Michael Aharon Schüller's Private Office

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1) Im Interesse deutscher Interessen? (NZZ 16./17.4.) mehr...
2) Bei der Papstwahl «einzig Gott vor Augen» (NZZ 16./17.4.) mehr...
Schwierige Suche nach einem Nachfolger für Johannes Paul II. 
Statistik: Herkunft der Papabili seit 1963
3) Klimawechsel im Private Banking (NZZ 16./17.4.) mehr...
4) Lauernde Gefahren für die Weltwirtschaft (NZZ 16./17.4.) mehr...
IMF und Weltbank wollen Taten sehen
5) Erfolg in der Bekämpfung der Geldwäscherei (NZZ 16./17.4.) mehr...
Gesunkene Zahl der Verdachtsmeldungen
6) Deutsche Anleger setzen auf Rentenfonds (NZZ 16./17.4.) mehr...
7) Grossbritanniens Wirtschaft mit Blair und Brown auf der Überholspur (NZZ 15.4.) mehr...
Versteckte Schwächen und nachlassende Dynamik unter der glänzenden Oberfläche
8) Vor 100 Jahren - Toleranzedikt in Russland (NZZ 16.4.) mehr...
Zar Nikolai II. proklamiert erstmals Religionsfreiheit




! 1) Im Interesse deutscher Interessen? (NZZ 16./17.4.)
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Weichenstellungen sind in der deutschen Politik selten geworden. Bald sieben Jahre nach dem Ende der Ära Kohl verharrt Deutschland im Zustand rot-grüner Erstarrung, die zu durchbrechen kaum mehr einem der grossen Akteure zugetraut wird. Es scheint, als hätten die gegenwärtigen Machthaber ihr Instrumentarium ausgereizt, allen Innovations-Schlagworten zum Trotz. Seit Jahren stagniert die deutsche Binnenwirtschaft. Die Arbeitslosigkeit hat mit erschreckender Konstanz zugenommen, die öffentliche Verschuldung ebenso. Von der Sicherheit der Renten spricht niemand mehr, und dass auch im Gesundheitsbereich mit neuen Hiobsbotschaften zu rechnen ist, erregt kaum mehr Aufsehen. Ein Mehltau von Misstrauen und Missgunst hat sich über den öffentlichen Diskurs gelegt. Wenn die Metapher vom «Reformstau» in Deutschland nicht schon in den neunziger Jahren die Runde gemacht hätte, müsste man sie heuer wohl zum «Unwort des Jahres» wählen.

Einige Zeit lang konnte die rot-grüne Regierung ihren Hals damit trocken halten, dass sie die Schuld an der 
sozioökonomischen Misere ihrer Vorgängerin, also der christlich-liberalen Koalition unter Kohl, in die Schuhe schob. Aber das Argument zieht nicht mehr, und so macht man in Berlin nun schon seit längerem die stagnierende Weltwirtschaft, neuerdings vor allem den hohen Ölpreis, verantwortlich. Das Argument hat den grossen Vorteil, dass es viel abstrakter ist als die Höhe einer Rente oder einer Arztrechnung. Aber es entpuppt sich sehr schnell als hohl und irreführend. Denn die deutsche Exportwirtschaft boomt seit Jahren, und selbst der Kanzler preist sein Land immer wieder stolz als «Exportweltmeister». Da kann es um den Gang der Dinge draussen wohl doch nicht so arg stehen. Und dem «Exportweltmeister» müsste es, wären Ausfuhren allein massgebend, glänzend gehen.

Wenn sich aber innenpolitisch nichts mehr bewegen lässt, erscheinen aussenpolitische Seitensprünge umso verlockender. Deshalb überrascht es kaum, dass das Duo Schröder-Fischer in letzter Zeit vor allem auf diesem Felde seine Aktionsfähigkeit unter Beweis zu stellen versucht. Alles wird zur Aussenpolitik, wenn im Innern nichts mehr klappt, oder wenigstens fast alles. Die deutschen Interessen werden jetzt nicht mehr zu Hause verteidigt, sondern am Hindukusch oder Hwangho. Und noch weniger als in der Innenpolitik ist dort ein kohärentes Konzept nötig. Wichtig ist, was gerade opportun erscheint. Das macht schnelle Entscheide einfach. Freilich wachsen dadurch auch die Risiken. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen.

Schröders verhängnisvoller Entschluss, seinen maroden Wahlkampf von 2002 mit einem offen amerikafeindlichen Kurs zu 
retten, verhalf ihm damals zwar zu einem kaum mehr erhofften Sieg
. Aber eine der Säulen der deutschen Nachkriegspolitik - vielleicht die wichtigste - war eingerissen, und das deutsch-amerikanische Verhältnis ist seither trotz rhetorischen Versöhnungsgesten nach- haltig gestört. Dass sich der deutsche Kanzler dadurch in die Abhängigkeit französischer Grossmannssucht und russischen Machtstrebens begab und dies auch noch als «strategische Neuausrichtung» und «deutschen Weg» vermarktete, gehört ins Bild einer Berliner Aussenpolitik, die man füglich als Hasardspiel bezeichnen darf.

Dabei haben Schröder und seine Minister gar keinen Manövrierraum für strategische Bewegungen mehr. Beispielsweise 
überschreiten sie seit drei Jahren regelmässig die Limiten des europäischen Stabilitätspaktes, indem sie ihre 
Schuldenwirtschaft weit über das erlaubte Mass hinaus betreiben. So fuhren sie allein 2004 ein Defizit von mehr als 40 
Milliarden Euro ein. Drohende Strafverfahren in Brüssel konnte Schröder abwürgen. Und nun ist es dem Kanzler Ende März endlich gelungen, mit Hilfe des andern grossen Schuldenmeisters, Jacques Chirac, und einiger stiller Komplizen das Stabilitätsgefüge des Euro auszuhebeln. Er hat sich, wie er so unübertrefflich sagte, den «nötigen Spielraum für konjunkturelle Impulse» geschaffen - auf Kosten einer stabilen Währung. Auf die Impulse wird man mit Spannung warten, vermutlich noch recht lange.

Es ist mehr Hilflosigkeit als Skrupellosigkeit, die solches Verhalten prägt. Die innenpolitische Stagnation gebietet es, dass die letzten Winkel ökonomischer Möglichkeiten ausgelotet werden, eben auch solche aussenwirtschaftlicher Natur. Dass dies nicht selten unter Preisgabe moralisch-ethischer Vorsätze geschieht, scheint Schröder nicht sonderlich zu belasten. Was gegenwärtig aus dem Bundeskanzleramt zu China verlautet, ist ein höchst anschauliches Beispiel hierfür. Die beiden Siegerparteien von 1998, SPD und Grüne, die damals angetreten waren, die Menschenrechte zu fördern und auf eine gerechte, solidarische Welt hinzuarbeiten, müssen heute konstatieren, dass ihr Kanzler von den gemeinsam ausgearbeiteten Leitlinien offenbar nichts mehr wissen will. Dabei heisst es in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung zum Beispiel unzweideutig: «Deutsche Aussenpolitik ist Friedenspolitik.» Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sowie die weltweite Einhaltung der Menschenrechte werden dort zu den Grundlagen aussenpolitischen Handelns erklärt.

