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Artikel aus Wiener Zeitung 02.08.2002  

Kreuger-Land ist abgebrannt

Der rätselhafte Tod eines schwedischen Streichholzmagnaten/ Von Andreas Beerlage

Am 11. März 1932 gegen 17 Uhr betritt ein Mann ein Waffengeschäft im Pariser Zentrum. Er lässt sich verschiedene halbautomatische Waffen vorführen, entscheidet sich dann für eine 9-Millimeter-Browning. Dazu nimmt er vier Patronenschachteln, je 25 Schuss. Er nennt laut seinen Namen - Ivar Kreuger - und wird samt Adresse ins Verkaufsbuch eingetragen. Für den kommenden Vormittag ist Kreuger verabredet. Er soll Geschäftspartnern und Mitarbeitern Auskunft geben über entdeckte Unregelmäßigkeiten. Einige seiner Sicherheiten für große laufende Kredite werden angezweifelt. Als der Chef nicht zum Treffen kommt, eilt einer der drei, Kreugers engster Mitarbeiter Krister Littorin, zu dessen Wohnung in der Avenue Victor Emmanuel III Nr. 5. Er findet Kreuger voll angekleidet auf der linken Seite des Doppelbetts im Schlafzimmer liegend, mit einer Browning in seiner leichenstarren linken Hand.

Im Original auf Wiener Zeitung nicht mehr vorhanden, daher ab hier seit 21.08.2005 der komplette Artikel aus dem Archiv bereit gestellt. Dieser Artikel befindet sich auch noch ausführlicher

im Archiv von brandeinsOnlin unter Das Zündholz-Komplott

Die Todeszeit wird auf etwa 11 Uhr am 12. März bestimmt. Am Tag darauf hat jede Zeitung Europas, die etwas auf sich hält, den Selbstmord Kreuger auf der Titelseite.
In den Nachrufen nimmt die Welt Abschied von einem der größten Wirtschaftsgenies seiner Zeit.

Die Todeszeit wird auf etwa 11 Uhr am 12. März bestimmt. Am Tag darauf hat jede Zeitung Europas, die etwas auf sich hält, den Selbstmord Kreuger auf der Titelseite.
In den Nachrufen nimmt die Welt Abschied von einem der größten Wirtschaftsgenies seiner Zeit. Aus seiner kleinen Konstruktionsfirma "Kreuger & Toll" schmiedete Bauingenieur Ivar Kreuger (gesprochen wie "Krüger"), geboren 1880 in Kalmar, einen weltumspannenden Trust, der 260 Fabriken und 75.000 Mitarbeiter umfasste. Zum Schluss gehörten dazu: Zwei Drittel der weltweiten Streichholzproduktion, Goldminen, Erzberg- und Verhüttungswerke, große Teile der schwedischen Papierindustrie samt den dazugehörigen Wäldern, teure Immobilien in einigen europäischen Hauptstädten, die Telefonfirma Ericcsson. Kreuger war auch Kreditgeber für viele Staaten, zwischen 1925 und 1930 vergab er Staatsanleihen an 17 Länder in einer Höhe von rund einer halben Milliarde Dollar. Im Gegenzug ließ er sich das Zündholzmonopol garantieren. In Deutschland galt es noch bis 1983.

Gräuelgeschichten

Wenige Wochen nach Kreugers Tod meldet die Mutterfirma Kreuger & Toll Konkurs an. Die Zeitungen überschlagen sich derweil mit immer neuen Gräuelgeschichten über den Zündholzkönig: Er habe im großen Stil Bilanzen gefälscht, der Konzern sei nur ein gigantisches Kartenhaus gewesen. Kreuger-Land ist abgebrannt. Es ist eine Zeit, in der die Selbstmordrate Schwedens dramatisch in die Höhe schnellt. Zu viele Menschen verlieren ihr Erspartes, das sie in Kreugeraktien gesteckt hatten. Gleichzeitig kommen viele schockierende Details ans Tageslicht: Kreuger war ein Spieler, ein Schwuler, ein Frauenverheizer, ein Masochist. Reporter aus aller Welt sind angetreten zu einer Enthüllungsolympiade. Innerhalb kürzester Zeit demontieren sie den Mythos Kreuger. Er galt eben noch als Star der Weltwirtschaft und Schwedens ganzer Stolz, nun ist er ein skrupelloser Lügner, ein Manipulateur, ein durch und durch schlechter Mensch.

