Der rätselhafte Tod eines schwedischen Streichholzmagnaten/ Von
Andreas Beerlage
Am 11. März 1932 gegen 17 Uhr betritt ein Mann ein Waffengeschäft
im Pariser Zentrum. Er lässt sich verschiedene halbautomatische Waffen
vorführen, entscheidet sich dann für eine 9-Millimeter-Browning. Dazu
nimmt er vier Patronenschachteln, je 25 Schuss. Er nennt laut seinen
Namen - Ivar Kreuger - und wird samt Adresse ins Verkaufsbuch
eingetragen. Für den kommenden Vormittag ist Kreuger verabredet. Er
soll Geschäftspartnern und Mitarbeitern Auskunft geben über entdeckte
Unregelmäßigkeiten. Einige seiner Sicherheiten für große laufende
Kredite werden angezweifelt. Als der Chef nicht zum Treffen kommt,
eilt einer der drei, Kreugers engster Mitarbeiter Krister Littorin, zu
dessen Wohnung in der Avenue Victor Emmanuel III Nr. 5. Er findet
Kreuger voll angekleidet auf der linken Seite des Doppelbetts im
Schlafzimmer liegend, mit einer Browning in seiner leichenstarren
linken Hand.
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Das
Zündholz-Komplott
Die Todeszeit
wird auf etwa 11 Uhr am 12. März bestimmt. Am Tag darauf hat jede
Zeitung Europas, die etwas auf sich hält, den Selbstmord Kreuger
auf der Titelseite.
In den Nachrufen nimmt die Welt Abschied von einem der größten
Wirtschaftsgenies seiner Zeit. |
Die Todeszeit wird auf etwa 11 Uhr am 12. März bestimmt. Am Tag
darauf hat jede Zeitung Europas, die etwas auf sich hält, den
Selbstmord Kreuger auf der Titelseite.
In den Nachrufen nimmt die Welt Abschied von einem der größten
Wirtschaftsgenies seiner Zeit. Aus seiner kleinen Konstruktionsfirma "Kreuger
& Toll" schmiedete Bauingenieur Ivar Kreuger (gesprochen wie
"Krüger"), geboren 1880 in Kalmar, einen weltumspannenden Trust, der
260 Fabriken und 75.000 Mitarbeiter umfasste. Zum Schluss gehörten
dazu: Zwei Drittel der weltweiten Streichholzproduktion, Goldminen,
Erzberg- und Verhüttungswerke, große Teile der schwedischen
Papierindustrie samt den dazugehörigen Wäldern, teure Immobilien in
einigen europäischen Hauptstädten, die Telefonfirma Ericcsson. Kreuger
war auch Kreditgeber für viele Staaten, zwischen 1925 und 1930 vergab
er Staatsanleihen an 17 Länder in einer Höhe von rund einer halben
Milliarde Dollar. Im Gegenzug ließ er sich das Zündholzmonopol
garantieren. In Deutschland galt es noch bis 1983.
Gräuelgeschichten
Wenige Wochen nach Kreugers Tod meldet die Mutterfirma Kreuger & Toll
Konkurs an. Die Zeitungen überschlagen sich derweil mit immer neuen
Gräuelgeschichten über den Zündholzkönig: Er habe im großen Stil
Bilanzen gefälscht, der Konzern sei nur ein gigantisches Kartenhaus
gewesen. Kreuger-Land ist abgebrannt. Es ist eine Zeit, in der die
Selbstmordrate Schwedens dramatisch in die Höhe schnellt. Zu viele
Menschen verlieren ihr Erspartes, das sie in Kreugeraktien gesteckt
hatten. Gleichzeitig kommen viele schockierende Details ans
Tageslicht: Kreuger war ein Spieler, ein Schwuler, ein Frauenverheizer,
ein Masochist. Reporter aus aller Welt sind angetreten zu einer
Enthüllungsolympiade. Innerhalb kürzester Zeit demontieren sie den
Mythos Kreuger. Er galt eben noch als Star der Weltwirtschaft und
Schwedens ganzer Stolz, nun ist er ein skrupelloser Lügner, ein
Manipulateur, ein durch und durch schlechter Mensch.
