Michael Aharon Schüller's Private Office

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1. Mai - Von den Floralien bis zum Kampftag der Arbeiter - und heute?
Arbeitszeit und Wirtschaftskrise

Der Maianfang stand bei den Römern im Zeichen des Festes für die Blumen- und Frühlingsgöttin Flora. Floralien, so hießen diese Festtage, breitete sich in die von Rom eroberten Gebiete aus, nur in Kelten stieß es auf das zeitgleich gefeierte Beltanefest; beide Feste verschmolzen später zu einem.

Volksbrauch ist nach wie vor das Tanzen in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, dem die Hexen - so alter Volksglaube - besonders wild frönten: sie ritten mit ihren Besen durch die Lüfte, um am Brocken im Harz ihre Walpurgisnacht zu feiern und dem Teufel zu huldigen.

Getanzt wird vor allem in Süd- und Mitteldeutschland, zumeist um einen besonders geschmückten Baum, dem Maibaum.

Was machte das Frühlingsfest zum Arbeiterkampftag?

Die Industrialisierung der Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts führte zunehmend zu einer Auflehnung der Arbeiterschaft gegen die unmenschlich langen Arbeitszeiten von bis zu 16 Arbeitsstunden auch sonntags (max. Wochenarbeitszeit um 100 bis 112 Stunden), gegen die Kinderarbeit, gegen den fehlenden Arbeitsschutz.

Die erste dokumentierte Forderung nach einem 8-Stunden-Arbeitstag ist aus Australien für das Jahr 1856 bekannt. Große Bedeutung erlangte die Rebellion der nordamerikanischen Arbeiterbewegung, welche zu einer Massenkundgebung in Chicago Ende April 1886 aufrief; auch sie forderte den 8-Stunden-Arbeitstag. Die Demonstration endete in den ersten Maitagen in Chaos und Niederschlagung des Protests; zahlreiche Arbeiter wurden verletzt, die Organisatoren der Verschwörung angeklagt und teilweise zum Tode am Strang verurteilt, einer beging Selbstmord. Grund für die Zeitwahl war, dass der 1. Mai  in den USA traditionell als "Moving Day", als Stichtag für den Abschluss oder die Aufhebung von Arbeitsverträgen, galt.

Dieser Protest ging in die Sozialgeschichte als Haymarket Riot ein. Seiner wurde am Gründungstreffen der zweiten internationalen Arbeiterbewegung 1889 gedacht, der 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen und erstmals 1890 abgehalten.

Ab 1900 legten in Österreich die Kollektivverträge fest, dass die Teilnahme an den 1.Mai-Aufmärschen keinen Entlassungsrund mehr darstellt. 1955 anerkannte Pabst Pius XII. den 1. Mai als Fest des "St. Josef der Arbeiter".

Was wurde am ersten "Kampftag der Arbeiterbewegung" gefordert?

In Österreich (Hainfelder Einigungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1889) und Deutschland lauteten die Forderungen:

- 8-Stunden-Tag (in Österreich seit 1885 11-Stunden-Arbeitstag bzw. 66-Stunden-Arbeitswoche eingeführt) 
- Verbot der Sonntagsarbeit (in Österreich seit 1885 eingeführt)
- Verbot der Kinderarbeit (in Österreich seit 1885 eingeführt)
- Arbeitschutzgesetze
- Allgemeines Wahlrecht
- Koalitionsfreiheit: das Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen (in Österreich teilweise ermöglicht ab den 1870er Jahren).

Wie entwickelten sich in Österreich politische Rechte, Arbeitszeit und Erholungsurlaub?

1906 wird das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht für erwachsene Männer gewährt.
1919 wird unter Sozialminister Ferdinand Hanusch, Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs, der 8-Stunden-Arbeitstag eingeführt.
1959 wird in Österreich im Generalkollektivvertrag die 45-Stunden-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich vereinbart; dies hatte der 1945 gegründete Österreichische Gewerkschaftsbund 1957 gefordert.
1965 wird der gesetzliche Mindesturlaub von zwei auf drei Wochen verlängert.
1975 ist in Österreich die 5-Tage-Arbeitswoche mit insgesamt 40 Wochenarbeitsstunden bei vollem Lohnausgleich nach stufenweiser Einführung Wirklichkeit geworden: 1970 - 43 Stundenwoche; 1971 - maximale Arbeitszeit auf 10 Stunden täglich begrenzt; 1972 - 42 Stundenwoche.
1975 wird abermals der gesetzliche Mindesturlaub um eine Woche auf vier Wochen angehoben.
1985 wird in zahlreichen Kollektivverträgen die 38,5-Stunden-Arbeitswoche verwirklicht.
1986 der der allgemeine Urlaubsanspruch letztmalig um eine weitere Woche auf 5 Wochen ausgedehnt.

