"Ich Liebe den Klang der Trommeln..."

Roscoe Mitchell

Im Spätsommer 1966 nahm eine Gruppe von Musikern die LP "Sound" auf. Es war dies das erste Tondokument, das von Musikern eingespielt wurde, die der Chikagoer AACM (=Association for the Advancment of Creative Musicians - etwa: Vereinigung zur Förderung kreativer Musiker) angehörten. Obwohl sich die Verkaufszahlen dieser LP in Grenzen hielten, sorgte sie doch für beachtliches Aufsehen. Die Aufnahmen unterschieden sich nämlich beträchtlich von den übrigen Einspielungen jener Zeit. Sie hatten nichts mit dem damals stark verbreiteten "energy playing" der New Yorker Free Jazz Szene zu tun. Zwar gab es auch hier, vor allem im Stück "Ornette", Ausbrüche wilder Kollektivimprovisationen, doch auf den anderen Stücken der Platte geht diese Gruppe aber einen völlig anderen, neuen Weg. Die Klangfarbe der Instrumente wird zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, außerdem werden Instrumente verwendet, die in der Jazzmusik bis dahin völlig unüblich waren - Glocken, Kürbisrasseln und sogar Kinderspielzeug. Und immer wieder Stille, aus der sich nach und nach neue Klänge entwickeln. Die Gruppe die diese Aufnahmen machte, war das Sextett von Roscoe Mitchell, und bereits diese ersten Einspielungen sind bezeichnend für das weitere musikalische Schaffen dieses Musikers. Mitchell war und ist immer wieder auf der Suche nach etwas Neuem.

Geboren wurde Roscoe Mitchell am 3. August 1940 in Chicago. Sein erstes Instrument war die Klarinette. Später gesellten sich Bariton- und Altsaxophon dazu. Diese beiden Instrumente spielte Roscoe Mitchell auch als er 1958 in die Armee eintrat und dort in einer der zahlreichen Army-Bands mitwirkte. Im Juli 1961 verließ Roscoe Mitchell die Armee und besuchte ab Herbst des selben Jahres das Wilson Junior College in Chicago. Er spielte zu diesem Zeitpunkt im Stil der späten fünfziger Jahre, also Hard Bop. Dies "änderte sich erst als Mitchell mit Muhal Richard Abrams in Kontakt kam. Durch sein Mitwirken in der von Abrams geleiteten Experimental Band kam Mitchell mehr und mehr mit dem freien Spiel in Berührung. Neben seinem Spiel in der Experimental Band leitete Mitchell aber auch eigene Gruppen. Mit einer dieser Gruppen nahm er die oben erwähnte LP auf.

Wenig später wurde das Roscoe Mitchell Art Ensemble gegründet, dem neben Mitchell noch der Schlagzeuger Philipp Wilson, der Trompeter Lester Bowie und der Bassist Malachi Favors angehörten.

Aus dieser Formation entwickelte sich 1969 das Art Ensemble Of Chicago, eine der wichtigsten Gruppen des Neuen Jazz. Im März 1968 nahmen Mitchell, Favors und Bowie jeweils ein Solostück auf. Diese Solos fanden sich dann auf der ersten Seite der LP Congliptous und sorgten wieder für viel Aufsehen. Zwar gab es ab und zu Soloauftritte einzelner Musiker, aber das war eher unüblich, und Veröffentlichungen von Solostücken waren überhaupt rar.

Von 1969 bis 1971 hielt sich Mitchell zusammen mit den anderen Mitgliedern des Art Ensembles in Paris auf. In dieser Zeit wirkte er neben dem Art Ensemble Of Chicago auch bei vielen wichtigen Aufnahmen anderer Musiker mit. Nach der Rückkehr des Art Ensemble in die Staaten hielt sich Mitchell kurze Zeit in St.Louis und Chicago (1971/72) auf. Danach zog er nach East Lansing, Michigan. Hier lernte er eine Reihe junger Musiker kennen, die mit ihrer musikalischen Situation unzufrieden waren. Ähnlich der AACM wurde die Creativ Arts Collective (CAC) gegründet, die später ihren Sitz in Detroit hatte. Neben der Arbeit mit jungen Musikern, begann Mitchell, sich mehr auf Soloauftritte zu konzentrieren. Erste Aufnahmen von Solokonzerten entstanden 1973. Bis heute tritt Roscoe Mitchell aber immer wieder Solo auf, und es gibt auch weitere Aufnahmen solcher Konzerte (Willisau 1976, Mühle Hunziken 1986).