Doch mit fast schon messianischem Eifer und ziemlich schalen Argumenten versucht Schröder - erneut in Kollusion mit 
Chirac
- eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China zu erreichen. Moralische Bedenken kennt er dabei ebenso wenig, wie wenn er seinem strategischen Busenfreund Putin das Prädikat des lupenreinen Demokraten verleiht. Das Schauspiel solcher Beteuerungen wäre noch stossender, wenn sich mittlerweile nicht wachsender Widerstand in Deutschland manifestierte, nicht zuletzt in den beiden Regierungsparteien selbst. Es spricht für die vielen prominenten Parteigänger von SPD und Grünen, dass sie dies nicht mehr tolerieren wollen. Sie haben begriffen, dass punktuelle Vorteile für einzelne deutsche Firmen nie die zu erwartenden politischen Flurschäden rechtfertigen würden. Gerade das Verhältnis zu Amerika wäre, nur gut zwei Jahre nach dem letzten Zerwürfnis, wieder einer völlig unnötigen Belastung ausgesetzt.

Aber vielleicht fehlt es den Lenkern der deutschen Aussenpolitik ganz einfach am nötigen Weitblick. Schröder, der den Euro einst als Kopfgeburt abtat, hat die von Kohl umsichtig gespielte Rolle als Protagonist der Einigung Europas mit brüsken und durchsichtigen Manövern verscherzt. Auch Aussenminister Fischer, dem eine Zeit lang ein gewisses strategisches Interesse nachgesagt worden war, lässt den konzeptionellen Impetus vermissen und dümpelt bloss noch im Kielwasser des Kanzlers umher - sofern er infolge der dummen Visa-Affäre überhaupt noch in Erscheinung tritt. Einzige Ausnahme ist seine noch laufende Kampagne für einen ständigen Sitz Deutschlands im Uno-Sicherheitsrat, mit der die globale Bedeutung der Bundesrepublik unterstrichen werden soll. Doch auch hier ist ein Desaster absehbar. Es entzieht sich offenbar der Berliner Wahrnehmung, dass niemand einen solchen Schritt wirklich will.

Der Zeitpunkt ist kaum mehr fern, an dem die deutsche Aussenpolitik nicht mehr als Ersatzstoff für eine zerrüttete 
Innenpolitik herhalten kann. Was dann kommt, ist noch offen. Jedenfalls ist die überall in Deutschland zu spürende Desillusion wohl auch schon als Endzeitdämmerung über dem rot-grünen Experiment zu verstehen, das vor knapp sieben Jahren unter hohen Erwartungen in Gang gesetzt worden war.

de. 




2) Bei der Papstwahl «einzig Gott vor Augen» (NZZ 16./17.4.)
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Schwierige Suche nach einem Nachfolger für Johannes Paul II.

Von unserem Römer Korrespondenten Nikos Tzermias 

Am Montag beginnt das Konklave zur Wahl des neuen Papstes. Vorbei sind zwar die turbulenten Zeiten, da sich weltliche Obrigkeiten einmischten und auch Schurken zum Kirchenführer ernannt wurden. Neue Herausforderungen warten indes auf den 264. Nachfolger Petri, den die Kardinäle «nur mit Gott vor Augen» wählen sollen.

Rom, 15. April

Am kommenden Montagnachmittag werden sich 115 Kardinäle im Vatikan in der Capella Paolina einfinden. Dann werden sie unter dem Gesang «Veni, creator spiritus . . .» (Komm, Schöpfer-Geist) zur Sixtinischen Kapelle ziehen, wo sie vor 
Michelangelos berühmter Darstellung des Jüngsten Gerichts im Konklave, das heisst von der Aussenwelt hermetisch 
abgeschirmt, den 264. Nachfolger Petri wählen sollen. Zuerst müssen die Purpurträger aber einen Eid ablegen. Die Kardinäle haben nicht nur Geheimhaltung in Bezug auf das Konklave zu versprechen. Sie müssen auch schwören, niemals eine Einmischung von weltlichen Autoritäten oder Einzelpersonen zuzulassen. Ferner wird ein Priester die Prälaten auf die Notwendigkeit hinweisen, «mit rechter Gesinnung zum Wohl der Universalkirche zu handeln», und dies «solum Deum prae oculis habentes», nur Gott vor Augen habend.

Heilige und Schurken

Der Eid, die Ermahnungen des Priesters und die auch sonst gestrengen Vorschriften für die Papstwahl erinnern an die 
turbulenten und sündigen Zeiten, in denen sich Könige und andere weltliche Herrscher, geldgierige und machthungrige Familien oder schlicht Pöbel in die Papstwahlen einmischten - mit Intrigen, Bestechung, Gift oder gar brachialer Gewalt. In der Vergangenheit wurden beileibe nicht nur aufrechte Botschafter des Evangeliums, sondern vielfach auch Schurken und Vertreter weltlicher Potentaten zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche gewählt. Es kommt so wohl nicht von ungefähr, dass von den bisherigen 263 Nachfolgern Petri erst 76 heilig gesprochen wurden. Von den Päpsten des letzten Jahrtausends wurden bisher nur gerade 5 kanonisiert. Katholische Könige beanspruchten noch bis im 18. Jahrhundert das Recht, eigene Purpurträger, sogenannte Kronkardinäle, zu nominieren; und noch beim Konklave von 1903 soll Kaiser Franz Joseph ein in der Folge ausdrücklich abgeschafftes «Ausschlussrecht» reklamiert und die Wahl eines ihm nicht genehmen Kardinals zum Papst verhindert haben. Manchmal wurden vom Papst «Kardinalshüte» schlicht verkauft, um die Kriege und Monumentalbauten des Kirchenstaates zu finanzieren.

Auch der Ursprung der Konklave-Praxis spricht Bände. Institutionalisiert wurde sie von Gregor X. (1272-1276), der erst nach dreieinhalbjährigen Streitigkeiten unter den Kardinälen die Nachfolge Petri hatte antreten können. Dabei hatten die 
ungeduldigen Bewohner der Stadt Viterbo die Kardinäle in der Schlussphase nicht nur eingeschlossen, um endlich einen 
Entscheid zu erzwingen. Sie trugen auch noch das Dach des Tagungsgebäudes ab, und die Purpurträger wurden auf Wasser und Brot gesetzt. Dass diese Papstwahl damals ausserhalb von Rom stattfand, war übrigens keineswegs ungewöhnlich und kam aus Sicherheitsgründen immer wieder vor. Das letzte Konklave ausserhalb der Ewigen Stadt hatte 1800 stattgefunden, nachdem Papst Pius VI. in der Gefangenschaft Napoleons gestorben war und die Kardinäle den Nachfolger, Pius VII., in Venedig unter österreichischem Schutz wählten.

Wie das Konklave entwickelte sich auch die Regel, dass Päpste durch Kardinäle ernannt werden, erst nach und nach. 
Petrus und die ersten Päpste hatten ihre Nachfolger noch selber bestimmt. Und zu frühen Kirchenzeiten wurden die Oberhirten vom Klerus und vom Volk von Rom bestimmt. Erst nach dem 8. Jahrhundert wurde das aktive Wahlrecht auf den Klerus eingeschränkt, wie sich das bereits bei den Bischofswahlen in anderen Diözesen eingebürgert hatte. Seit den Reformen von Alexander III. im Jahre 1179 wurden Päpste dann bloss noch von Kardinälen ernannt, abgesehen beim Konklave von 1417, bei dem das abendländische Schisma beendet und neben 23 Kardinälen auch 30 Vertreter des Konstanzer Konzils wahlberechtigt waren.

Nicht immun gegen das Weltgeschehen

Mit dem Niedergang des Kirchenstaates und dem Zusammenbruch der katholischen Monarchien sind nun aber staatliche 
Intrigen und politische Machtpoker zunehmend in den Hintergrund getreten. Und so hat sich auch die Dauer des Konklaves seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kontinuierlich verkürzt. Hatte die Papstwahl im Jahr 1800 beispielsweise noch dreieinhalb Monate beansprucht, konnte das neue Kirchenoberhaupt während des letzten Jahrhunderts jeweils bereits nach ein paar wenigen Tagen ausgerufen werden. Von den acht letzten Konklaven dauerte die Wahl von Pius XI. im Jahre 1922 am längsten; der weisse Rauch stieg erst am fünften Tag nach 14 Wahlgängen aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle auf. Der Monarch des Vatikans findet als religiöser Führer offenbar weiterhin einige Beachtung in der Welt. Das ihm geltende Interesse scheint über die katholische Kirche mit ihren über eine Milliarde Angehörigen hinauszureichen. Dies haben auch der beispiellose Medienwirbel und die grosse Anteilnahme beim Tod von Johannes Paul II. gezeigt.

