DER FALL NITRIBITT



Die dunkle Seite des Wirtschaftswunders

Es ist sehr mild für die Jahres- zeit, fünfzehn Grad. Nieselregen über Frankfurt/Main. In Bonn gibt Bundeskanzler Adenauer seine Regierungserklärung ab, in West-Berlin ist Willy Brandt an der Macht, und durch den Weltraum jagt der russische Satellit Sputnik II mit dem Hund Leica an Bord. Wir schreiben das Jahr 1957. Es ist Dienstag, der 29.Oktober.

Doch die eigentliche Sensation dieses Tages wird erst 72 Stun- den später am 1.November be- kannt: ein Mord im vierten Stock der Frankfurter Stiftstraße 36. Das Opfer: eine Hure. Ihr rechtes Bein liegt auf der Cordcouch, das linke darunter. Ihr Oberkörper ist auf den Orientteppich gerutscht. Am Hinterkopf klafft eine drei Zentimeter lange Platzwunde, der Hals trägt Würgemale.

Es ist sehr heiß im Wohnzimmer, fast 30 Grad. Die Bodenheizung ist voll aufgedreht, Fenster und Gardinen sind geschlossen. Der weiße Pudel "Joe" läuft winselnd von Raum zu Raum.

Sonst trauert eigentlich niemand um die 24jährige. Denn sie wird erst jetzt, nach ihrem Tod, zu Deutschlands berühmtester - und verklärtester - Prostituierten werden: Ihr Name ist Rosemarie Nitribitt. Ihre Kunden sind prominente Wirtschaftsbosse, Rechtsanwälte, Ärzte und Politiker. Doch da beginnt schon die Legende.

Einer der Legendenschreiber ist der Regisseur Rolf Thiele. Er brachte "Das Mädchen Rosemarie" in Derby-Hut und großgepunktetem Blauem 1958 auf die Leinwand und kürte damit die Nitribitt 1958 als "Kurtisane der Oberen Zehntausend".

Erstes sündiges Symbol des Wirtschaftswunders

Heute, 40 Jahre später, lebt der Mythos Nitribitt immer noch in der Metropole Frankfurt, das Mädchen Rosemarie war und ist ein - sündiges - Symbol des damaligen Wirtschaftswunders. Sie wohnte gleich neben dem Eschenheimer Turm. Das vierstöckige Haus an der Stiftstraße hat viel von seinem Glanz der 50er Jahre verloren. Doch der Eingang wirkt gepflegt, Wände und Fußböden sind aus Marmor. In den 20 Wohnungen leben wohlsituierte Bürger.

Auch die 75-Quadratmeter-Wohnung der Nitribitt ist vermietet. Immer noch an das Ehepaar, das neun Monate nach dem spektakulären Mord hier einzog. Ein großes, helles Wohnzimmer mit Parkettboden, ein Schlafzimmer, Küche, Diele und Bad. Die Eheleute kannten Rosemarie vom Sehen. Sie hatten sie oft in ihrem schnittigen Sport-Cabrio beobachtet, wie sie durch die Straßen fuhr und so die Blicke der Männer anzog.

"Sie war eine schöne Frau", erinnert sich der alte Mieter (86). Nein, man habe es nie bereut, in diese Wohnung gezogen zu sein. "Hier spukt's nicht, und wir träumen auch nicht von Rosemarie", lächelt er. Doch in diesen Tagen kommen er und seine 20 Jahre jüngere Frau kaum zur Ruhe. Reporter bitten um ein Interview, vier Fernsehsender drehen an den Schauplätzen von damals.

Ob die den legendären Flair der Nitribitt heute noch finden, ist fraglich. Das Geschäft mit der Liebe ist nüchterner geworden. 800 Liebesmädchen bieten sich in Bordellen an. 90 Prozent von ihnen kommen aus Venezuela und Kolumbien. Und welche Hure fährt noch im Cabrio durch die Straßen, welches Liebesmädchen sitzt noch im Café und trinkt mit ihren Kolleginnen Champagner? Rosemarie Nitribitt war einmalig - sagen die Legendenschreiber.

