Paris, 25. Juli (sda/afp) Einer der aufsehenerregendsten Mordfälle
in der französischen Kriminalgeschichte der Nachkriegszeit wird
vermutlich nie aufgeklärt werden. Der vierjährige Gregory Villemin
war am 16. Oktober 1984 an Händen und Füssen gefesselt in einem Fluss
der Vogesen gefunden worden. Nach schwierigen Ermittlungen, die reich
an Überraschungen waren und monatelang ganz Frankreich in Atem
hielten, wurde die Mutter Christine Villemin im Juli 1985 wegen der
Tat unter Anklage gestellt.
Wie das Pariser Nachrichtenmagazin "Le Point" in seiner jüngsten
Ausgabe berichtet, ist der Staatsanwaltschaft von Dijon acht Jahre
nach der Tat nun zu dem Schluss gekommen, dass sie unschuldig ist. Er
wird bei der zuständigen Anklagekammer die Einstellung des Verfahrens
beantragen. Die Entscheidung soll im September fallen.
Der Vater des Kindes hatte 1985 seinen Vetter Bernard Laroche
erschossen, den er für den Mörder hielt, obwohl dieser nach
dreimonatiger Untersuchungshaft aus Mangel an Beweisen freigelassen
worden war. Die Eltern hatten jahrelang hasserfüllte anonyme
Schreiben erhalten, hinter denen der Mörder vermutet wird. Christine
Villemin war unter den Verdacht geraten, selbst die Briefe
geschrieben zu haben.
(Schweizerische Depeschenagentur, 25.07.1992)
Eine ausgeschlachtete Provinztragödie
Ein seltsamer Prozess. Die "Affäre Gregory"O wird seit neun Jahren von den französischen Medien unablässig neu aufgerührt. Seit der Affäre Dominici - mit Jean Gabin in der Hauptrolle verfilmt - hat kein Mordfall eine solche Publizität erfahren. Lepanges und das Tal der Vologne waren von Journalisten überschwemmt worden, die sich als romancierende Kriminalisten gebärdeten und zwischen den verfeindeten Familien Villemin und Laroche intrigierten. Die Gendarmen agierten dagegen als Klatschtanten, der petit juge Lambert, der aus seinem Übernamen "der kleine Richter" ein Buch machte, als untalentierte Primadonna. Auch Christine Villemin schrieb ihre Memoiren. Die Schriftstellerin Marguerite Duras verfasste 1985 ein Feuilleton über das Tal und die Mutter, das ihr jetzt eine Klage von Christine eingetragen hat. Der Photograph Helmut Newton, sonst eher für Erotikaufnahmen zuständig, reiste zu den Verhandlungen nach Dijon, um die Protagonisten zu porträtieren. Die Soziologen und Psychologen analysierten die malträtierten Vogesen als freudianische Seelenlandschaft einer rueckständigen und komplexbehafteten France profonde.
Das Schweigen der Clans
Der Mord am kleinen Gregory war ein Racheakt aus Hass gegen seinen
Vater, der es, im Gegensatz zu den anderen, zu etwas gebracht hatte: zu
zwei Autos, zu einem Esszimmer aus "massiver Eiche" und einem neuen
Einfamilienhaus; und der dies auch vorzeigte. Er und die ganze Familie
Villemin, in der es nicht an Neid und Spannungen fehlte, war vor und
nach dem Tod Gregorys schon das Opfer eines corbeau (ein berühmter
Filmtitel von Henri-Georges Clouzot), eines anonymen Briefschreibers und
Anrufers, der über den Mord an Gregory Bescheid wußte. Es gelang
bisher nicht, die Identität des "corbeau", hinter dem sich mehrere
Personen verbergen können, oder diejenige des Täters herauszufinden,
obwohl der Gerichtspräsident von Dijon den Prozess gegen Jean-Marie
benutzen wollte, um die ganze Wahrheit zu enthüllen. Sie blieb
weiterhin verborgen hinter widersprüchlichen Zeugen- und
Gutachteraussagen, einer fahrlässig geführten Untersuchung und vor
allem hinter dem berechnenden Schweigen der Familien Villemin und
Laroche, die mehr wissen müssen, als sie zugeben wollen. Die
Belastungszeugin gegen Bernard Laroche, die damals 15jährige Murielle
Bolle, die jüngere Schwester seiner Frau Marie-Ange, hatte erst
ausgesagt, im Auto von Laroche die Entführung Gregorys miterlebt zu
haben. Sie widerrief wenig später ihre Aussage mit der Behauptung, sie
sei von den Gendarmen unter Druck gesetzt worden, und blieb auch in
Dijon bei dieser Version. Das Geheimnis der Vologne bleibt den
französischen Medien - auch nach der bald zu erwartenden Entlassung von
Jean-Marie, der den größten Teil seiner Strafe bereits abgesessen hat
- erhalten.
( Autor: Ulrich Meiste NZZ 16. Dezember 1993)