Der Vatikan selber war in der jüngeren Geschichte keineswegs immun gegenüber dem weltpolitischen Geschehen. Schon vor der Ernennung von Johannes Paul II., dem Papst, der aus der Kälte des Ostblocks kam, schienen die Kardinäle bei Papstwahlen immer wieder auf grosse internationale Krisen und Herausforderungen zu reagieren. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs wurden mit Benedikt XV. und Pius XII. Persönlichkeiten gewählt, die über reiche diplomatische Erfahrungen verfügten. Wer wird nun der nächste Papst? Seit dem Tod von Johannes Paul II. versuchen sich die Vatikanisten vorab der italienischen Medien mit Enthüllungsgeschichten über die aussichtsreichsten Papst-Anwärter, die sogenannten Papabili, täglich zu übertrumpfen. Zugleich scheint weltweit ein regelrechtes Wettfieber ausgebrochen zu sein. Mit Geldeinsätzen wird dabei nicht nur darüber spekuliert, wer der nächste Pontifex wird, sondern auch darüber, welchen Namen er sich geben könnte oder wie lange das Konklave dauert. Laut einer auf Wetten spezialisierten Website zählen derzeit die Kardinäle Ratzinger (Deutschland), Lustiger (Frankreich), Martini (Italien), Hummes (Brasilien), Arinze (Nigeria) und 
Tettamanzi (Italien) zu den Top-Favoriten.

Auffallend ist zudem, dass unter den 20 führenden Papabili gerade 9 aus Italien stammen. Das scheint auf der Überlegung zu beruhen, dass aus Italien zwar nicht mehr wie noch 1939 die Mehrheit der Purpurträger stammen; doch das «bel paese» ist weiterhin das Land, das am meisten, nämlich 20 Kardinäle stellt; die Wahl von Johannes Paul II. zum ersten nichtitalienischen Pontifex seit fast 500 Jahren wurde auch auf den Umstand zurückgeführt, dass sich die italienischen Kardinäle damals, 1978, nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten hatten einigen können.

Überraschungen als Regel

Wetten über Papabili gehören zur Kategorie der Glücksspiele. Seriöse Prognosen zum Ausgang eines Konklaves sind 
dagegen höchst tückenreich. Bei Papstwahlen gibt es ja keine offiziellen Kandidaten von Parteien, keine Wahlprogramme. Bei den Konklaven der Neuzeit waren denn auch Überraschungen gang und gäbe. Und viele Vatikan-Kenner halten sich weiterhin an die Faustregel, dass jene, die als Papst ins Konklave einziehen, als Kardinal wieder herauskommen.

Die geographische Herkunft eines Anwärters ist zwar erfahrungsgemäss von einer gewissen Relevanz. Doch unbedingt 
ausschlaggebend ist dieser Faktor kaum. Ein Kardinal meinte unlängst, dass für Gott Geographie überhaupt nicht zähle. 
Jedenfalls dürften unter den Purpurträgern eines Landes, geschweige denn eines Kontinents oder einer Hemisphäre, Rivalitäten gut vorstellbar sein. Zudem empfinden sich Kardinäle wohl nicht zuletzt auch als Bürger der Kirche; und ihre «Seilschaften» gehen ja zumeist auf viele Jahre der persönlichen Zusammenarbeit und intensiven Gedankenaustauschs zurück. Dabei können Landes- und Altersgrenzen durch geistige Affinitäten und persönliche Sympathien verwischt werden. So muss der nächste Papst nicht aus Europa stammen, wenngleich dieser Kontinent seine Position unter Johannes Paul II. gut behaupten konnte.

Nach einem Hintergrundbericht von Radio Vatikan über das Konklave machen sich die Kardinäle vor einer Papstwahl zuerst einmal Gedanken darüber, was die Kirche am meisten brauche. Es gehe also vorab um Sachargumente. Diese Analyse hängt wiederum stark von der Beurteilung des zurückliegenden Pontifikats ab. Einige Kardinäle könnten sich fragen, ob nach dem stürmischen Charismatiker und Medienstar Johannes Paul II. wieder eine eher nüchterne Persönlichkeit gefragt ist, die sich verstärkt mit institutionellen Fragen beschäftigt, etwa jener nach der Bedeutung von Bischofssynoden. Oder ist nach dem selbstsicheren, autoritär auftretenden und dogmatisch eher rigiden Wojtyla ein kollegialer oder jovialer wirkender Typ oder gar ein Friedensstifter zu wählen, der sich neben einer weiteren Fortsetzung des Dialogs mit anderen Religionen auch wieder verstärkt um den Ausgleich der Standpunkte in der eigenen Kirche bemüht und der Ökumene neue Impulse verleiht? Die meisten Vatikanisten schliessen aber jedenfalls einen radikalen Kurswechsel aus. Dabei wird nicht zuletzt erwähnt, dass Johannes Paul II. fast alle wahlberechtigten Kardinäle selber ernannt habe. Zudem habe er 1996 auch noch das Wahlverfahren abgeändert, so dass die Kardinäle nach annähernd 30 erfolglosen Wahlgängen den neuen Pontifex bloss mit absoluter Mehrheit statt mit der bisher durchwegs erforderlichen Zweidrittelmehrheit bestimmen könnten. Diese Regelung dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kompromisskandidat zum Zuge kommt, vermindert haben.

Schon Petrus war nicht perfekt

Ein Grossteil der Auguren tippt auf Papabili, die nicht die Glaubenslehre revolutionieren wollen, doch zugleich ein starkes 
Engagement für soziale Belange und die Menschenrechte vorweisen können. So treten sowohl Fragen des Stils und der 
Persönlichkeit als auch der praktischen Erfahrung in den Vordergrund. Schon während des letzten Jahrhunderts wurden in der Regel Kandidaten bevorzugt, die sowohl pastorale Erfahrungen als Diözesanbischof als auch Leistungen in der römischen Kurie vorweisen konnten. Schliesslich könnten die Kardinäle nach dem langen und tief prägenden Pontifikat von Johannes Paul II. vor der Wahl eines jüngeren Kollegen eher zurückschrecken.

Selbst wenn die Kardinäle «nur Gott vor Augen» haben, wird es für sie nicht einfach sein, zu bestimmen, wer als Nächster das Petrusamt ausüben soll. Im Urteil des amerikanischen Jesuitenpaters Thomas J. Reese, des Autors des Buchs «Im Inneren des Vatikans», hat die Geschichte aber ohnehin gezeigt, dass es keine perfekte Methode gibt, um den Richtigen zum Papst zu wählen. Nicht einmal Jesus habe die ideale Wahl getroffen. Petrus habe ihn ja verleugnet und sei am Karfreitag auf und davon gerannt. 


Die regionale Herkunft der wahlberechtigten Kardinäle

                  1963 1)   1978 2)  2005 
Anteile in Prozent 

Europa           69,5    48,6      49,6 


Afrika               1,2   10,8        9,4 


Nordamerika     8,5  13,5      12,0 


Lateinamerika 13,4   15,3     17,9 


Asien/Ozeanien 7,3   11,7    11,1 

1) Bei Wahl von Paul VI.; 2) bei Wahl von Johannes Paul II. 