Sicher ist nur, daß sie ganz unten im Milieu begonnen hat. Als eine von drei Töchtern einer Putzfrau in Düsseldorf. Jedes Kind hat einen anderen Vater. Heute lebt nur noch ihre Schwester Irmgard (62) in Düsseldorf - in bescheidenen Verhältnissen. "Rosemarie war immer sehr nett, sehr lebhaft, sehr aufgeweckt", sagt Irmgard.

Die Schwestern verbringen die Kindheit in Heimen. Rosemarie gilt dort nicht als nett, sondern als schwer erziehbar. Mit 14 Jahren stellt sie fest, daß die Männer auf sie fliegen und ihr gutgebauter Körper ein prächtiges Kapital ist. Ihre ersten zahlenden Kunden sind amerikanische Soldaten.

Sie geht nach Koblenz, arbeitet als Kellnerin und später als Mannequin in Frankfurt. Schnell sieht Rosemarie, daß mit der Lust der Männer mehr Geld zu verdienen ist. Geschickt überspielt sie ihre einfache Herkunft, sie paukt Englisch und Französisch. Der erste Erfolg: Ein Freier schenkt ihr ein Auto. Der Opel Kapitän soll es ihr ermöglicht haben, der Kneipenszene rund um den Frankfurter Bahnhof zu entkommen.

Doch vielleicht ist daran nur die Automarke wahr, denn die Legende um die Nitribitt hat sich in 40 Jahren verselbständigt. Reporter haben sie damals im Frankfurter Rotlicht-Café "Expreß" eher wortkarg und mißtrauisch erlebt. Charmant sei sie nur gewesen, wenn es um Geld ging. "Sie konnte kaum schreiben und hat stundenlang ihren Namenszug geübt", erzählt eine Freundin. Immerhin läßt sich Rosemarie von einem Studenten etwas Französisch beibringen, damit sie ihre Runden auch am eleganten "Frankfurter Hof" drehen kann.

Aber sind diese Erzählungen wahr? Vielleicht wollten die Kolleginnen nur neidisch an Rosemaries Lack kratzen. Immerhin kauft sie sich tatsächlich einen schwarzen Mercedes 190 SL mit roten Ledersitzen. Damit hat Rosemarie endgültig den Sprung in die feine Gesellschaft und zum Image einer Lebedame geschafft. Durch den "guten Stern" nimmt sie jetzt die reichen Männer ins Visier. Die blonde Lebedame fährt auffordernd durch die Straßen der Innenstadt. Die Portiers der umliegenden Luxushotels geben ihre geheime Telefonnummer für ein gutes Trinkgeld weiter.

Sie kleidet sich nach der neuesten Mode. Die Farbe des Hutes paßt zum Auto. Mehrmals täglich wechselt die Nitribitt die Schuhe, wählt unter 64 teuren Bally-Modellen. Sie bestellt sich einen Ring für 18 000 Mark. Ein reicher Kunde lädt sie zum Baden an die französische Mittelmeerküste ein. Ihren Urlaub verbringt Rosemarie in den Schweizer Bergen. Das Jahreseinkommen wird später auf knapp 100 000 Mark geschätzt - für die damalige Zeit eine unvorstellbare Summe.

Allein, in diesem Bild der Nitribitt fehlt ihr Haushaltsbuch, das mit einem eigenartigen Strichcode vollgeschrieben ist. Ein Punkt bedeutete 50, ein Strich 100 Mark - Einnahmen in der Größenordnung eines kleinen Straßenmädchens.

Milchreis als Henkersmahlzeit

In der Szene erzählt man sich, daß Rosemaries Kolleginnen längst von Stammkunden leben, während die Nitribitt bis zum Schluß auf der Straße Freier fischen mußte - wenn auch hinter dem Lenkrad eines Mercedes-Cabriolets. "Für Champagner war sie viel zu geizig", sagt eine Freundin, "und Milchreis war ihr Leibgericht." Milchreis sollte auch ihr letztes Mahl sein.

Kriminalhauptkommissar Helmut Konrad (85) hört noch heute den Klang des Martinshorns: "Am 1.November wurde ich um 17.45 Uhr zum Tatort gerufen", erinnert sich der damalige Chef der Mordkommission. "Die Leichenstarre war so weit fortgeschritten, daß wir davon ausgingen, daß die Nitribitt bereits 72 Stunden zuvor ermordet worden war. Außerdem hingen nach Aussagen der Putzfrau die Frühstücksbrötchen seit drei Tagen unberührt an der Tür."