Der König der Schwindler hat sich selbst gerichtet, so sehen es auch heute noch die meisten Schweden.
70 Jahre später schüttelt Lars-Jonas Angström, Stockholmer Geschäftsmann im Ruhestand, mit leiser Verbitterung den Kopf.

Der König der Schwindler hat sich selbst gerichtet, so sehen es auch heute noch die meisten Schweden.
70 Jahre später schüttelt Lars-Jonas Angström, Stockholmer Geschäftsmann im Ruhestand, mit leiser Verbitterung den Kopf. Seit gut 30 Jahren ist der 72-Jährige auf den Spuren Kreugers, hat sich durch Hunderte Regalmeter Archivmaterial gefressen und zwei Bücher darüber geschrieben. Er sagt, es stimme nicht ein Wort von dem, was damals geschrieben wurde: "Es war Mord. Das könnte ich vor jedem Gericht der Welt beweisen!" Leider gibt es keinen passenden Prozess. Er argumentiert mit Fakten, die er in den Übersetzungen der damaligen französischen Polizeiermittlungen gefunden hat, die nun im Stockholmer Stadsarkivet (Stadtarchiv) lagern. Die Originale sind in Paris verschwunden. In den schwedischen Abschriften wimmelte es von Merkwürdigkeiten. Schon die Tatsache, dass IK sich ins Herz geschossen hatte, ließ den Hobbydetektiv Angström stutzig werden: "So gehen nur zwei von hundert Selbstmördern vor. Üblicherweise schießen sie sich in den Kopf."
Dann war da noch die Sache mit den drei Patronen. Es wurden 97 Schuss Munition für die Browning gefunden. Diese Sorte halbautomatische Pistole saugt mit dem Schuss eine neue Patrone aus dem Magazin in den Lauf. Doch der Lauf der gefundenen Waffe war leer, nur im Magazin fand sich eine Patrone. "Wer hat sie da rausgeholt? Kreuger?" Die Waffe wurde erst in der linken Hand des Opfers gefunden und fiel dann herunter. Kreuger war Rechtshänder. Und an der linken Hand fehlte ihm die Spitze des Zeigefingers, der Rest war steif. "Kreuger konnte die Pistole nicht mit Druck vom Handballen auf die Rückseite des Griffs entsichern, wie man es bei der Browning macht, und gleichzeitig abziehen", wundert sich Angström. Und die Liste ist noch länger. Der Einschuss war zu klein für ein 9-Millimeter-Geschoss. Die Kugel selbst war nach Angaben des französischen Gerichtsmediziners weder am Rücken wieder ausgetreten, noch dort zu spüren. Außerdem fanden sich an der Innenseite der Kleidung nicht die üblichen Schmauch- und Gewebespuren, die auftreten, wenn diese Pistole für einen Moment beim Nachladen wie ein Staubsauger funktioniert.
Angström erzählt seine Version. Ein Mann, der sich Ivar Kreuger nannte, aber nicht Kreuger war, kauft Waffe und Patronen, dringt am nächsten Vormittag in die Wohnung ein, sticht Kreuger mit einer langen, schmalen Klinge ins Herz. Dann schießt er mit einer Platzpatrone auf die Wunde, um die äußerlichen Schmauchspuren anzubringen. Der Mörder drückt dem Toten die Pistole in die Hand, entnimmt die zweite Platzpatrone aus dem Lauf. Er findet eine schriftliche Mitteilung an Krister Littorin, die sich ganz gut als letztes Wort eignet: "Dear Krister, I have made such a mess of things, that I believe this to be the most satisfactory solution for everyone concerned." Dann verschwindet der Mörder.
Zu einem Selbstmord gehört ein Abschiedsbrief. Krister Littorins Worte erkennt Angström nicht an: "Es war eine geschäftliche Mitteilung, die vermutlich auf einem Stapel bearbeiteter Akten lag." Und zu einem richtigen Mord gehört ein Motiv. Lars-Jonas Angström präsentiert eine breite Auswahl. Stalin ist immer ein guter Tipp, siehe Trotzki. Kreuger hatte mit Russland wegen Krediten verhandelt, Stalin wollte aber unter keinen Umständen ein Zündholzmonopol zulassen. Die beiden überwarfen sich. Kreuger stabilisiere mit seinen Krediten die brenzlige innenpolitische Situation in Frankreich (1927, 75 Millionen Dollar) und Deutschland (1930, 125 Millonen Dollar), was Stalin gar nicht in den Kram passte. Er setzte große Hoffnung in die Proletarier dieser Länder, einen ausreichend großen Leidensdruck vorausgesetzt. Dann war da das amerikanische Bankhaus Morgan, dem Kreuger kräftig in die Suppe spuckte. Schließlich bastelte er an einem weltweiten Stahl-Trust, ein Feld, dass die Morgans besetzt hatten. Außerdem hatten sie Geld an Staaten gepumpt, bevor Kreuger ihnen mit für die Schuldner viel günstigeren Konditionen das Geschäft verdarb. Und in Schweden machten sich die mächtigen Wallenbergs langsam Gedanken, wie es wohl sei, nur auf dem zweiten Platz in Sachen Wirtschaftskraft und Einfluss zu liegen.
Jeder von ihnen hätte Grund gehabt, sich über das Verschwinden Kreugers von der internationalen Wirtschaftsbühne zu freuen.
"Meine Theorie erkläre alle Merkwürdigkeiten der Ermittlungen", sagt Angström mit großer Genugtuung, "wer Kreuger nun genau umgebracht hat, ist nicht von Bedeutung. Es war ja ein Auftragskiller, interessant sind die Leute, die hinter ihm standen." Wie er zum schwedischen Mister Marple mutierte, kann Lars-Jonas nicht genau begründen. Der Fall Kreuger hat ihn einfach magisch angezogen.