In den darauffolgenden Jahren vertiefte er seine Zusammenarbeit mit Muhal Richard Abrams und Anthony Braxton. Beide Musiker waren an den Aufnahmen für sein Doppelalbum "Nonaah" beteiligt. Mit Braxton spielte er außerdem eine Duo LP ein. "Nonaah" erschien auf dem Nessa Label, ebenso wie eine weitere Doppel LP, die 1978 aufgenommen wurde. Diese LP wird von vielen als Mitchell's Meisterstück angesehen. Sie enthält drei Kompositionen von Mitchell. "The Maze" ist eine Nummer für acht Perkussionisten. "L-R-G" ist ein Triostück für ein Holzblasinstrument, für hohes und tiefes Blech und "S II Examples" ein Solostück für Sopransaxophon. Mitchell widmete sich aber auch der Arbeit mit großen Ensembles, und 1979 wurde die LP "Sketches From Bamboo" eingespielt. Mitchell arbeitete in den nächsten Jahren oft an mehreren Projekten gleichzeitig. Seine wichtigsten Gruppen dieser Zeit waren "The Sound Ensemble" und "The Space Ensemble". Zur ersten gehörten der Schlagzeuger Tani Tabbal, der Bassist Jaribu Shahid, der Trompeter Hugh Ragin und der Gitarrist Spencer Barfield. Es war aber nicht gesagt, daß das Sound Ensemble immer als Quintett auftrat. Das Space Ensemble war bei seiner Gründung ein Trio, welches aus Tom Buckner (Stimme), Gerald Oshita (Holzblasinstrumente) und Mitchell bestand. Später wurden zu verschiedenen Anlässen Musiker aus dem Sound Ensemble hinzugezogen. Von beiden Ensembles gibt es Aufnahmen in unterschiedlicher Besetzung. Mit beiden Gruppen ging Mitchell immer wieder auf Tournee und war auch oft in Europa zu hören. Durch seine Zusammenarbeit mit Tom Buckner wurde er zur Gründung des New Chamber Ensemble angeregt. In diesem Ensemble kommt Mitchell's Liebe zur Komposition vermehrt zum Ausdruck. In letzter Zeit gab es eine Reihe interessanter CD Veröffentlichungen von Mitchell: Eine Aufnahme mit dem Sound Ensemble aus der New Yorker Knitting Factory vom 11. November 1987, eine Aufnahme mit dem Brus Trio aus Schweden, die im Oktober 1989 entstand, sowie zwei Aufnahmen, die 1990 eingespielt wurden - "Songs In The Wind" und "Duets and Solos" (mit Muhal Richard Adams).

1991 wirkte Roscoe Mitchell in einer Fernseh Dokumentation über John Coltrane mit, und im Dezember 1992 war er mit einem Quartett wieder in Europa zu hören. Im Prinzip handelte es sich dabei um das Sound Ensemble, nur war diesmal mit Matthew Shipp auch ein Pianist dabei. Doch die Besetzung spielt für Mitchell keine Rolle, solange das herauskommt, was er hören will.

Das folgende Interview fand vor einem Konzert in der Nickelsdorfer Jazzgalerie (5.12.1992) statt.

 

Roscoe, etwa dreißig Jahre freie, improvisierte Musik liegen hinter uns. Wie denkst du heute darüber?

Wenn ich zurückschaue, sehe ich viele Dinge, die erweitert oder verbessert werden könnten in unserer Arbeit.

 

Die letzten dreißig Jahre sind auch die Geschichte der Great Black Music. Ist es für dich noch immer Great Black Music.

Ja, ich denke das Musik, die Tradition in der Musik, immer großartig war. Ich glaube, es liegt an uns Musikern, den hohen Standard der Musik zu erhalten, der von Musikern früherer Generationen geschaffen wurde.

 

Bei einigen deiner letzten Projekte, zum Beispiel "Songs In The Wind", habe ich das Gefühl, daß du mehr in die Richtung der westlichen Konzertmusik gehst. Es ist für mich nicht sosehr improvisierte Musik.

