SZENARIO – ERZÄHLUNG IN DER ZEITGENÖSSISCHEN
FOTOGRAFIE I
FOTOFORUM BRAUNAU
Eröffnung: 8.5.2009, Dauer: bis 7.6.2009
KünstlerInnen: Ernst Koslitsch, Michael Michlmayr und Julia Willms
Kuratorin: Dr. Petra Noll
Zwei Künstler und eine Künstlerin aus Wien bzw. Amsterdam sind hier
mit ihren Arbeiten unter dem Thema „Erzählung“ zusammengefasst. Die
Ausstellung hat den Titel „Szenario“, was in Film, Theater und Literatur
den szenisch gegliederten Entwurf eines Erzählwerkes beschreibt. Unter
einer Erzählung verstehen wir im traditionellen Sinn eine fertig ausformulierte
Geschichte mit auf Eindeutigkeit, Überschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit
hin angelegten Handlungsverlauf und einer linear strukturierten Abfolge
mit Anfang und Schluss. Sogenannter „Sinn“ und Rezepte fürs Leben sind
inkludiert.
Was ich hier als erzählerische Positionen zusammengefügt habe, ist weit
entfernt von dieser Zugangsweise. Die Arbeiten sind narrativ, haben
einen hohen erzählerischen Wert, aber nicht in der klassischen Form.
Leben und Wahrnehmung sind vielschichtig und nicht linear, innovative
zeitgenössische Positionen tragen dieser Tatsache Rechnung. Die hier
gezeigten Arbeiten sind vielschichtig, liefern keine fertigen Geschichten,
beinhalten Brüche, Diskontinuitäten, Täuschungen. Gegeben werden nur
narrative Fragmente, keine nachvollziehbaren Handlungen. Alles bleibt
in der Schwebe und gibt keine Sicherheit mehr. Viele Bedeutungen und
Geschichten sind möglich. Es sind assoziative Erzählräume, die Möglichkeiten
zum Neu- und Weiterdenken bieten.
Die hier ausgestellten Künstler erstellen konzeptuell entwickelte Szenarien.
Zu sehen sind keine gefundenen, sondern erfundene Bilder. Alle Arbeiten,
die immer vertraute Motive aus dem Alltag, aus der Wirklichkeit aufgreifen,
verfremden bzw. verzerren die Realität. Die Arbeiten sind auf Täuschung
hin angelegt, die mehr oder weniger sichtbar ist. Es sind konstruierte
Welten, vorformulierte Gedankenmodelle, rätselhafte Bildkonstellationen,
die neue Interpretationen und Wahrnehmungen ermöglichen.
Wie erzählt Ernst Koslitsch (2. Obergeschoss)? Er kombiniert
realistische, inszenierte und Modell-Fotografien. Letztere sind als
Inszenierung erkennbar. Er baut zunächst dreidimensionale Modelle z.
B. von gesehenen Architekturen aus der Erinnerung, oft unter Verwendung
von Fundstücken und ready mades. Manchmal werden diese mit Fotos von
Menschen aus anderem Kontext (Fußballspieler, Denker) verbunden. Die
Modelle sind bewusst einfach, fehlerhaft (wie unsere Erinnerung) und
illusionslos gestaltet; sie verweisen nicht auf bestimmte Objekte. Diese
Modell-Szenarien werden dann fotografiert. Die Bilder zeigen eine konstruierte
Wirklichkeit, auch die Menschen sind Teile dieser Konstruktion, sie
agieren wie Schauspieler auf einer Bühne. Dies verleiht den Bildern
einen filmischen, d. h. per se erzählerischeren Wert. Nur, was bekommen
wir erzählt? Klarheit über die Wirklichkeit bekommen wir nicht. Das
Geschehen bleibt rätselhaft und uneindeutig – wie der Alltag auch. Die
Verwirrung wird gesteigert durch die Kombination verschiedener Realitäten,
d. h. von realistischen Fotos mit Modellfotos. Ernst Koslitsch’ Geschichten
sind kein Endprodukte, sondern inspirieren dazu, nach einer Erzählung
zu suchen bzw. weiterzudenken.
