"K.O.O.K.", das neue Album von Tocotronic
von Drehli Robnik
Auf dem österreichischen Jugend- und Pop-Radiosender FM4 kursierte vor zwei Jahren die scherzhafte These, ein ultimativer, essentieller Songtext von Tocotronic müßte lauten: "Ich weiß nicht, warum. Aber es ist mir egal." Prompt und zufällig (aber gibt es Zufälle?) hieß das vorige, vierte Tocotronic-Album "Es ist mir egal, aber". Ihre neue Langspielplatte heißt nun völlig unerwarteterweise "K.O.O.K.". Dies liest sich wie "kook" - ein amerikanisches Wort für einen wirklich verrückten Typ, eine Art Steigerung zum "freak" -, leitet sich jedoch vom minimalistischen Text des monotonen Eröffnungsstücks her: "K.O.O.K., that's what we say! K.O.O.K., we're rocking that way!". Knock-out, okay. Man ist wie erschlagen, aber das ist schon in Ordnung. Oder wie kann man das verstehen?
Als Formulierung hat "K.O.O.K." zunächst hohen Schlachtruf- und Jeansjacken-Aufnäher-Appeal. Das ist untypisch für das neue Tocotronic-Album. Charakteristischer ist, daß "K.O.O.K." - Formulierung wie auch Album - seltsam klingen und keine von vornherein klare Bedeutung abwirft. Man muß noch gar nicht auf die Texte eingehen, um zu hören, daß die neue Platte anders ist als ihre Vorgängerinnen. Oder besser: Seit dem dritten Album "Wir kommen, ums uns zu beschweren" (1996) war immer etwas anders und ungewohnt an der Musik von Tocotronic, gemessen am Standard simplizistischer Punkrock-Kracher und wehmütig-kauziger Alltagsballaden, den ihr Debüt "Digital ist besser" 1995 nachhaltig etabliert hatte. Der Gestus drastischer Abweichung vom angestammten Format/Stereotyp hat sich auf "K.O.O.K." über die ganze Platte ausgebreitet, intensiviert und zugleich verästelt. Es finden sich nur zwei Stücke, die man nach menschlichem Ermessen als "schnell" bezeichnen kann: Das eine, "Rockpop in Concert", schreit mit seinem treibenden Beat und wuchtigen Bass nach Tanzboden-Nutzung und Remix; das andere heißt bezeichnenderweise "Unter der Schnellstraße" und ist eine Fingerübung im einst so eigenen Genre, relaxtes Raunzen über flotter Brachial-Verzerrung - Hausmarke "Tocotronic 1995" (sprich: Dinosaur Jr.), aber von abrupten, versponnenen Einschüben angeBeckt.
Bestimmt wird "K.O.O.K." einerseits von mehr oder weniger langsamen, sinnierenden, mitunter sehr traurigen oder dunklen Balladen und andererseits von schrummeligen Mid-Tempo-Stücken, die dem ersten Drittel des Albums eine heitere Gelassenheit geben. Dort kommt es auch zum massiven Einsatz diverser Analog-Synthesizer (zum Teil von Thies Mynther von Stella gespielt). Das macht seltsame Geräusche, wie sie zur Zeit nicht nur bei Jugendlichen sehr beliebt sind; aber das Piepsen, Tuckern und Quaken ist mehr als ein hipper Hut: Im unbeschwerten, nach einem Album der BRD-Punkband Razzia benannten Instrumental "Tag ohne Schatten" fügen sich Old-School-Keyboards in die Bastelfreude, die man sich als KonsumentIn von Arne Zank-Stücken erwartet, und in "Let There Be Rock" strukturieren, verstärken und denunzieren sie das hymnische Pathos, indem sie schamlos die Fanfare aus "The Final Countdown" von Europe heraufbeschwören.
Wenn Tocotronic auf Platte mit Instrumenten hantieren, die man in ihrer kargen Live-Besetzung auch weiterhin nicht hören wird, dann liegt das Gegengewicht zur Synthie-Fröhlichkeit in den flächigen Streichern und breiten - nicht fetten - Bläsern (Waldhörnern). Arrangiert von Micha Acher (Notwist, Tied and Tickled Trio), erweitern sie die auf Obertonreichtum und Vielfalt von Klang- und Stimmungsräumen abzielende Produktion, die Carol von Rautenkranz und die Band selbst besorgt haben. (Aufgenommen und gemixt wurde "K.O.O.K.", wie schon das Vorgänger-Album von Koproduzent Peter Deimel im französisch-kleinstädtischen Black Box Studio, sowie im Soundgarden Tonstudio Hamburg; insgesamt wurde an dem Album übrigens 70 Studiotage gearbeitet.) Auch die Gitarre macht manch eigenartigen Ton, kleine noises oder ein zweistimmig ("Die Grenzen des guten Geschmacks 1") bzw. über Talkbox ("Let There Be Rock") gespieltes Solo; ersteres geht, so heißt es, auf Thin Lizzy zurück, zweiteres auf Peter Frampton. Überhaupt wird nun im Tocotronic-Gitarrensound der altvertraute Wechsel "verzerrt/unverzerrt" hintangehalten bzw. aufgefächert zu einem differenzierten Spektrum von Spielweisen und Kolorit. Das Schlagzeug hingegen frönt einer neuen Trockenheit, gibt sich eher wuchtig und streng als holprig wie früher.