Ja, gut. Dazu möchte ich aber sagen, daß diese CD nur ein Beispiel ist, für die Dinge, die ich mit diesem Projekt verfolgte. Der Typ, der dabei mitwirkte - Steven Sylvester - ist ein Erfinder. Bei unserer letzten Zusammenarbeit benutzte er die auf dieser CD verwendeten Instrumente nicht. Er benutzte ganz andere, denn wenn er an irgend etwas arbeitet, macht er auch etwas daraus. Er ist der Typ dazu. Das letzte was er machte, ist ein sich drehendes Perkussionsinstrument (Revolving Percussion). Eine Art Rad. Er sitzt in der Mitte und tritt die Pedale. Die verschiedenen Percussionsounds drehen sich um ihn, und wenn sie vorbeikommen, wählt er aus, welchen er nimmt. Dieses Projekt entwickelt sich also immer weiter.

Auf der anderen Seite nun die Sache mit der Komposition. Ich denke, Komposition ist eine direkte Parallele zur Improvisation. Es sind Lernmethoden enthalten, um sich weiterzuentwickeln. Improvisation ist am Ende spontane Komposition. Deine Stellung (Klasse) als Improvisator hängt davon ab, wie gut du darin bist. Das heißt, du mußt ein sehr weitreichendes Vokabular haben. Wenn du etwas hörst, kannst du es sofort mit einer Situation in einer Komposition in Verbindung bringen, und du weißt, daß du verschiedene Möglichkeiten hast, die du immer benutzen kannst.

 

Umgekehrt verhält es sich aber ähnlich.

Es ist dasselbe. Spontanes Komponieren.

 

In deinen Kompositionen, verwendest du da verschiedene Techniken, oder hast du beim Komponieren eine Art Skizze im Kopf?

Oft hast du beim Komponieren eine vorläufige Skizze im Kopf. Manchmal höre ich eine Komposition, und wenn ich sie dann niederschreibe, habe ich einige Elemente der ursprünglichen Idee. Aber es "ändert sich andauernd, während du weitermachst. Der Unterschied zwischen geschriebener Komposition und improvisierter Komposition ist der, daß improvisierte Komposition gerade in diesem Moment passiert. Wenn du komponierst und eine Phrase nicht magst, läßt du alles einen Tag oder zwei liegen. Dann fängst du wieder an und hast vielleicht die Lösung gefunden.

 

Du kannst die Sachen umändern, neu arrangieren,...

Ja, neu arrangieren, umarbeiten.

 

Welche Art der Notation bevorzugst du? Hast du eine eigene grafische Notation oder verwendest du die klassische Notation?

Ich verwende alles. Ich verwende die grafische Notation oft dazu, um Improvisation zu unterrichten. Das Problem mit unerfahrenen Improvisatoren ist, daß sie nicht wissen, was sie tun sollen. Aber wenn du ihnen etwas zu tun gibst, wo die Möglichkeit besteht, daß es jedesmal anders sein kann, werden sie vertraut damit, es in einer großartigen Art und Weise zu machen. Und darauf kommt es schließlich an. Wenn du eine aufgeschriebene Komposition spielst, lernst du sie. Du lernst jede Note. Welche Form du ihr gibst und so weiter. Das selbe Prinzip muß auch bei einer Improvisation funktionieren, mit Ausnahme, daß das Wissen im Kopf ist.

 

Wie weit bist du von westlichen Kompositionstechniken beeinflußt?

Total.

 

Du verwendest also alles, was du hörst ...

... alles was ich höre, es ist alles da.

 

Ist dieser Weg, alles zu nehmen und alles zu verwenden was da ist, die Freiheit unserer Zeit?

Naja, ich glaube nicht. Ich glaube, es ist ein anderer Prozeß. Ich meine, es gab eine Periode, da hatten wir Komponisten, und wir hatten Musiker. In einem improvisatorischen Rahmen hast du Musiker, die Komponisten sind. Das ist ein weiterer Schritt. Du weißt, Musik entwickelt sich immer weiter, deshalb ist das ein anderer Schritt in der Musik. Ich glaube, daß sich jetzt mehr Leute mit Improvisation beschäftigen, sogar Musiker, die gänzlich aus dem klassischen Bereich kommen, interessieren sich nun für Improvisation.

 

 

Beschäftigst du dich zur Zeit mit verschiedenen Projekten, oder arbeitest du nur mit deinem Quartett?