3) Klimawechsel im Private Banking (NZZ 16./17.4.)
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Am letzten Dienstag haben die Aktionäre der börsenkotierten Bank Julius Bär beschlossen, eine Einheitsaktie einzuführen. Was sich gegen aussen als simple Vereinfachung der Kapitalstruktur ausnimmt, hat weitreichende Folgen. Die Familie Bär, die seit 1890 die Geschicke der Vermögensverwaltungsbank leitet, gibt ihre bisher über Stimmrechtsaktien abgesicherte Kontrollmehrheit freiwillig auf. Warum, so fragt man sich, zieht sie sich ohne sichtbare Not auf eine Minderheitsposition zurück?

Bei genauer Betrachtung fügt sich dieser Schritt nahtlos in das Bild einer Branche ein, die sich im Umbruch befindet. Anders als noch in den neunziger Jahren lässt sich mit der Verwaltung von Vermögen wohlhabender Kunden kein leichtes Geld mehr verdienen. Die Schweizer Banken haben sich im Private Banking lange allzu stark auf «natürliche» Wettbewerbsvorteile wie die innenpolitische Stabilität, das Bankkundengeheimnis oder den harten Franken verlassen. Dass nach dem New-Economy-Boom nicht nur eine Schlechtwetterphase eingesetzt hat, sondern ein eigentlicher Klimawechsel, lässt sich an der Stagnation der verwalteten Vermögen und an dem zu einem Rinnsal verebbten Zufluss neuer Gelder ablesen. Dies ist deshalb ernst zu nehmen, weil Neugeldzuflüsse die Basis für künftige Erträge bilden und als Gradmesser für das Vertrauen der Kunden in eine Bank und in einen Finanzplatz herangezogen werden können.

Wie lässt sich das erklären? Sicher ist, dass die seit Jahren anhaltende wirtschaftliche Stagnation im Heimmarkt und in so bedeutenden «Zulieferländern» wie Deutschland zur schwierigen Lage im Private Banking einiges beiträgt; sie bremst die Bildung von Vermögen, die verwaltet sein wollen. Hinzu kommt, dass umliegende Länder viel engagierter als früher versuchen, den Abfluss von Geldern (und Steuersubstrat) durch die Aufschüttung regulatorischer Dämme zu verhindern oder bereits in ausländischen Depots lagernde Vermögen über Steueramnestien zurückzuholen. Schweizer Privatbanken etwa, die in dem für sie bedeutenden Markt Deutschland neue Privatkunden anwerben wollen, müssen seit dem Herbst 2003 eine Bewilligung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) einholen.

Um den unter verschiedensten Titeln erhöhten Druck der EU und der OECD auf das Bankkundengeheimnis zu verringern, 
werden Schweizer Banken, in Erfüllung des Zinsbesteuerungsabkommens zwischen der Schweiz und der EU, ab Mitte Jahr gar mithelfen, die Besteuerung von Zinserträgen natürlicher Personen mit Steuerdomizil in der Union sicherzustellen; allein der Umstand, dass Schweizer Banken mit Steuerbehörden aus EU-Ländern in Verbindung gebracht werden, mag von vielen auf Diskretion bedachten Kunden als negatives Signal gewertet werden. Aber nicht nur das wirtschaftliche und das regulatorische Umfeld, sondern auch die Kunden haben sich verändert. Vormals genügsam und auf Substanzerhalt bedacht, mutieren sie zusehends zu fachkundigen, kostenbewussten, auf Performance und Dienstleistungsqualität achtenden Verhandlungspartnern.

Auffallend schwer mit diesen Veränderungen tun sich, wenn der Eindruck nicht trügt, mittelgrosse Institute. Zu diesem 
Segment zählen etwa die erwähnte Bank Julius Bär, die Bank Vontobel oder die Bank Sarasin. Diese Banken betreuten im stark fragmentierten Geschäft mit wohlhabenden Privatkunden zuletzt zwischen knapp 19 Mrd. Fr. (Vontobel) und 61 Mrd. Fr. (Julius Bär). Zum Vergleich: Die Private-Banking-Einheiten der Grossbanken UBS und Credit Suisse Group verwalteten Ende 2004 Vermögen von insgesamt 778 Mrd. Fr. bzw. 539 Mrd. Fr. Anders als die beiden Grossbanken sind Bär, Vontobel und Sarasin zu wenig kapitalkräftig, um aus dem stagnierenden Offshore-Geschäft auszubrechen. Der Aufbau von Stützpunkten in wachstumsträchtigen Regionen wie Ostmitteleuropa oder Asien setzt hohe Investitionen und einen langen Atem voraus. Dies zeigen die Initiativen der beiden Grossbanken, die im Rahmen von sogenannten Europa-Initiativen ihre Präsenz in den Nachbarländern laufend verstärken. In nur drei Jahren hat die UBS in ihrem europäischen Onshore-Geschäft, mehrheitlich über Arrondierungen, einen Bestand an verwalteten Vermögen von 82 Mrd. Fr. aufgebaut. Allein im letzten Geschäftsjahr flossen der Grossbank in dieser Region knapp 14 Mrd. Fr. an Neugeldern zu - weit mehr, als Julius Bär, Vontobel und Sarasin zusammen anziehen konnten. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass die UBS allein im letzten Jahr über 1 Mrd. Fr. in diese Offensive investiert hat und sicher bis 2006 rote Zahlen schreiben wird.

Fehlt es den mittelgrossen Vermögensverwaltungsbanken einerseits im Vergleich mit den Grossen an Finanzkraft, um auf eine Onshore-Wachstumsstrategie umzuschwenken, stehen anderseits ihre Kostenstrukturen einer Nischenstrategie 
entgegen, wie sie Dutzende von kleinen und kleinsten Privatbanken erfolgreich umsetzen. Bär, Vontobel und Sarasin bieten ihren Kunden eine breite Palette von Produkten und Dienstleistungen an, unterhalten eigene Analyseabteilungen und betreiben eigene IT-Infrastrukturen. Diese Kostenblöcke fallen weniger ins Gewicht, wenn in Hausse-Perioden die Erträge sprudeln. Schwieriger wird es in Phasen seitwärts tendierender Märkte, wie sie seit 2001 vorherrschen. Wenden sich die Kunden vom Marktgeschehen ab, lässt sich die Infrastruktur mangels Geschäftsvolumen nicht mehr auslasten. Dass in dieser Hinsicht Handlungsbedarf besteht, verrät schon die relativ hohe, über der 70%-Marke liegende Kosten-Ertrags-Relation der drei Institute.

Gerade mittelgrosse Banken tun daher gut daran, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken und sich auf jene Glieder der 
Wertschöpfungskette zu konzentrieren, bei denen ihre Kernkompetenzen zum Tragen kommen
. In stagnierenden Märkten ist es von grösster Bedeutung, nur das zu tun, was man am besten kann. Anschauungsunterricht bieten Boutiquen, die sich auf die Betreuung ihrer Kunden konzentrieren, Produkte und Dienstleistungen von Dritten beziehen und dank schlanken und flexiblen Strukturen bei Kundenvermögen von weniger als 1 Mrd. Fr. Gewinne schreiben - insofern führen im Private Banking Diskussionen über eine an den verwalteten Vermögen gemessene «kritische Masse» in die Irre.