Der König der
Schwindler hat sich selbst gerichtet, so sehen es auch heute noch
die meisten Schweden.
70 Jahre später schüttelt Lars-Jonas Angström, Stockholmer
Geschäftsmann im Ruhestand, mit leiser Verbitterung den Kopf. |
Der König der Schwindler hat sich selbst gerichtet, so sehen es
auch heute noch die meisten Schweden.
70 Jahre später schüttelt Lars-Jonas Angström, Stockholmer
Geschäftsmann im Ruhestand, mit leiser Verbitterung den Kopf. Seit gut
30 Jahren ist der 72-Jährige auf den Spuren Kreugers, hat sich durch
Hunderte Regalmeter Archivmaterial gefressen und zwei Bücher darüber
geschrieben. Er sagt, es stimme nicht ein Wort von dem, was damals
geschrieben wurde: "Es war Mord. Das könnte ich vor jedem Gericht der
Welt beweisen!" Leider gibt es keinen passenden Prozess. Er
argumentiert mit Fakten, die er in den Übersetzungen der damaligen
französischen Polizeiermittlungen gefunden hat, die nun im Stockholmer
Stadsarkivet (Stadtarchiv) lagern. Die Originale sind in Paris
verschwunden. In den schwedischen Abschriften wimmelte es von
Merkwürdigkeiten. Schon die Tatsache, dass IK sich ins Herz geschossen
hatte, ließ den Hobbydetektiv Angström stutzig werden: "So gehen
nur zwei von hundert Selbstmördern vor. Üblicherweise schießen sie
sich in den Kopf."
Dann war da noch die Sache mit den drei Patronen. Es wurden 97 Schuss
Munition für die Browning gefunden. Diese Sorte halbautomatische
Pistole saugt mit dem Schuss eine neue Patrone aus dem Magazin in den
Lauf. Doch der Lauf der gefundenen Waffe war leer, nur im Magazin fand
sich eine Patrone. "Wer hat sie da rausgeholt? Kreuger?" Die Waffe
wurde erst in der linken Hand des Opfers gefunden und fiel dann
herunter. Kreuger war Rechtshänder. Und an der linken Hand fehlte ihm
die Spitze des Zeigefingers, der Rest war steif. "Kreuger konnte
die Pistole nicht mit Druck vom Handballen auf die Rückseite des
Griffs entsichern, wie man es bei der Browning macht, und gleichzeitig
abziehen", wundert sich Angström. Und die Liste ist noch länger.
Der Einschuss war zu klein für ein 9-Millimeter-Geschoss. Die Kugel
selbst war nach Angaben des französischen Gerichtsmediziners weder am
Rücken wieder ausgetreten, noch dort zu spüren. Außerdem fanden sich
an der Innenseite der Kleidung nicht die üblichen Schmauch- und
Gewebespuren, die auftreten, wenn diese Pistole für einen Moment beim
Nachladen wie ein Staubsauger funktioniert.
Angström erzählt seine Version. Ein Mann, der sich Ivar Kreuger
nannte, aber nicht Kreuger war, kauft Waffe und Patronen, dringt am
nächsten Vormittag in die Wohnung ein, sticht Kreuger mit einer
langen, schmalen Klinge ins Herz. Dann schießt er mit einer
Platzpatrone auf die Wunde, um die äußerlichen Schmauchspuren
anzubringen. Der Mörder drückt dem Toten die Pistole in die Hand,
entnimmt die zweite Platzpatrone aus dem Lauf. Er findet eine
schriftliche Mitteilung an Krister Littorin, die sich ganz gut als
letztes Wort eignet: "Dear Krister, I have made such a mess of things,
that I believe this to be the most satisfactory solution for everyone concerned." Dann verschwindet der Mörder.