Nein, dieses Quartett (Matthew Shipp - piano, Jaribu Shahid - bass, Tani Tabbal - drums und Mitchell selbst) kann zu einem Sextett erweitert werden. Manchmal nehme ich noch zusätzlich einen Bassisten oder einen Schlagzeuger hinzu. Dann besteht die Gruppe also aus zwei Schlagzeugern, zwei Bassisten, einem Pianisten und mir. Vielleicht verwende ich auch ein zweites Piano. Kann sein, ich weiß nicht, aber die Möglichkeit besteht. Ein anderes Projekt ist das "New Chamber Ensemble", das aus Violine, Piano, Stimme und Holzblasinstrumenten besteht. Das Projekt mit Steven Sylvester verfolge ich ebenfalls weiter. Wir arbeiten dabei auch in einem improvisatorischen Rahmen, indem wir "Sprachen" kreieren und danach aus diesen Sprachen auswählen.

 

Du sagtest vorhin, daß du zu deinem Quartett einen Schlagzeuger oder Bassisten dazunehmen könntest. Deswegen, weil du Verlangen danach hast, oder weil manche Musiker nicht immer zur Verfügung stehen ?

Oh nein, nein! Das hat nichts damit zu tun. Ich liebe den Klang der Trommeln, wenn er sich ausbreitet, wenn der Rhythmus im Raum herumfliegt und dich umgibt. Den Klang zweier Bassisten, anstelle eines einzelnen, ich mag das zeitweise. Die meisten Entscheidungen in dieser Hinsicht, treffe ich schließlich aus musikalischen Gründen.

 

Und wie wählst du deine Musiker aus?

Oh, ich weiß nicht ... es ist eine schwierige Sache. Matthew (Shipp) zum Beispiel schrieb mir einen Brief. Und Steve Mc Call sagte mir, ich soll mir Matthew anhören. Also, er schrieb mir diesen Brief, dann unterhielten wir uns, wir trafen uns auf diesem Weg. Der andere Schlagzeuger, mit dem ich zur Zeit arbeite, Vincent Davis, spielte in einer meiner Schulklassen, und da waren einige Dinge, die mich an seiner Spielweise interessierten. Selten, daß ich nach jemandem suche, das passiert einfach. Mit Vartan Manoogian, dem Geiger zum Beispiel, war es folgendermaßen: Wir spielten zusammen bei einem Konzert. Die Unisono Teile, die wir zusammen hatten, stachen wirklich heraus. Ich konnte hören, daß er genauso wie ich dachte. Und genau da wußten wir, das wir eines Tages zusammen Musik machen würden. Es passiert alles irgendwie in dieser Art.

 

Du hast erwähnt, daß Vincent Davis ein Schüler von dir ist. Unterrichtest du zur Zeit?

Ja, ich unterrichte zur Zeit am California Institute Of The Arts. Dieses Institut wurde von Walt Disney ins Leben gerufen. Es ist hauptsächlich eine Kunst Schule. Da gibt es Animation, Film, Tanz, Malerei, verschiedene Arten von Musik wie afrikanische, indische, klassische Musik, aber auch Jazz.

 

Was unterrichtest du dort?

Ich habe zwei Kompositionsklassen, eine Improvisationsklasse und eine Ensembleklasse.

 

Wie kann man deiner Meinung nach Kindern Musik n"herbringen? Vor allem Musik, die sie nicht täglich im Radio hören, es gibt ja schließlich noch etwas anderes als Michael Jackson?

Eine Sache, die ich manchmal mit Kindern mache ist, ich stelle eine Reihe von Klängen zusammen. Ich verwende Saxophone, eventuell Glocken, Fußglocken und "Ähnliches - also verschiedene Klänge. Ich führe ihnen all die verschiedenen Instrumente vor. Dann erkläre ich ihnen, wir nehmen jetzt diese Instrumente und machen damit ein Musikstück. So mache ich es bei Workshops mit Kindern.

Oft sind Kinder sowieso sehr aufgeschlossen. Du kannst fast alles machen, was du willst. Sie denken nicht wie Erwachsene.

Als ich mit Steven Sylvester probte, kamen Kinder rein und sahen dieses Ding ("Revolving Percussion"). Sie liefen auf die Straße und holten alle ihre Freunde. Bald waren sie alle versammelt und tanzten zu unserer Musik. Wenn sie etwas Neues kennenlernen wollen, ist es sehr leicht, sie zu unterrichten.

 

In einem Interview hast du einmal gesagt, daß es in deiner Musik nicht nur eine Ebene gibt. Um deine Musik zu verstehen, muß man auf verschiedenen Ebenen denken. Kannst du uns das näher erklären?