Die Fokussierung auf eigene Stärken bedeutet auch, dass Netzwerke und Allianzen an Bedeutung gewinnen. Anzeichen 
dafür sind die Kooperationen von Sarasin und Rabobank, Vontobel und Raiffeisen oder Maerki Baumann und der Zuger 
Kantonalbank; die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass auch Julius Bär mit einem Partner zusammenspannen wird, um die 
relativen Stärken zu poolen und zum beiderseitigen Nutzen zum Tragen zu bringen. Anders als bei Übernahmen hält sich bei Kooperationen zudem das finanzielle Engagement in überschaubaren Grenzen; es fallen keine hohen Goodwill-Kosten an, und es ist in weit geringerem Ausmass mit Abgängen enttäuschter Kunden zu rechnen. Das mag teilweise erklären, warum die seit langem erwartete Konsolidierungswelle auf sich warten lässt. Solange der Leidensdruck der Branche nicht noch grösser wird, dürfte sich an dieser Ausgangslage wenig ändern. Bei allen strategischen Gedankenspielen darf der Kunde nicht vergessen werden. Er und seine Bedürfnisse müssen wieder stärker in den Vordergrund rücken. Die Zeiten, in denen Portiers Kunden gleichsam vom Trottoir weg zur Eröffnung eines Depots zum ersten frei gewordenen Berater geleiten konnten, sind endgültig vorbei.

ti. 



4) Lauernde Gefahren für die Weltwirtschaft (NZZ 16./17.4.)
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IMF und Weltbank wollen Taten sehen

Trotz einem relativ günstigen konjunkturellen Umfeld lauern auf die Weltwirtschaft zurzeit zahlreiche Gefahren. Die 
Teilnehmer an der diesjährigen Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IMF) und Weltbank werden sich mit den sich verschärfenden globalen Ungleichgewichten befassen müssen, aber auch mit der Frage, wie man eine allfällige 
Entschuldung der ärmsten Länder an die Hand nehmen will.

Sna. Washington, 15. April

Finanzminister und Notenbankgouverneure aus der ganzen Welt treffen sich dieses Wochenende in Washington zur 
alljährlichen Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IMF) sowie der Weltbank. Die geplanten Gespräche im 
Rahmen verschiedener Foren finden dabei vor einem weltwirtschaftlichen Hintergrund statt, dessen jüngstes Erscheinungsbild sich nicht ganz so lieblich präsentiert, wie es das sonnige Frühlingswetter der letzten Tage in der amerikanischen Kapitale suggeriert. Wie u. a. dem zur Wochenmitte publizierten Ausblick des IMF auf die Weltkonjunktur («World Economic Outlook») zu entnehmen ist, expandiert die Weltwirtschaft zwar nach wie vor auf einem insgesamt ansprechenden Niveau ( siehe NZZ-Artikel am 14.4.). Die andauernd hohe Preisvolatilität am Erdölmarkt sowie das sich hartnäckig haltende Wachstumsgefälle zwischen den einzelnen Wirtschaftsräumen verursachen jedoch vielerorts zunehmende Kopfschmerzen. Dabei lässt sich ein allmähliches Übergreifen dieser Sorgen auf die Bewertungen an den Finanzmärkten gerade in letzter Zeit immer weniger übersehen.

Störpotenziale für die Weltkonjunktur

Beide Themen, das Störpotenzial sowohl hoher Preisschwankungen beim Erdöl als auch der weltweiten Ungleichgewichte auf die Weltkonjunktur, stehen bei den Gesprächen am Samstag weit oben auf der Tagesordnung. Den Auftakt macht wie immer die Zusammenkunft der Vertreter aus den sieben führenden Industrieländern (G-7). Danach dürfte sich auch der Internationale Währungs- und Finanzausschuss (IMFC), das Lenkungsorgan des IMF, diesen Fragen widmen. Mehr noch als in anderen Jahren möchte heuer die IMF-Führung die Diskussionen im Rahmen des IMFC dazu benützen, um mit Blick auf die Folgen des globalen Wachstumsgefälles endlich mehr Druck auf die betroffenen Länder und Wirtschaftsräume auszuüben. Diese sollen dazu angehalten werden, glaubwürdige Schritte in Richtung eines Abbaus der globalen Ertragsbilanzungleichgewichte zu unternehmen.

Wie der seit knapp einem Jahr amtende IMF-Chef, Rodrigo de Rato, an der Pressekonferenz im Vorfeld der Tagung betonte, werde die Problemanalyse mittlerweile von allen geteilt. Dasselbe treffe auch auf die Anerkennung des jeweiligen 
Handlungsbedarfs durch die einzelnen Länder zu. So stelle niemand in Abrede, dass die USA ihr Haushaltdefizit verringern müssten, Europa und Japan mehr zur Generierung von Wachstum beizutragen hätten und die asiatischen Schwellenländer eine Flexibilisierung ihrer Währungsregime anpeilen sollten. Doch bei der Umsetzung der gemachten Zusicherungen hapere es auf allen Seiten bedenklich. Wie Rato erinnerte, handelt es sich um ein globales Problem, das nur mit Hilfe aller entschärft werden kann. Dabei verband er dies mit dem Aufruf an die verantwortlichen Politiker, jetzt zu handeln, solange das weltwirtschaftliche Umfeld noch relativ günstig sei, und nicht bis zur nächsten Krise zuzuwarten.

Entschuldung für die Ärmsten

Quasi als vorprogrammiert gilt ferner auch die hohe Aufmerksamkeit, die im Rahmen der am Sonntag stattfindenden 
Gespräche im Schosse des Entwicklungsausschusses (DC) von IMF und Weltbank dem Thema Entschuldung für die ärmsten Länder zuteil werden dürfte. Grossbritannien, das zurzeit den Vorsitz sowohl in der G-7 als auch im IMFC führt, drängt auf einen weitestgehenden Erlass dieser Schulden gegenüber den multilateralen Organisationen sowie auf neuartige Finanzierungsmodalitäten in der Entwicklungshilfe. Andere Länder, namentlich die USA, haben in diesem Zusammenhang abweichende Vorschläge vorgelegt, um den sich seit Jahrzehnten wiederholenden Teufelskreis zwischen Kreditvergabe, Überschuldung und zwangsläufigem Schuldverzicht zu durchbrechen. Uneinigkeit bezüglich der Details lässt den Schluss zu, dass das Thema zurzeit noch nicht spruchreif ist. Vielmehr dürfte man innerhalb der G-7 versuchen, die notwendigen Vorarbeiten voranzutreiben, so dass für das diesjährige Gipfeltreffen der G-7 und Russlands (G-8) im Juli mit einem Entscheid gerechnet werden kann. 




5) Erfolg in der Bekämpfung der Geldwäscherei (NZZ 16./17.4.)
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Gesunkene Zahl der Verdachtsmeldungen

Bern, 15. April. (ap) Die strenge Regulierung schreckt nach Beobachtung der Meldestelle des Bundes Geldwäscher 
zunehmend vom Finanzplatz Schweiz ab
. Erstmals seit der Gründung der Meldestelle vor sieben Jahren ging die Zahl der 
Verdachtsmeldungen 2004 zurück. Die Urteilsbilanz ist durch wenige Schuldsprüche und viele Pendenzen geprägt. Laut der Leiterin der Meldestelle für Geldwäscherei im Bundesamt für Polizei (fedpol), Judith Voney, entfaltet das Geldwäschereigesetz (GwG) zunehmend auch eine präventive Wirkung. Der regulierte Finanzsektor sei sehr viel vorsichtiger geworden. Und die im Vergleich zum Ausland ausserordentlich strenge Regulierung habe dazu geführt, dass die Schweiz nicht mehr ein attraktives Zielland für kriminelle Gelder sei.