Zu einem Selbstmord gehört ein Abschiedsbrief. Krister Littorins Worte
erkennt Angström nicht an: "Es war eine geschäftliche Mitteilung, die
vermutlich auf einem Stapel bearbeiteter Akten lag." Und zu einem
richtigen Mord gehört ein Motiv. Lars-Jonas Angström
präsentiert eine breite Auswahl. Stalin ist immer ein guter Tipp,
siehe Trotzki. Kreuger hatte mit Russland wegen Krediten verhandelt,
Stalin wollte aber unter keinen Umständen ein Zündholzmonopol
zulassen. Die beiden überwarfen sich. Kreuger stabilisiere mit seinen
Krediten die brenzlige innenpolitische Situation in Frankreich (1927,
75 Millionen Dollar) und Deutschland (1930, 125 Millonen Dollar), was
Stalin gar nicht in den Kram passte. Er setzte große Hoffnung in die
Proletarier dieser Länder, einen ausreichend großen Leidensdruck
vorausgesetzt. Dann war da das amerikanische Bankhaus Morgan, dem
Kreuger kräftig in die Suppe spuckte. Schließlich bastelte er an einem
weltweiten Stahl-Trust, ein Feld, dass die Morgans besetzt hatten.
Außerdem hatten sie Geld an Staaten gepumpt, bevor Kreuger ihnen mit
für die Schuldner viel günstigeren Konditionen das Geschäft verdarb.
Und in Schweden machten sich die mächtigen Wallenbergs langsam
Gedanken, wie es wohl sei, nur auf dem zweiten Platz in Sachen
Wirtschaftskraft und Einfluss zu liegen.
Jeder von ihnen hätte Grund gehabt, sich über das Verschwinden
Kreugers von der internationalen Wirtschaftsbühne zu freuen.
"Meine Theorie erkläre alle Merkwürdigkeiten der Ermittlungen", sagt
Angström
mit großer Genugtuung, "wer Kreuger nun genau umgebracht hat, ist
nicht von Bedeutung. Es war ja ein Auftragskiller, interessant sind
die Leute, die hinter ihm standen." Wie er zum schwedischen Mister
Marple mutierte, kann Lars-Jonas nicht genau begründen. Der Fall
Kreuger hat ihn einfach magisch angezogen.
"Es war kein Selbstmord"
Wäre damals am Tag vor Kreugers Kremierung eine Obduktion durchgeführt
worden, dann könnte Angström nicht jeden Tag viele Stunden damit
verbringen, die Wahrheit als 1.000-Teile-Puzzle zusammen zu legen.
Doch dann gäbe es Gewissheit für Eva Dyrssen. Die 92-jährige Dame,
noch sehr rüstig und bestimmt einmal sehr schön, erinnert sich
kristallklar an den Tag, als Gerichtsmediziner Erik Karlmark gerade
von einem ersten Blick auf die Leiche kam und sich vor Mitglieder der
Kreugerfamilie stellte, mit dabei auch Ivars Nichte Eva. Er sagte:
"Das ist kein Selbstmord. Es ist ein geschickt arrangierter Mord!"
Dieser Satz rumort seither in ihrem Kopf herum. Es ist Mord. Doch die
Obduktion wird noch am selben Tag vom Stockholmer
Regierungspräsidenten untersagt, obwohl die Familie sie forderte und
sie von der Polizei in Paris und Stockholm empfohlen worden war. Es
blieb offiziell beim Selbstmord.
Die Kreuger-Familie erholte sich kaum wieder von dem Crash: "Gute
Bekannte wechselten plötzlich die Straßenseite, wenn sie uns
entgegenkamen. Meine Eltern blieben nur noch zu Hause, saßen da und
weinten." Eva Dyrssen hingegen hatte ihr ganzes Leben noch vor sich
und genügend Energie, etwas daraus zu machen. Ihre eigenen Freunde
waren jung und loyal. Sie war später in ihrem Beruf sehr erfolgreich
und gilt heute noch als weltweit führende Spezialistin für historische
Kronleuchter. Die Erinnerungen wühlen Eva Dyrssen auf. Von einem
handgeschriebenen Zettel mit Notizen liest sie vor, unter anderem:
"Zum Zeitpunkt des Konkurses war Kreuger & Toll ein gesundes
Unternehmen!" Sie glaubt, dass der Bankrott mutwillig herbeigeführt
wurde, dass die bösen Geschichten über ihren Onkel alle erlogen waren.
Schwer zu sagen, wie lange sie leben muss, bis sie ihr Ziel erreicht
hat, das Stigma von der Stirn der Kreugers wischen. Ihre Zeit wird
langsam knapp.