Nun, ich weiß nicht, ob ich das wirklich gesagt habe. Aber ich denke, Musik hat verschiedene Gesichter. Was mich immer an Musik faszinierte ist die Möglichkeit, diese Art zu erforschen, die du willst. Ich bin ein Mensch, der sehr an den verschiedenen Wegen interessiert ist, wie man Musik machen kann. Das alles verbinde ich mit der Musik, die ich mache. Diesmal mache ich diese Art von Musik, ein anderes Mal mache ich etwas anderes. Ich gebe Konzerte, wo ich mich auf das Solospiel konzentriere. Das ist ein Aspekt meiner Musik. Ich kann auch Konzerte geben, die sich auf verschiedene Aspekte konzentrieren. Es ist der aufregendste Weg, um sich weiterzuentwickeln.

 

Wie sieht es konkret mit Solo Projekten aus?

Ich gebe zwei Solo Konzerte im Laufe dieser Tour. Eines in Holland und eines in Frankreich. In Holland arbeite ich außerdem mit dem Maarten Altena Ensemble zusammen. Sie werden eines meiner Stücke spielen.

 

Dein Solospiel hat sich in den letzten 25 Jahren sicherlich verändert...

Ja, ich nehme auch an ... ja, ich glaube es hat sich verändert.

 

Auf welche Art, gibt es andere Einflüsse?

Ich glaube, ich habe ein größeres Vokabular, ich weiß mehr. Deshalb kann ich mehr machen. Und ich kann mehr Sachen machen, die ich zwar schon vor langer Zeit machen wollte, die ich aber damals nicht tun konnte. Ich habe gelernt. Ich habe vieles über diese bestimmten Dinge dazugelernt.

 

Spielst du in deinen Solo Konzerten total spontan, oder hast du gewisse Strukturen geplant?

Manchmal spiele ich total spontan, manchmal gibt es eine Mischung aus spontanem Spiel und aufgeschriebenen Sachen. Ich habe Kompositionen, die geschriebene und improvisierte Teile beinhalten.

 

Kürzlich wurde im "österreichischen Fernsehen ein Film über John Coltrane gesendet, in dem du zu sehen warst. Kennst du diesen Film?

Ja, ich kenne ihn. Ich wurde nach Marokko eingeladen. Ich bin "Gast Star" in diesem Film. Ich spiele mit marokkanischen Musikern zusammen und habe auch ein Interview gegeben. Es war ein Video, das für die "American Masters Series" gemacht wurde. Sie machten auch Filme über Billie Holiday, Louis Armstrong, Charlie Parker.

 

Der Geist Coltranes lebt also noch immer weiter?

Ja, sicher, er ist noch immer da.

 

Gibt es irgendwelche neuen Aufnahmen?

Es wird demnächst eine Veröffentlichung geben, die "Roscoe Mitchell & The Note Factory" heißt. Dabei ist die größere Gruppe mit sechs Leute zu hören. William Parker und Jaribu Shahid am Baß, Tani Tabbal und Vincent Davis am Schlagzeug, Matthew Shipp am Piano und ich auf verschiedenen Saxophonen. Dann wird es noch eine Veröffentlichung mit Muhal Richard Abrams geben. Das sind Duo Aufnahmen. (Diese Aufnahmen sind vor kurzem auf dem Black Saint Label erschienen)

 

Die Knitting Factory ist ein sehr wichtiger Ort in den Staaten, speziell in New York ....

Ich glaube, sie haben dort ein couragierteres musikalisches Programm als anderswo. Die anderen Orte in New York sind alle gleich. Jeder spielt Musik aus den vierziger Jahren. Das ist tote Musik, denn sie spielen sie nicht so, wie die Leute sie damals gespielt haben. Für mich ist das nur interessant, wenn ich mir eine Platte anhöre, auf der Originalaufnahmen mit Originalinterpreten sind.

 

Was deine letzte Veröffentlichung der Knitting Factory Aufnahmen betrifft: es gibt darauf eine Reihe von Soli. Ich will nicht sagen, daß sie aus dem Zusammenhang herausgenommen wurden, aber es ist eben nicht das gesamte Stück vorhanden.

Ja, es ist nur das Solo.

 

Was ist der Grund dafür?

Nun, ich hatte viel Material, sehr viel Material und ich wollte eine CD zusammenstellen. Ich nahm also einige Sachen, um gewisse Leute zu featuren. Außerdem denke ich, daß diese Soli herausragende musikalische Momente sind.

 

Es wäre an der Zeit, eine 10 CD Box herauszubringen.

Ja, okay, es wäre an der Zeit.

 

Wie ist die Situation für Musiker in den USA, hat sie sich in den letzten 10 Jahren grundlegend geändert?