Die Zahl der Verdachtsmeldungen ging 2004 um 42 oder knapp 5% auf 821 zurück, wie die Meldestelle im Jahresbericht 
2004 schreibt. Rückläufig waren vor allem die Meldungen der sogenannten Money-Transmitter, die im internationalen 
Zahlungsverkehr tätig sind. Zugenommen haben demgegenüber die Meldungen aus dem Bankensektor, und zwar um knapp 13% auf 340. Erstmals seit 2001 nahm die Summe der von den Verdachtsmeldungen betroffenen Vermögenswerte wieder zu, und zwar um 25,3% auf 772 Mio. Fr. Die Meldungen wegen Verdachts auf Terrorismusfinanzierung sind von 5 auf 11 gestiegen. Vom Inkrafttreten des GwG am 1. April 1998 bis Ende 2004 erhielt die Meldestelle 3493 Verdachtsmeldungen, von denen 78% an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wurden. Mehr als die Hälfte der weitergeleiteten Fälle sind zurzeit noch pendent. Bei den 1311 erledigten Meldungen kam es nur in 49 Fällen zu einem Urteil. Das sind 1,8% aller weitergeleiteten bzw. 3,7% der erledigten Fälle. In den anderen Fällen wurde das Strafverfahren entweder eingestellt, nach Vorermittlungen gar nicht eröffnet oder wegen paralleler Verfahren im Ausland sistiert. 


6) Deutsche Anleger setzen auf Rentenfonds (NZZ 16./17.4.)
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cei. Frankfurt, 15. April

Die deutschen Anleger lassen sich von den Prognosen zahlreicher Bankökonomen nicht beeindrucken, die von anziehenden Zinsen ausgehen, was mit fallenden Anleihenkursen verbunden wäre. Wie bereits im vergangenen Jahr wurde auch in den ersten drei Monaten 2005 Obligationen gegenüber Aktien der Vorzug gegeben: Von Januar bis März flossen in Rentenfonds gemäss Informationen des deutschen Bundesverbandes Investment und Asset Management (BVI) netto 8,9 Mrd. €. Auch Geldmarktfonds stiegen in der Gunst der Anleger und konnten Neugelder über 4,2 Mrd. € verbuchen. Dagegen blieb das Publikum gegenüber Aktienfonds skeptisch, wie der Nettoabfluss von 1,7 Mrd. € illustriert. Dabei mussten besonders auf deutsche Aktien ausgerichtete Anlagevehikel Haare lassen. Mit einem blauen Auge davon kamen Immobilienfonds, die netto 0,6 Mrd. € einbüssten. Aktienfonds und Rentenfonds machen in Deutschland je rund einen Drittel des gesamten in Publikumsfonds angelegten Vermögens von 480 Mrd. € aus. In den ersten drei Monaten flossen netto 12,6 Mrd. € in Publikumsfonds, was gut ein Drittel mehr ist als in der entsprechenden Vorjahresperiode.

In der BVI-Statistik fällt auf, dass im ersten Quartal der Hauptharst der Zuflüsse an Fonds mit Domizil Luxemburg ging. Der Grund liegt gemäss einem BVI-Sprecher darin, dass 2004 90% der Fonds im Herzogtum emittiert wurden und neue Fonds jeweils den grössten Teil der Zuflüsse absorbieren. Hinter dem Bedeutungsverlust des «Fondsstandortes» Deutschland steckt laut dem Interessenverband das hierzulande enge regulatorische Korsett



7) Grossbritanniens Wirtschaft mit Blair und Brown auf der Überholspur (NZZ 15.4.)
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Versteckte Schwächen und nachlassende Dynamik unter der glänzenden Oberfläche

Von unserer Wirtschaftskorrespondentin in London, Christin Severin

In Grossbritannien rauchen die Schlote - vor allem im Vergleich mit dem lahmenden Kontinentaleuropa. Die Regierung Blair versucht, die Erfolge in Wählerstimmen umzumünzen, doch viele Briten halten Errungenschaften wie die niedrige Arbeitslosigkeit bereits für eine Selbstverständlichkeit. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man durchaus versteckte Schwächen, alte Verdienste der Tories und eine nachlassende Dynamik.

London, Mitte April

Die Wirtschaft, so hat die britische Labour-Partei beschlossen, ist das Herzstück ihrer Wahlkampagne. Die Wahlkampfstrategen setzen darauf, dass die Briten die dynamische Konjunktur honorieren und Labour zu einem dritten Wahlsieg in Folge verhelfen. Unter Gordon Brown, dem einflussreichen Schatzkanzler und der unangefochtenen Nummer zwei hinter Premier Tony Blair, hat die britische Wirtschaft eine hohe Stabilität gewonnen. Die vier grossen Aushängeschilder von Labour sind das im Vergleich mit Kontinentaleuropa schnellere Wachstum, die niedrige Arbeitslosigkeit, die gesunkene Inflationsrate und die niedrigen Zinsen, die den Hausbesitzern die Finanzierung ihrer Hypotheken erleichtern. Die Bevölkerung zeigt jedoch grosso modo wenig Begeisterung für die wirtschaftlichen Errungenschaften; viele sind enttäuscht über die Regierung Blair. Gemäss der jüngsten vierteljährlichen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Mori haben die Wähler zwar wieder mehr Vertrauen in die Wirtschaftspolitik, doch die Zuversicht wächst langsam und bleibt deutlich unter dem Niveau von 1997 und 2001, als Labour jeweils klare Wahlsiege in Grossbritannien errang. Im März stellte Mori die Frage, ob die Regierungspolitik den Verlauf der Wirtschaft langfristig verbessern werde. 43% der Befragten bejahten die Frage, 43% antworteten mit Nein und weitere 13% waren unentschieden. Unter dem Strich ergibt das ein neutrales Bild. Die Meinungsforscher meinen allerdings, die Bewertung der Wirtschaft werde von der generellen Desillusionierung über den Verlauf des Irak-Krieges überschattet. Die Wähler hätten Tony Blair den Irak-Kurs so verübelt, dass alles andere in den Hintergrund rücke.

Die Quellen des Wachstums

Das gemischte Bild bestätigt sich in Gesprächen. «Die Leute schimpfen, doch die Wirtschaft läuft gut, und uns ging es noch nie so gut wie heute», sagen die einen. Bei anderen ist die Position klar und hart: «Ich mag Tony Blair nicht. Alle Politiker versprechen viel und halten nichts. Für die jungen Leute gibt es heute nicht viel zu holen. Wenn ich noch jung wäre, würde ich auswandern.» Ein solches Urteil ist natürlich eher an Orten wie der ehemaligen Kohlestadt Barnsley zu hören, wo der Dienstleistungssektor hinter dem Landesdurchschnitt hinterherhinkt, die alte Industrie lahmt und die Renaissance britischer Städte wie Manchester, Birmingham, Leeds oder Edinburg weit entfernt scheint. Kein Wunder, dass es im wohlhabenden Londoner Stadtteil Putney grosszügiger tönt: «Tony und Gordon haben einen exzellenten Job gemacht», anerkennt ein Tory-Mitglied. Und weil Labour voraussichtlich ein drittes Mal gewinnen wird, tröstet er sich: «Dies ist eine gute Wahl zum Verlieren. Die nächste Regierung wird es härter haben.»

Was haben die Briten in den vergangenen Jahren gut gemacht und besser als das lahmende Kontinentaleuropa? Als Labour 1997 an die Macht kam, waren die grossen Privatisierungsrunden vorbei, die Gütermärkte liberalisiert, die Flügel der Gewerkschaften gestutzt, und der Arbeitsmarkt war einer der flexibelsten in Europa. Zudem konnte Schatzkanzler Gordon Brown von seinem konservativen Vorgänger Kenneth Clarke einen gesunden Staatshaushalt mit wenig Schulden übernehmen. Der konservative Wirtschaftsprofessor Tim Congdon hat einmal gesagt, das grösste Verdienst von Brown sei es, dass er seine «klebrigen Finger» aus vielem herausgehalten und wichtige Reformen der Tories nicht wieder zurückgenommen habe. Befürworter von Labour sehen dies selbstverständlich anders. Unbestritten ist, dass Gordon Browns Entschluss, die Bank of England gleich in seiner ersten Woche als Schatzkanzler unabhängig zu machen, wie ein Paukenschlag einfuhr. Dieser Schritt trug dem Labour-Mann enormes Vertrauen ein. Zudem wurde die Unabhängigkeit der Notenbank zu einer entscheidenden Grundlage der Stabilität des Landes.