Fazit: von vor 1885 bis heute wurde in Österreich die Wochenarbeitszeit von gut 100 Stunden auf 40 bzw. 38,5 Stunden gesenkt, der allgemeine Urlaubsanspruch auf 5 Wochen erweitert. Im länderweiten Vergleich ergibt sich für 2002:




 

 



U.a. um die mit Blick auf Osteuropa und Dritte-Welt-Länder relativ hohen Lohnstückkosten zu senken, fordert die österreichische Industriellenvereinigung seit 2004 eine Verlängerung der täglichen Normalarbeitszeit um zwei Stunden auf zehn Stunden; gewünscht wird außerdem eine Reduktion der gesetzlichen Feiertage.

Fakt ist, das in Österreich bereits jetzt auf "freiwilliger" Basis die Wochenarbeitszeit höher geworden ist: Arbeiter und Angestellte arbeiten in Überstunden, teils auch samstags und sonntags. Grund für den scheinbaren Arbeitseifer ist die zunehmende Sorge um den Arbeitsplatz, nicht zuletzt im Hinblick auf die zurückgefahrenen Arbeitslosengelder- und sonstigen Sozialansprüche. Stellten Anfang der 70er Jahre die Arbeiter und Angestellten vor Antritt einer Arbeitsstelle noch recht hohe Forderungen nach Mehrurlaub und anderen Vergünstigungen - was ihnen die arbeitskraftsuchende Unternehmerschaft wohl oder übel einräumte -, so sind es nun die ArbeitgeberInnen, die Entlohnung und Gehalt, Vergünstigungen und Rechte der Arbeitnehmer nach unten zu drücken versuchen.

Kann durch Drehen an der gesetzlichen Arbeitszeit an der misslichen wirtschaftlichen Lage etwas verbessert werden? Kann die hohe Arbeitslosigkeit dadurch gesenkt werden?

Was bringt einer Volkswirtschaft mehr: die Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich - wie dies die ArbeitgeberInnen behaupten - oder die Arbeitszeitverkürzung - wie jenes die Gewerkschaften und arbeitnehmernahen Parteien und Organisationen vertreten?

Aus Arbeitergebersicht sänken bei Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich die Lohnstückkosten, die Wettbewerbsfähigkeit stiege an, die Wirtschaft liefe wieder rund, die Arbeitslosenzahlen nähmen ab. Arbeitnehmer halten dagegen, die Wettbewerbsfähigkeit sei kaum mehr zu steigern, die Binnenkaufkraft aber schwände, die Wirtschaftskrise verschärfte sich..

Aus Arbeitnehmersicht erscheint die Arbeitszeitverkürzung - z.T. als Teilzeitarbeit - als echte Alternative: die Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde stiege, die Kosten sänken (da geringere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung etc. zu bezahlen seien), die Arbeit würde sich auf mehr Arbeitnehmer aufteilen, die Arbeitslosigkeit sänke. Nachteil dieses Modells ist, dass die Brutto- und Nettolöhne niedriger ausfielen, letztere wegen der Steuerprogression (Hineinrutschen in niedrigere Steuerklassen) etwas weniger. Doch gerade die Aussicht auf geringere Entlohnung bzw. kleineres Gehalt lässt Arbeitnehmer vor der Annahme einer Teilzeitarbeitsstelle zurückschrecken. Eine Lohnerhöhung käme aber nach Meinung der Arbeitgeber schon gar nicht in Frage, würde sie die wettbewerbsrelevanten Lohnstückkosten erst recht erhöhen.

Unbestritten ist - und dies bemängeln die Globalisierungskritiker -, dass die Unternehmen ungehindert Produktionen und Dienstleistungen in jenen Ländern erwerben können, die ein niedriges Lohn- bzw. Gehaltsniveau aufweisen. Freier Geld-, Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr ist geradezu Motor dieser "Umverteilung" von Arbeit aus Ländern mit hohen Arbeitskosten in solche mit niedrigen.

Eine Frage ist nun: ist eine Umverteilung von Arbeit weltweit grundsätzlich wünschenswert? Falls ja, wieweit kann man diese Umverteilung "regulieren", ohne das Prinzip der vier Freiheiten ad absurdum zu führen?