Wir haben viel gemacht, letztes Jahr. Zu Jahresbeginn habe ich einige Tourneen gemacht. Wir haben eine Platte aufgenommen. Wir gaben Konzerte in New York, Atlanta, Chicago, North Carolina, Virginia. Wir haben dieses Jahr viel gearbeitet.

 

Und die soziale Situation?

Oh, ich weiß nicht. Wir haben nun einen neuen Präsidenten. Ich hoffe, es "ändert sich einiges, denn die soziale Situation ist nicht gerade gut. Es gibt sehr viele arme Menschen, Menschen die kein Dach überm Kopf haben, das ist nicht gut.

 

Und die Regierung macht nichts dagegen?

Vielleicht "ändert sich etwas. Wir haben jetzt einen Saxophonisten im Weißen Haus (lacht). Ich hoffe, daß sich etwas "ändert.

 

Vielleicht ist der neue Präsident besser als ein Schauspieler.

Ja, ich glaube schon, wenn man das vergleicht.

 

Ich habe noch eine Frage zur Geschichte des Art Ensemble.

Du solltest nach Kalifornien kommen, ich halte im Jänner Vorlesungen zu diesem Thema.

 

Wäre eine Möglichkeit... Am Anfang war es das Roscoe Mitchell Art Ensemble, wie kam es zur Änderung? Hast du diese Änderung herbeigeführt?

Es änderte sich 1969. Ich bin der Meinung, das Art Ensemble mußte sich verändern, damit wir zusammenbleiben konnten. Es mußte eine Kooperative werden, denn damals hatten wir kaum Arbeit. Jeder brachte aber 110% seiner Zeit in die Gruppe ein. Der einzige Weg, damit diese Gruppe überleben konnte war, daraus eine Kooperative zu machen. Ich konnte mir diese Gruppe nicht mehr leisten. Ich konnte es mir nicht leisten, die anderen zu bezahlen, obwohl wir keine Auftritte hatten. Das war also der Grund, warum aus dem Roscoe Mitchell Art Ensemble das Art Ensemble Of Chicago wurde.

Außerdem gibt es im Art Ensemble fünf sehr verschiedene Musiker mit sehr ausgeprägten Charakteren. Vieles basierte auch auf der Erfahrung der AACM, und wie diese Organisation überlebt hat. Hier waren viele verschiedene Leute zusammen. Etwas was wir sehr froh gelernt haben ist, daß du eine größere Chance zum Überleben hast, wenn du zusammen arbeitest. Viele Leute mit denen ich heute spiele, hatten dieses Gefühl in den siebziger Jahren, Tani zum Beispiel. Auch das ist jetzt schon lange Zeit her.

Ich habe sehr viel gelesen, und ich habe gesehen, was mit vielen Leuten geschehen ist. Viele haben sich selbst aufgegeben. Wir wollten das nicht. Wir wollten eine Situation schaffen, in der wir unser Geschick selbst kontrollieren konnten, zumindest gewisse Dinge.

Darum gibt es auch in der AACM Leute, die Bücher schreiben, ihre Musik selbst verlegen und so weiter. Früher taten die Leute überhaupt nichts, und jemand anderer machte diese Sachen für sie. Es ist aber besser, wenn jemand selbst sagt, was er veröffentlichen will. Es ist eine Art Philosophie.

 

In einem Interview sprach Frank Zappa über das Festival in Amougies 1969. Stimmt es, daß das Art Ensemble um fünf Uhr morgens vor tausenden schlafenden Leuten auftrat?

Ich kann mich nicht erinnern, daß wir so spät gespielt haben. Vielleicht stimmt es, ich weiß es nicht mehr. Aber ich kann mich an dieses Konzert erinnern und an die Umstände, wie dieses Konzert zustande kam. Es fand in Belgien statt. Jean Georgakarakos, der Gründer des Plattenlabels BYG, wollte das Festival in Paris veranstalten. Da es aber bei früheren Konzerten Schwierigkeiten gegeben hatte, wurde das Festival im letzten Moment von der französischen Regierung verboten. Es wurden also zwei riesige Zelte aufgestellt, auf einem offenen Feld in Belgien. Es war ein sehr aufregendes Festival. Rund um die Uhr Musik und das über eine Woche. Es gab zwei Bühnen. Wenn eine Gruppe aufhörte zu spielen, begann eine andere Gruppe auf der anderen Bühne. Ich erinnere mich auch an unser Konzert, wenn auch nicht an den Zeitpunkt. Es war ein sehr aufregendes Konzert.