Schrumpfende Industrie

Mit einer strikten Ausgabendisziplin erwarb sich Brown in der ersten Amtszeit den Respekt der Londoner «City». Jene hatte befürchtet, dass eine Labour-Regierung quasi automatisch eine verantwortungslose «Tax-and-spend»-Politik verfolgen werde. Der haushälterische Umgang mit den Steuergeldern bändigte die Furcht der City vor einer höheren Neuverschuldung und hielt die Inflationserwartungen tief. Das ermöglichte der Bank of England die Festlegung von niedrigen Leitzinsen, was sowohl die Investitionen der Unternehmen erleichterte als auch Privatkredite und Hypotheken billiger machte. Allerdings haben die niedrigen Hypothekarzinsen zusammen mit einer zu geringen Neubautätigkeit einer Überhitzung des Immobilienmarktes Vorschub geleistet. Der IMF meint, es liege eine Überbewertung von 30% vor. Niemand weiss, wie die Konsumenten reagieren würden, falls die Hauspreise um 20% oder mehr einbrechen sollten.

Dieses seit mehr als zwei Jahren von den Medien herbeigeredete Szenario hat sich allerdings bisher nicht bewahrheitet. Über eine lange Zeit hinweg zogen stattdessen die Häuserpreise auch das Konsumentenvertrauen mit sich hoch, und die Detailhandelsausgaben stiegen. Die unverzagten Konsumenten wurden speziell während der konjunkturellen Abkühlung 2002/03 im Vorfeld des Irak-Krieges zum Motor der Wirtschaft. Die Negativseite daran ist die inzwischen rekordhohe Verschuldung der Privathaushalte. Ein Schwachpunkt ist auch, dass das produzierende Gewerbe mit dem expandierenden Dienstleistungssektor nie mithalten konnte. Seit 1997 gingen in der Industrie 1 Mio. Arbeitsplätze verloren, nachdem deren Zahl schon unter den Tories um 2,6 Mio. auf 4,5 Mio. gesunken war.

Neue Jobs konzentrieren sich auf den Dienstleistungsbereich und - als Folge eines massiven Ausgabenprogramms der Regierung für Schulen und Spitäler - auf den staatlichen Sektor. Die Anstrengungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich wirkten zumal während der Schwächephase 2002/03 wie ein - zufällig zeitlich geglücktes - Ankurbelungsprogramm à la Keynes. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass sich die öffentlichen Finanzen wieder verschlechtert haben. Den Haushaltsüberschüssen in der ersten Legislaturperiode folgten in der zweiten Amtszeit Defizite und eine höhere Neuverschuldung. Viele Beobachter halten daher Steuererhöhungen nach den Wahlen für unvermeidlich.

Reformen sind ausgeblieben

Das grösste Versäumnis der Regierung betrifft die öffentlichen Dienste. Zwar wurden die Mittel für sie massiv aufgestockt. Die Schulen und Spitäler blieben jedoch weitgehend unreformiert. Der Wettbewerb der Anbieter und die freie Wahl der Bürger zwischen ihnen ist nicht einmal im Ansatz verwirklicht. Das hat negative Folgen für die Wirtschaft. Die Ineffizienz der öffentlichen Monopole zieht Ressourcen aus der produktiveren Privatwirtschaft ab; die höheren Budgets für Gesundheit und Erziehung treiben Steuern nach oben und reduzieren die Wettbewerbsfähigkeit.

Tony Blairs Vorstoss für mehr Autonomie für die Spitäler wurde von der Parteibasis sabotiert und scheiterte am passiven Widerstand von Gordon Brown, der dem Wettbewerb im Sozialwesen wenig abgewinnen kann. Ähnlich lief es bei der Einführung von Studiengebühren ab. Versuche, die Finanzierung der Universitäten damit langfristig auf gesunde Füsse zu stellen, scheiterten am Widerstand sowohl der linken Parteibasis als auch der Tories und der Liberaldemokraten. Die Ineffizienzen führen dazu, dass der Gegenwert für die gestiegenen Steuern verhältnismässig niedrig ist. Bisher fehlgeschlagen ist auch der Versuch, die chronisch schlechte Produktivität zu erhöhen. Gegenmassnahmen wie staatlich geförderte Ausbildungen für gering Qualifizierte, ein verbesserter Know-how-Austausch zwischen Universitäten und Unternehmen sowie steuerliche Förderung der Forschung in Unternehmen fruchteten wenig.

Geringe Unterschiede zu den Tories

Da die Begeisterung für Labours Verdienste verhalten ist, verdankt die Partei die Aussicht auf einen dritten Wahlsieg zu einem guten Teil dem Umstand, dass die Tories keine überzeugende Vision anzubieten haben. «Ob Tories oder Labour - das macht doch keinen grossen Unterschied», ist eine nicht selten zu hörende Meinung. In der Tat haben die Konservativen vorerst nur eine Steuersenkung um magere 4 Mrd. £ in Aussicht gestellt, mit weiteren 8 Mrd. £ wollen sie das vermeintlich schwarze Loch in Gordon Browns Staatshaushalt stopfen. Bei jährlichen Ausgaben von rund 500 Mrd. £ ist dies ein verschwindend kleiner Unterschied. Die Tories haben Angst, sich bei radikaleren Steuersenkungen den Vorwurf einzuhandeln, die öffentlichen Dienste zu vernachlässigen. Das zeigt, wie gut es Labour gelungen ist, die ideologische Diskussion zu besetzen.

Dass die Labour-Regierung wirtschaftspolitisch keinen schlechten Job gemacht hat, zeigt sich an der relativ ausgewogenen Position des Arbeitgeberverbandes CBI. Die Confederation of British Industry ist offiziell streng apolitisch; allerdings sahen die Tories die Businesswelt lange als ihre natürliche Anhängerschaft an. Dies ist nun nicht mehr so. Von der künftigen Regierung fordern die Arbeitgeber besser ausgebildete Arbeitskräfte. 20% der Erwachsenen können nicht einmal richtig lesen und schreiben. Hier hat sich Labour mit Schulungsprogrammen für Erwachsene und handwerklichen Ausbildungen für Jugendliche mehr profiliert als die Tories. Äusserst kritisch stehen Arbeitgeber hingegen den vielfältigen Regulierungen gegenüber, die seit 1997 eingeführt wurden, wie Umweltauflagen für einen reduzierten Schadstoffausstoss oder dem Mindestlohn und dem Ausbau der Mutter- und Vaterschafts-«Rechte».

Steven, ein Angestellter der Erdölindustrie aus dem schottischen Aberdeen, der politisch zwischen Labour und den Liberaldemokraten steht, prognostiziert mutig, dass Labour nicht nur diese Wahl gewinnen werde, sondern die nächsten zwei oder sogar drei. Allerdings dürften die nächsten Jahre nicht einfach werden. Das Wirtschaftswachstum, im vergangenen Jahr mit 3,1% noch relativ hoch, wird sich 2005 und 2006 gemäss der Konsensschätzung unabhängiger Ökonomen auf 2,5% bzw. 2,3% abschwächen. Konsumentenvertrauen und -ausgaben sind bereits gesunken, zudem ist im März die Arbeitslosigkeit erstmals wieder leicht gestiegen - von 4,7% auf 4,8%. Labours Erfolgsausweis verliert damit just zu einem Zeitpunkt an Glanz, an dem dieser für die Regierung mit Blick auf die Wahl besonders erwünscht wäre. 