M.E. erfährt die Wirtschaft seit etwa zwei Jahrzehnten einen enormen, lawinenartig anschwellenden Produktivitätszuwachs durch den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung und der damit verknüpften Digitalisierung zahlreicher Vorgänge in Produktion bzw. Dienstleistung. Direkt erzwingt dies bei gegebener Produktions-/Dienstleistungsmenge ein Zurückfahren menschlicher Arbeitskraft je Zeiteinheit. Indirekt ermöglicht der EDV-Einsatz eine Ortsunabhängigkeit von Leistungen aller Art, die fremde Arbeitsmärkte in bislang ungekannter Weise zugänglich machen. Arbeitskraft - und dazu noch billige - steht in Hülle und Fülle zur Verfügung wie es noch nie die der Fall war.

Daher lautet die zweite, vielleicht noch drängendere Frage: wie lange wird dieser Prozess der Produktivitätssteigerung durch Einsatz von EDV und mittelbar durch Ortsunabhängigkeit noch andauern: kommt er zu einem Ende und wann? Führt die Entwicklung infolge zurückgehender Produktivitätssteigerung auf einen Plafond, auf dem eine Konsolidierung möglich ist?

Die Antworten bleiben - trotz aller Gurus mit ihren lauthals verkündeten Meinungen, Expertisen und Zukunftsvisionen - im Dunkeln oder im zumindest kollektiv noch nicht Gewussten: Zu diesem zählt die von Sozialwissenschaftlern in absehbarer Zeit erwartete Beendigung der Arbeitslosigkeit aus demographischen Gründen - mit der Lupe würden in nicht ferner Zukunft die Unternehmen Arbeitswillige suchen, der oben angesprochene Plafond wäre u.a. aus diesem Grund erreicht ... Doch zurück: Resultat der unklaren und verdunkelten Zukunftssicht ist eine Verunsicherung bei Arbeitnehmern, aber auch Arbeitgebern. Erstere sparen eichhörnchenartig in größerem Ausmaß, um den Wechselfällen des Lebens (Pensionsausfall, Krankheit, Pflegekosten etc.) parieren zu können - was aber den Binnenmarkt schwächt, zweitere wissen nicht, wo investieren, da die Nachfrage im Binnenmarkt, aber auch Außenmarkt weiterhin gering oder künftig schwächer eingeschätzt wird. Das überschüssige Geld aus den Gewinnen wird daher entweder ausgeschüttet in Form von Dividenden oder gleichsam "vernichtet", indem Aktien des eigenen Unternehmens zurückgekauft werden: für weitere Aktienoptionen für das Management, als Kurspflege für die Aktionäre, als Aufziehen eines Schutzwalles vor (feindlichen) Übernahmen, um wichtige Beispiele zu nennen. Jedenfalls: ganz rosig sieht man die Zukunft in den Vorstandsetagen offenbar nicht, sonst würde man Gewinne und gegebenenfalls das derzeit zinsgünstige Fremdkapital möglichst rasch und möglichst reichlich in Sachinvestitionen anlegen; aber noch nicht einmal Finanzanlagen lohnen sich: Zinstief und möglicherweise schon weit vorausgelaufener Aktienmarkt laden nicht gerade zum Investment ein - und Derivativmärkte mit ihren Hebeln sind nun einmal höherriskante Märkte als es die Warenmärkte (hier: Wertpapiere) sind. Und Österreich kennt ein Unternehmen, das sich in den 1980ern nichts anderes wusste als Optionsgeschäfte abzuschließen - und millionenschwer verlor. Die Pikanterie am Rande: es war ein staatseigener Betrieb ... 

Doch zurück zum 1. Mai: was ist er heute?

Während der 1. Mai als Tag der Arbeit gesetzlicher Feiertag in Österreich (mit Beginn der 1. Republik ab 1919), Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern ist, gilt er in anderen Ländern nicht als solcher, oder der Tag der Arbeit wird an einem anderen Tag abgehalten, so in den USA im September als Labour Day. In einigen Ländern werden  Arbeiter, die den Tag der Arbeit zum Vorbringen ihrer Forderungen nutzen, durch staatliche Gewalt eingeschüchtert und bedroht, so z.B. in Südkorea. Da kann man sich schon freuen, wenn heute ein österreichischer Nachrichtenkommentator die Situation seines Landes so wiedergibt: vor Jahrzehnten als Kampftag der Arbeiterbewegung eingeführt, zeigt der 1.Mai heute Volksfestcharakter ...

Na denn: Prost!

 

MAS 1.5.2005

 





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