 

Kannst du mir sagen, warum Malachi Favors den Zusatznamen Maghostut verwendet und was dieser bedeutet?

(denkt kurz nach, lacht) Da mußt du ihn fragen, ich kann es dir leider nicht sagen.

 

Inzwischen hat sich Pal Fazekas vom Jazz Club Budapest zu uns gesellt. Pal: Entschuldigt, daß ich mich einmische. Es gibt im Ungarischen ein Wort, daß so ähnlich klingt und auch so ausgesprochen wird - Magasztos. Es bedeutet: "Ein Mann, der am Himmel fliegt."

Da hast du es. Ein Mann der am Himmel fliegt.

 

Möglicherweise hat er recht. Malachi ist ja ein sehr spiritueller Mensch.

Ja, das ist er.

 

Ich wollte dir noch Zeichnungen von Kindern meiner Klasse zeigen. Zeichnungen, die sie zur Musik des Art Ensembles gemacht haben. Sie wußten nichts über die Musik und die Musiker. Am Anfang gab es auch einige erstaunte Fragen. Aber im Endeffekt kamen großartige Zeichnungen heraus.

Ich habe auch viele Zeichnungen von Kindern. Wir spielten in den Schulen und die Kinder machten zum Beispiel nette Zeichnungen der Instrumente. Wie ich schon vorher gesagt habe - Kinder sind wirklich sehr aufgeschlossen.

 

Wie ist die Situation der AACM?

Oh, es geht immer weiter. Es gibt Konzerte. Dann gibt es eine Niederlassung der AACM in New York, die im letzten Monat ebenfalls eine Reihe von Konzerten veranstaltet hat. Es hat sich nichts verändert. Die Ideen sind gleichgeblieben. Die Leute kommen zusammen und machen gemeinsam Musik.

 

Eine Frage die Albert Ayler betrifft. Hast du während deiner Zeit in der Armee mit ihm gespielt?

Nun, wir haben uns oft getroffen. Er war in Frankreich stationiert und ich in Deutschland, in Heidelberg. Oft kamen wir in Berlin zusammen, einige Bands, und wir spielten diese großen Paraden. Danach gab es immer Jam-Sessions. Ich traf viele außergewöhnliche Musiker, während ich in der Armee war. Auch viele europäische Musiker wie Albert Mangelsdorff, Karl Berger, den dänischen Saxophonisten Bengt Jaeding. Alle diese Musiker waren in Heidelberg zu dieser Zeit. Es gab dort einen Club, Cave 54, wo sich alle trafen. Auch wenn Musiker die auf Tournee waren, woanders auftraten, nach dem Konzert kamen sie alle in den Club.

Was hältst du eigentlich von Leuten, die über Musik schreiben?

Ich weiß nicht, ich glaube ein Kritiker zu sein, kann fast genau so schwierig sein, wie ein Musiker zu sein, denn du mußt auf dem Laufenden sein, was sich in der Musik abspielt. Es gibt gute Kritiker und es gibt schlechte Kritiker. Es gibt gute Musiker und schlechte Musiker. Ein guter Kritiker ist jemand, der sich wirklich auf dem Laufenden hält, über das, was so alles in der Musik passiert, um darüber sinnvoll schreiben zu können. Es sollte für den Leser sinnvoll sein und ihm auch helfen. Ich glaube, das ist eine gute Sache. Aber im Laufe der Geschichte haben viele Kritiker sehr viel Blödsinn von sich gegeben.

 

Mein Problem mit Kritikern ist, wenn sie zu analysieren anfangen. Solange sie Informationen liefern ist das für mich okay, aber ....

Ja, das ist sicher ein Problem. Wenn sie dann erklären, was ich mache, ob ich das so oder so mache. Jemand anderer würde dabei vielleicht etwas anderes empfinden.

 

Das ist auch das schwierige bei Konzertanalysen. Ich weiß ja nicht, wie ich reagiert hätte, wäre ich bei dem entsprechenden Konzert gewesen. Es besteht die Möglichkeit, daß ich total anders reagiert oder empfunden hätte als jener Kritiker.

Die Arbeit eines guten Kritikers sollte ein Service für die Musiker und für die Freunde dieser Musik sein.

Genau, genau ... da hast du recht.

 

Die meisten Kritiker schreiben wie die Musik sein sollte, wie die Musiker spielen sollten.