 

8) Vor 100 Jahren - Toleranzedikt in Russland (NZZ 16.4.) nach oben
Zar Nikolai II. proklamiert erstmals Religionsfreiheit

Von Erich Bryner*

Am 17. April 1905 erliess der russische Zar Nikolai II. sein berühmtes Toleranzedikt. Die nichtorthodoxen Kirchen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften erhielten erhebliche Freiheitsrechte. Angehörige der orthodoxen Staatskirche bekamen das Recht, die Konfession zu wechseln. Diese Rechte wurden später wieder eingeschränkt.

Bis zum Erlass des Toleranzedikts am 17. April 1905 durch Zar Nikolai II. war das Recht auf freie Religionsausübung in Russland auf die ausländischen Einwanderer beschränkt. Peter der Grosse hatte 1702 ein Toleranzedikt erlassen, das den zahlreichen Militärs, Handwerkern, Ingenieuren und Gelehrten, die aus Westeuropa nach Russland geholt wurden, die Ausübung ihrer Religion gestattete. Kein Einwanderer sollte «in seiner öffentlichen als auch in seiner privaten Ausübung des Gottesdienstes gehindert» werden. Doch die Ausländer hatten unter sich zu bleiben. Orthodoxen Reichsangehörigen blieb der Übertritt in eine andere Kirche verboten.

Die orthodoxe Kirche verliert ihr Monopol

Dies änderte sich erst mit dem Edikt vom 17. April 1905. Durch die erste Russische Revolution, die mit der Niederschlagung einer friedlichen Arbeiterdemonstration vor dem Winterpalast in St. Petersburg am 9. Januar 1905 einen ersten Siedepunkt erreicht hatte, geriet die zaristische Autokratie unter Druck und musste auf die Reformforderungen der unzufriedenen Bevölkerung eingehen. Die wichtigsten Neuerungen waren die Zulassung politischer Parteien und die Umwandlung der Autokratie in eine konstitutionelle Monarchie mit einem Parlament, der Duma. Das Toleranzedikt vom 17. April gehört in diesen Rahmen.

Russland hatte sich im 19. Jahrhundert als ein Staat definiert, der auf drei Säulen ruhen sollte: der Orthodoxie, der Autokratie und einem volksverbundenen Patriotismus (narodnost). Die straff geführte orthodoxe Kirche war eine der staatstragenden Institutionen, sie war aber, wie sich der Philosoph Wladimir Solowjew ausdrückte, «völlig steril in Geist und Idee». Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten ihr knapp 70 Prozent der Bevölkerung des russischen Vielvölkerstaates an. Dazu kamen unter anderem 9 Prozent Katholiken, 5 Prozent Evangelische, 4,5 Prozent Juden, 10,8 Prozent Muslime.

Die rechtliche Gleichstellung der nichtorthodoxen Kirchen und der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften mit der orthodoxen Kirche war im 19. Jahrhundert häufig gefordert worden, und so sah sich die russische Regierung 1902 und 1904 genötigt, mit verschiedenen Erlassen diesen Forderungen nachzukommen, ohne allerdings die Stellung der Russischen Orthodoxen Kirche als «erster und herrschender» anzutasten.

Freiheit für Altgläubige und «Sekten»

Die Verordnung des Ministerkomitees «Über die Befestigung der Grundsätze der Glaubenstoleranz» vom 17. April 1905 gewährte nun, zum ersten Mal in der russischen Geschichte, Gliedern der orthodoxen Staatskirche das Recht, in eine «andere christliche Konfession oder Glaubenslehre» überzutreten. Wer dies tue, werde nicht mehr verfolgt und müsse keine nachteiligen Folgen hinsichtlich seiner persönlichen und bürgerlichen Rechte befürchten. Diese Bestimmungen wurden von der russischen Gesellschaft gut aufgenommen. In den folgenden Jahren machten rund 300 000 Personen von ihnen Gebrauch.

Die Altgläubigen, die sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem aus rituellen Gründen von der orthodoxen Staatskirche getrennt hatten und zeitweise heftigen Verfolgungen, stets aber grösseren Benachteiligungen ausgesetzt waren, erhielten die längst ersehnten Freiheitsrechte, darunter das Recht auf Besitz von beweglichem und unbeweglichem Eigentum und das Recht, unter denselben Bedingungen wie die Staatskirche Gotteshäuser und Klöster zu bauen oder zu restaurieren, Geistliche zu wählen und eigene Schulen zu führen. Die analogen Rechte erhielten die Glaubensgemeinschaften, die in der damaligen russischen Terminologie als «Sekten» bezeichnet wurden.

Dazu gehörten die sogenannten Stundisten, protestantische Gruppierungen, die aus evangelischen Erweckungsbewegungen hervorgingen (Baptisten, Evangeliumschristen). Der russische Begriff «Stundismus» stammt vom deutschen Wort «Stunde», womit Bibelstunden gemeint waren, wie sie deutsche Kolonisten aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Die russischen Behörden verfolgten die Stundisten seit 1884 besonders streng. Das Toleranzedikt von 1905 brachte auch ihnen die Glaubens- und Versammlungsfreiheit.

Die Muslime im Kaukasus, in Zentralasien, aber auch in den beiden russischen Hauptstädten erhielten dieselben Rechte zugesprochen. So konnte in den folgenden Jahren in St. Petersburg eine grosse Moschee im klassischen islamischen Stil gebaut werden. Die Imame erhielten die gleiche Rechtsstellung wie die orthodoxen Priester, wozu auch die Freistellung vom Militärdienst gehörte. Ausdrücklich wurde untersagt, die Anhänger des Lamaismus offiziell als «Götzenanbeter und Heiden» zu bezeichnen, wie es vorher die Regel gewesen war.

Russische Verspätung

Im gesamteuropäischen Vergleich kam das russische Toleranzedikt von 1905 sehr spät. Gesetze, welche die religiöse Toleranz und die Freiheit der Konfessionswahl gewährleisteten, gab es in andern Ländern Europas schon in der frühen Neuzeit. Vorreiter waren das Fürstentum Siebenbürgen und das Königreich Polen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. England wurde mit den Toleranzakten von 1689 zu einem Land der Religionsduldung, wenn auch mit Einschränkungen. Der habsburgische Kaiser Joseph II. erliess 1781 sein Toleranzpatent.

Klassisch geworden ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, nach der «alle Menschen gemäss den Geboten des Gewissens gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion» haben. In der Erklärung der Menschenrechte in Frankreich (1789) und in den Verfassungen vieler neuzeitlicher Staaten, auch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit ein wesentlicher Bestandteil. Russland erhielt sein Toleranzedikt erst vor 100 Jahren.

Übrigens wurde dieses Edikt in den folgenden Jahren in Russland in der Praxis durch viele Einzelverordnungen de facto wieder eingeschränkt. Die bolschewistische Oktoberrevolution leitete eine jahrzehntelange Periode von Religionsunterdrückungen und -verfolgungen ein, die erst mit der Politik von Glasnost und Perestroika in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beendet wurde. In der heutigen Verfassung der russischen Republik ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit festgeschrieben. Dass das Toleranzedikt erst 1905 erlassen worden war, macht jedoch auch verständlich, warum die Russische Orthodoxe Kirche heute mit der Anerkennung westlichen nichtorthodoxen theologischen Gedankengutes, mit dem Wirken der katholischen und evangelischen Kirchen in Russland und mit der ökumenischen Arbeit so grosse Mühe hat.

* Der Autor ist Titularprofessor für osteuropäische Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. 

 

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