Nicht jeden, der heute über Ivar Kreuger nachdenkt, interessiert die
Mordfrage. "Sagen wir einfach, Kreuger ist gestorben. Das steht ja
wenigstens fest!", sagt Seven Olof Arlebäck, Unternehmensberater im
Ruhestand. Der 71-Jährige hat in mehr als 30 Unternehmen Südschwedens
im Aufsichtsrat gesessen, doch seit er in Rente ist, will Arlebäck nur
noch Spaß haben, sagt er. Das heißt für ihn: über Ivar Kreuger
forschen. Schon als Student der Betriebswirtschaft schrieb er einen
Text, den Ivars Bruder Thorsten las. Der ermutigte ihn, am Ball zu
bleiben. Ein halbes Jahrhundert später legt Arlebäck ein ganzes Buch
vor: "Kreugerkraschen - Storbankernas verk?" (Der Kreuger-Crash: Ein
Werk der Großbanken?) Arlebäck nennt sein Buch ganz unbescheiden "die
erste professionelle Analyse der Geschehnisse, die auf den Tod
Kreugers folgten". Er ist sich sicher, dass Kreuger & Toll zu Unrecht
in Konkurs ging: "Zum ersten Mal konnten die großen Kreditgeber
Kreugers einen Blick auf den tatsächlichen Zustand seines Konzerns
werfen. Er war konsolidiert, von momentanen Liquiditätsschwierigkeiten
abgesehen. Dann plünderten sie ihn."
Arlebäck ist wahrscheinlich der erste Forscher, der völlig unabhängig
arbeitete. Bis dato wurde ein großer Teil der wissenschaftlichen
Arbeiten durch den Wallenberg-Clan finanziert. "Und der hat sich über
ihre Stockholms Enskilda Bank (SEB) einen großen Teil der
Kreuger-Firmen eingesteckt."
Wenige Tage nach Kreugers Tod trat eine "Königliche Kommission" an, um
die Lage von Kreuger & Toll zu beurteilen. Darin saßen Vertreter der
drei größten Kreditgeber: Skandinaviska, Handelsbanken und SEB. Sofort
drangen die unglaublichsten Details über Missmanagement und
regelrechte Fälschungen nach außen, die meisten davon selbst
Fälschungen, sagt Arlebäck. "Die Bankvertreter, allen voran die
Wallenbergs, drückten die Bewertungen weit nach unten, rechneten den
Immobilienbesitz nicht mit ein. Kreugers Mutterkonzern ging pleite,
die Banken übernahmen die intakten Firmen zu Preisen, die sie selbst
diktierten." Die großen Banken hatten nicht eine Krone ihrer
Sicherheiten verloren.
Gut, das Arlebäck die Arbeit mit den Großbanken erledigt hat - hier
muss Lars-Jonas Angström nicht mehr wühlen. Vielleicht bringt
ihm das ein bisschen freie Zeit auf seinem kleinen Gutshof in
Nordschweden. Dort kommen ihm immer die besten Ideen. Vor kurzem hatte
er den Einfall, im schwedischen Fernmeldemuseum nach alten Telegrammen
zu suchen. Ein Volltreffer. Dort schlummern 1.500 Stück, die
Aktienverkäufe jener Zeit nachzeichnen. Noch nie hat jemand darauf
geschaut. Mister Marple macht den Eindruck eines erfreuten Kindes, das
endlich wieder im Lehm spielen darf. Da wird wieder viel Dreck ans
Tageslicht kommen. Eines verrät er jetzt schon: "Es gab kurz vor und
nach dem Tod große Börsenbewegungen gegen Kreuger, ein Teil davon ganz
klar illegal. Kreugers Gegner hätten bei ihren Baisse-Spekulationen
viel verloren, und er kannte sie genau. Manche von ihnen wären im
Gefängnis gelandet. Ist das nicht Grund genug, ihn umzubringen?" Aber
das ist eine andere Geschichte und soll in Angströms drittem
Kreuger-Buch ausführlich behandelt werden.
Die Suche nach Wahrheit, sie endet nie. Da tröstet, was 1932 der
Berliner Reporter Manfred Georg schrieb: "Von Ivar Kreuger steht
bisher eigentlich nur eines fest - dass er leidenschaftlich
Maiglöckchen liebte . . ."
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