Mit Rosemaries Tod hat das Wirtschaftswunder in Deutschland seinen ersten Gesellschaftsskandal. Ein Notizbuch löst ihn aus, das die Beamten der Mordkommission bei der Spurensuche entdecken. Es enthält angeblich Adressen und Telefonnummern von mehr als 100 Kunden, alles hochangesehene Leute. Bewußt schürt die Polizei dieses Gerücht. Mit Erfolg: Zahlreiche Kunden der Prostituierten melden sich freiwillig bei der Mordkommission. Doch der Mörder ist nicht unter ihnen.

Was in dem Büchlein tatsächlich stand, darüber streiten sich die Chronisten. War es nur das minutiös geführte Haushaltsbuch der Nitribitt? Oder existierte doch eine Kundenkartei, wie der damalige Chefermittler Alfred Kalk erzählt?

Sie hat es schon für achtzig Mark gemacht

Kalk fand in der Liste jedenfalls keine großen Namen, nur "ganz normale Bürger. Ein Sparkassendirektor aus Homburg war das höchste", trübt der Kommissar das glamouröse Bild der Lebedame. "Sie hat es ja schon für 80 Mark gemacht."

Haushaltsbuch hin, Kundenkartei her - "Keiner der Freier, die sich gemeldet haben, hatte ein Motiv", sagt Helmut Konrad. Und alle wiesen ein Alibi nach. "Unser Hauptverdächtiger war Heinz P., ein enger Freund der Nitribitt. Sie hatte dem Hochverschuldeten oft aus der Patsche geholfen. Wir wußten, daß sie 20 000 Mark in bar in ihrer Wohnung aufbewahrte. Das Geld für den neuen Ring." Doch das Geld war weg.

Wenige Tage nach ihrem Tod hinterlegte der verdächtige P. bei Bekannten ein Päckchen. Er sagte, es werde abgeholt. Doch er selbst kam und nahm das sorgsam verschnürte Paket wieder mit. Konrad: "Da war wahrscheinlich das Geld drin. P. zahlte später seine Schulden zurück." Und noch etwas: Heinz P. hatte am Tattag Reis gekocht. Bei der Obduktion der Nitribitt wurde in ihrem Magen Reis gefunden.

Indizien, die den 36jährigen Handelsvertreter schwer belasten. Doch das Gericht sprach Heinz P. im Juli 1960 frei. Man habe nicht mit letzter Sicherheit die Täterschaft des Angeklagten erkennen können, hieß es in der Begründung. Der Anwalt stellte nämlich den Todeszeitpunkt in Frage, den die Polizei angenommen hatte, und er bekam recht. Denn die ermittelnden Beamten hatten vergessen, die genaue Temperatur in der Wohnung der Nitribitt zu messen, was für die Bestimmung des Todeszeitpunktes unbedingt notwendig ist. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Revision.

"Für mich war Heinz P. der Täter. Die Indizien sprachen dafür, aber wir konnten es nicht beweisen", sagt Kriminalhauptkommissar Helmut Konrad. Und nach einer kurzen Pause: "Wahrscheinlich war es gar kein Mord, sondern ein Unfall. Die beiden haben ums Geld gestritten. Es kam zu einer Auseinandersetzung. Dabei passierte es. Er drückte zu, und die Nitribitt starb am Schock."

Heinz P. zog nach dem Prozeß nach Süddeutschland. Er lebt nicht mehr.

Rosemarie Nitribitt wurde in der Heimatstadt ihrer Mutter beerdigt. Im Düsseldorfer Stadtteil Derendorf auf dem Nordfriedhof, Feld 95, Grabstätte 1148. Ihr Name ist in den schwarzglänzenden Marmor des verwitterten Grabsteins eingemeißelt. Die Daten ihres kurzen Lebens stehen zwischen zwei Relief-Sternen: Rosemarie Nitribitt, 1.2.1933, 1. 11. 1957. Die Inschrift lautet: "Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein im Leben".

(Jürgen Bungert und Günter Stiller, BERLINER MORGENPOST, 26.10.1997)





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