Ja, aber darauf darfst du nicht hören. Wenn du auf Kritiker hörst, mußt du jeden Tag deinen Stil ändern (lacht).

Das ergibt keinen Sinn. Ich meine, du kannst von vielerlei Dingen beeinflußt sein, Dinge, die du hörst. Du kannst dich selbst weiterbilden. Das ist die Stimme, worauf du hören solltest.

 

Du hast nie auf das gehört, was Kritiker gesagt haben?

Nein, niemals, sonst wäre ich heute nicht hier. Ich habe bei vielen Leuten gesehen, wie sie ihre Musik geändert haben ... und dann? Ich glaube, diese Leute waren schon von Beginn an nicht von ihrer Musik überzeugt.

Noch einmal Pal Fazekas: Ich denke, ein Kritiker sollte auch ein Instrument spielen. Ansonsten kann er nie wissen, wie sich ein Musiker beim Spielen fühlt... Ich bin jetzt 52 Jahre und habe mir vor einigen Jahren ein Saxophon gekauft. Nun möchte ich gerne mit dem Saxophon spielen beginnen. Glaubst du, ich bin zu alt dazu?

Ich glaube, das hat nur damit etwas zu tun, ob du es tun willst. Ich würde niemandem sagen, du bist zu alt, um das zu tun, oder zu jung um jenes zu tun. Jede Person sollte machen, was sie machen will und damit glücklich werden. Wenn es dich glücklich macht, Saxophon zu lernen, dann solltest du es machen.

 

Es hat also nichts mit dem Alter zu tun, aber es hat sicher mit üben zu tun. Mit viel üben..

Ich denke, da hast du recht.

 

Wieviel übst du?

Sehr viel. Ich übe wirklich sehr hart. Anders würde ich so eine Tournee nicht überstehen. Ich würde mich nicht wohl fühlen. Wenn ich nicht übe, roste ich ein. Es dauert dann wieder eine Weile, bis ich wieder die alte Beweglichkeit habe. Du mußt also üben. Aber es macht Freude. Was ich natürlich beim Üben mache, jetzt mehr als früher, ich vergeude keine Zeit. Wann immer ich ein Instrument in den Mund stecke, lerne ich dabei. Ich glaube, es gilt für jeden Musiker, je früher er zu dieser Anschauung kommt, um so besser für ihn. Du kannst immer lernen.

 

Wie alt warst du, als du angefangen hast, ein Instrument zu lernen.

Oh, ich fing spät an. Ich fing mit 11 Jahren an.

 

Dein erstes Instrument war die Klarinette?

Ja, Klarinette. Nun denke ich, daß ich vielleicht wieder anfange Klarinette zu spielen.

 

Möchtest du noch irgend etwas Spezielles sagen?

Ich weiß nicht recht. Ich glaube, daß Musik eine Wissenschaft ist. Je mehr man darüber lernt, je mehr Arten von Musik man hörst, um so mehr wird uns das helfen als Menschen zu wachsen. Ich sah das bei mir. Während ich lernte, Musik zu verstehen, verstand ich nicht nur die Musik besser, die ich hörte, ich wurde auch offener anderen Dingen gegenüber. Wenn Leute wirklich an Musik interessiert sind, würde ich ihnen raten, alles darüber selbst herauszufinden. Die Informationen darüber sind leider nicht immer vorhanden. Wenn wir zum Beispiel die Medien hernehmen: Da gibt es nur bestimmte Arten von Musik. Das macht es für viele Leute schwierig, etwas über Musik zu erfahren. Es ist eine Sache, wo du dir im klaren sein mußt, daß du alles selbst in Erfahrung bringen mußt.

 

Was ist mit anderen Kunstrichtungen. Ich weiß, daß du eine Zeitlang gemalt hast, machst du das noch?

Ich habe vor langer Zeit ein Bild angefangen, das ich noch immer nicht fertiggestellt habe. Ich glaube, ich werde später wieder darauf zurückkommen. Ich mußte diese Entscheidung treffen, denn ich fing an, als Maler konkurrenzfähig zu werden. Ich glaube, dieser Platz in meinem Leben wird jetzt vom Komponieren gefüllt. Ich konnte nicht beides machen. Aber ich glaube, eines Tages werde ich dieses Bild schon fertig malen (lacht). Vielleicht lerne ich dann wieder etwas Neues dabei.

 

Danke Roscoe.

 

Hannes Schweiger/Pepsch Muska, Jazzlive Nr.102b, 1993, p.4-11