"Es war kein Selbstmord"

Wäre damals am Tag vor Kreugers Kremierung eine Obduktion durchgeführt worden, dann könnte Angström nicht jeden Tag viele Stunden damit verbringen, die Wahrheit als 1.000-Teile-Puzzle zusammen zu legen. Doch dann gäbe es Gewissheit für Eva Dyrssen. Die 92-jährige Dame, noch sehr rüstig und bestimmt einmal sehr schön, erinnert sich kristallklar an den Tag, als Gerichtsmediziner Erik Karlmark gerade von einem ersten Blick auf die Leiche kam und sich vor Mitglieder der Kreugerfamilie stellte, mit dabei auch Ivars Nichte Eva. Er sagte: "Das ist kein Selbstmord. Es ist ein geschickt arrangierter Mord!" Dieser Satz rumort seither in ihrem Kopf herum. Es ist Mord. Doch die Obduktion wird noch am selben Tag vom Stockholmer Regierungspräsidenten untersagt, obwohl die Familie sie forderte und sie von der Polizei in Paris und Stockholm empfohlen worden war. Es blieb offiziell beim Selbstmord.
Die Kreuger-Familie erholte sich kaum wieder von dem Crash: "Gute Bekannte wechselten plötzlich die Straßenseite, wenn sie uns entgegenkamen. Meine Eltern blieben nur noch zu Hause, saßen da und weinten." Eva Dyrssen hingegen hatte ihr ganzes Leben noch vor sich und genügend Energie, etwas daraus zu machen. Ihre eigenen Freunde waren jung und loyal. Sie war später in ihrem Beruf sehr erfolgreich und gilt heute noch als weltweit führende Spezialistin für historische Kronleuchter. Die Erinnerungen wühlen Eva Dyrssen auf. Von einem handgeschriebenen Zettel mit Notizen liest sie vor, unter anderem: "Zum Zeitpunkt des Konkurses war Kreuger & Toll ein gesundes Unternehmen!" Sie glaubt, dass der Bankrott mutwillig herbeigeführt wurde, dass die bösen Geschichten über ihren Onkel alle erlogen waren. Schwer zu sagen, wie lange sie leben muss, bis sie ihr Ziel erreicht hat, das Stigma von der Stirn der Kreugers wischen. Ihre Zeit wird langsam knapp.
Nicht jeden, der heute über Ivar Kreuger nachdenkt, interessiert die Mordfrage. "Sagen wir einfach, Kreuger ist gestorben. Das steht ja wenigstens fest!", sagt Seven Olof Arlebäck, Unternehmensberater im Ruhestand. Der 71-Jährige hat in mehr als 30 Unternehmen Südschwedens im Aufsichtsrat gesessen, doch seit er in Rente ist, will Arlebäck nur noch Spaß haben, sagt er. Das heißt für ihn: über Ivar Kreuger forschen. Schon als Student der Betriebswirtschaft schrieb er einen Text, den Ivars Bruder Thorsten las. Der ermutigte ihn, am Ball zu bleiben. Ein halbes Jahrhundert später legt Arlebäck ein ganzes Buch vor: "Kreugerkraschen - Storbankernas verk?" (Der Kreuger-Crash: Ein Werk der Großbanken?) Arlebäck nennt sein Buch ganz unbescheiden "die erste professionelle Analyse der Geschehnisse, die auf den Tod Kreugers folgten". Er ist sich sicher, dass Kreuger & Toll zu Unrecht in Konkurs ging: "Zum ersten Mal konnten die großen Kreditgeber Kreugers einen Blick auf den tatsächlichen Zustand seines Konzerns werfen. Er war konsolidiert, von momentanen Liquiditätsschwierigkeiten abgesehen. Dann plünderten sie ihn."