Die Täuschungen in den Fotografien von Michael Michlmayr
(1. Obergeschoss) sieht man nicht auf den ersten Blick. Die Bilder sind
nicht inszeniert, aber nachträglich digital bearbeitet. Alltägliche
Szenarien aus dem urbanen Raum, aber auch Landschaftsbilder werden sequenziell
von derselben Position aus aufgenommen und nahtlos zu einem Tableau
zusammengefügt. Oder es wird dasselbe Bild, beispielsweise von dem Stockwerk
eines Hochhauses vervielfältigt und übereinandergesetzt.
Mit dem Stilmittel der Wiederholung entstehen neue Situationen, die
auf den ersten Blick wirken, als seien sie authentisch. Aber es ist
alles Fiktion: der Raum bzw. die Architektur stimmt nicht, der Zeitverlauf
stimmt nicht, die Anwesenheit von Personen stimmt so nicht. Als Beispiel
das Foto „La Place“ (Einladungskarten-Motiv): Personen wurden zeitversetzt
fotografiert und diese Fotos zu einem zusammengefügt; das Foto sieht
aus wie ein einziger Schnappschuss des Platzes, ist aber Fiktion, die
Personen wiederholen sich in immer anderen Posen.
Eine Geschichte kann durch die Rätselhaftigkeit der Fotografien ausgelöst
werden.
Sie bewirken eine animierende Spannung dadurch, dass sie zwar geplant
gesetzt sind, aber tatsächlich aus einem freien Spiel mit dem Bild heraus
entstanden sind, und dass sie einerseits figurativ, aber andererseits
auch sehr abstrakt sind. Das Video „Kontinuum“ passt zur Fotoarbeit
„Rolltreppe“. Dieselbe Rolltreppe, von oben fotografiert bzw. gefilmt,
wurde mehrfach nebeneinander gestellt. Durch die extreme Draufsicht
scheinen die Menschen im Video die Treppe hoch- bzw. herunter zu stürzen.
Haben die Fotografien durch die Muliplizierung der Situation schon etwas
Filmisches, so wird dies im Video noch gesteigert. Ein merkwürdig-irritierendes,
verwirrendes Zeit-Raum-Szenario mit Menschen, die gesteuert in die Unendlichkeit
zu laufen scheinen!
Bei Julia Willms (3. Obergeschoss) Fotografien handelt
es sich um am Computer hergestellte Situationen. Ihre Serie „Urban Household“
und das Bild „Urban Landscape“, die im Titel bereits Ungewöhnliches
ankündigen, sind Kombinationen von Landschaften und Innenräumen. Die
natürlichen Grenzen von Außen- und Innenraum sind in diesen Arbeiten
aufgehoben. Konträre bzw. in der Realität so nicht vorkommende Situationen
werden digital zusammen montiert und wirken so wie eine selbstverständliche
Einheit. Das idyllische Moment wird durch die befremdliche Atmosphäre
in Frage gestellt. Es wird ein neuer Blick auf alltägliche Situationen
geworfen, indem diese ins Surreale transformiert werden.
Die Möglichkeit einer Geschichte ist gegeben durch die Spannung, die
durch die scheinbare Normalität der Szenarien und der gleichzeitig sofort
sichtbaren Absurdität des Dargestellten entsteht. Es handelt sich um
sehr poetische Bilder. Poesie, verstanden als eine in Form und Inhalt
offene bzw. regelfreie, ja chaotische und phantastische Zugehensweise,
kombiniert mit Humor, ermöglicht eine erweiterte Wirklichkeitserfahrung.
Das in der Ausstellung zu sehende Video ist auf einem Tulpenfeld in
Holland aufgenommen, es zeigt das skurrile Szenario von sich gegenseitig
im Blütenmeer fotografierenden Touristen.
Dr. Petra Noll - Kuratorin und Leiterin des Fotoforum
Braunau
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