt es, im traditionellen Sinn der Esoterik, sich den Gegebenheiten der Kinder der Erde mit ihren schwarz-weißen moralisch gut-und-böse unterscheidenden Maßstäben anzupassen. Nur wer den Weg zum Uhrmacher findet, der entrinnt der Stunde des Verderbens und erkennt sein Ziel in der nun folgenden höchsten Stufe der Unterweisung.
(7) In der letzten Stufe offenbart sich der geistige Führer als ewig lebendiger, echter Weiser und zeigt dem Erzähler für die Zukunft, die erst jenseits der Stufen anheben wird, seinen eigenen geistigen Weg: Auch er wird dereinst berufen sein, Uhren heil zu machen, gescheiterten menschlichen Schicksalen ihren Sinn und Lauf zurückzugeben; dann wird sich der Spruch an der Wand vollenden: das Nichtwissen wird zu höchstem Können; wer die Illusion des meinenden Wissens, die Ichverhaftung durchstößt, wird Teil der heilenden Urkraft und damit des wahren Reiches der Menschheit, das gleichzeitig das Reich Gottes ist.

[Arnold Keyserling]


Rad