Arlebäck ist wahrscheinlich der erste Forscher, der völlig unabhängig arbeitete. Bis dato wurde ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeiten durch den Wallenberg-Clan finanziert. "Und der hat sich über ihre Stockholms Enskilda Bank (SEB) einen großen Teil der Kreuger-Firmen eingesteckt."
Wenige Tage nach Kreugers Tod trat eine "Königliche Kommission" an, um die Lage von Kreuger & Toll zu beurteilen. Darin saßen Vertreter der drei größten Kreditgeber: Skandinaviska, Handelsbanken und SEB. Sofort drangen die unglaublichsten Details über Missmanagement und regelrechte Fälschungen nach außen, die meisten davon selbst Fälschungen, sagt Arlebäck. "Die Bankvertreter, allen voran die Wallenbergs, drückten die Bewertungen weit nach unten, rechneten den Immobilienbesitz nicht mit ein. Kreugers Mutterkonzern ging pleite, die Banken übernahmen die intakten Firmen zu Preisen, die sie selbst diktierten." Die großen Banken hatten nicht eine Krone ihrer Sicherheiten verloren.
Gut, das Arlebäck die Arbeit mit den Großbanken erledigt hat - hier muss Lars-Jonas Angström nicht mehr wühlen. Vielleicht bringt ihm das ein bisschen freie Zeit auf seinem kleinen Gutshof in Nordschweden. Dort kommen ihm immer die besten Ideen. Vor kurzem hatte er den Einfall, im schwedischen Fernmeldemuseum nach alten Telegrammen zu suchen. Ein Volltreffer. Dort schlummern 1.500 Stück, die Aktienverkäufe jener Zeit nachzeichnen. Noch nie hat jemand darauf geschaut. Mister Marple macht den Eindruck eines erfreuten Kindes, das endlich wieder im Lehm spielen darf. Da wird wieder viel Dreck ans Tageslicht kommen. Eines verrät er jetzt schon: "Es gab kurz vor und nach dem Tod große Börsenbewegungen gegen Kreuger, ein Teil davon ganz klar illegal. Kreugers Gegner hätten bei ihren Baisse-Spekulationen viel verloren, und er kannte sie genau. Manche von ihnen wären im Gefängnis gelandet. Ist das nicht Grund genug, ihn umzubringen?" Aber das ist eine andere Geschichte und soll in Angströms drittem Kreuger-Buch ausführlich behandelt werden.
Die Suche nach Wahrheit, sie endet nie. Da tröstet, was 1932 der Berliner Reporter Manfred Georg schrieb: "Von Ivar Kreuger steht bisher eigentlich nur eines fest - dass er leidenschaftlich Maiglöckchen liebte . . ."
 

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