Das sind keine technologischen Spitzfindigkeiten, sondern Veränderungen in der Art, wie Tocotronic sich ans Zuhören und andere musikspezifische Reaktionsweisen wenden. Was mittlerweile nahezu K.O. ist, fast völlig fertig und erschlagen von beinah zu häufiger Zelebrierung, das ist der harmonisch schlichte, melodisch einladende, auf schnelle Dynamisierung und problemloses Mit-Hüpfen bzw. Mit-Singen hin gebaute Song. Bis hin zum 97er-Album waren fast alle Tocotronic-Stücke hochgradig zur Aneignung durch Lagerfeuer-Gitarren und Party-Chöre geeignet. Die meisten der neuen Modelle haben nun kaum noch Refrains (folglich auch keine Strophen), sondern kommen in Schleifen, mit schleichenden Steigerungen und endlosen Riff-Kaskaden daher, in denen man sich verlieren kann; Intros führen anderswohin, Stimme, Schlüsse, Übergänge tauchen an anderen Stellen auf, als das am Lied geschulte Ohr und Hirn es vermutet hätte. Auch der Gesang (bislang so häufig, zumal live, als ausschließlicher Aufruf ans bedingungslos grölende Kollektiv-Selbst verstanden) rückt vom triumphalen Appell ab, wird zunehmend leise, kein Schreien mehr, sondern ein gepreßtes Hauchen oder gleichmäßig gedehntes Beinah-Sprechen in oft nichtendenwollenden Satzketten, manchmal an den Grenzen zum Flüstern und Wimmern, soulful und passioniert. Wo es nötig ist, macht ein boshaftes Quängeln, wie man es von Dirk von Lowtzows Stimme kennt, auch den alten Sarkasmus geltend.
Anders singt, wer anders schreibt. Nach gar manchen versierten Couplets, Slogans und Plaudertönen mit hohem "Ich"-Faktor wollen Tocotronic uns jetzt erzählen: Im Extremfall namens "Die neue Seltsamkeit" - einem atem(be)raubend langen, dem bislang längsten Tocotronic-Text - wird im Konjunktiv wiedergegeben, was ein a-personales, kollektives "man" wahrgenommen, gedacht, empfunden habe, in der Art einer TV-Reportage oder eines Essayfilms mit montierten Interviews. Die neuen Texte sollen, meint Dirk, so sein, daß man sich nicht umstandslos in sie einklinken kann: Es geht nicht mehr um Identifikation mit einem auskunftsfreudigen, biographischen Ich - dieses ist nun immer mehr im Text aufgelöst; wie könnte es sonst u.a. vom Allein-Sein im Altersheim singen? -, auch nicht um Einfühlung in ein Bild oder eine Situation: In "Jackpot" wird eine schwärmerische Metapher schon im Ansatz relativiert ("Du bist der Jackpot meines Lebens. Zugegeben, der Vergleich ist eher schief als eben.": Wer das mitsingt, fühlt sich seltsam, und das ist O.K.), und in "Die Grenzen des guten Geschmacks 1" genügt schon der grandiose, lapidare Satz "Wir genießen unsere Freizeit", um ein Kuss-im-Sonnenschein-Idyll (übrigens der erste Kuss in einem Tocotronic-Text) zu stören.
Auch das schlichte Wiedererkennen - im Sinn von: "Was die singen, ist so herrlich vertraut und banal..." - kommt auf "K.O.O.K." kurz. Manches ist rätselhaft, etwa die Schlußzeile von "Jackpot": "Wir sind raus, und wir sind stolz darauf!" als Bekräftigung einer Liebes- oder Freundschaftsbeziehung. (Der Satz geht auf einen Text der nach einer Dead Kennedys-Formulierung benannten Kölner Band Zen-Faschisten zurück). Das heißt nicht, daß Tocotronic auf "K.O.O.K." kryptophil oder "schwierig" geworden wären; vielmehr wird das unvermittelte Auftauchen von rätselhaften, tendenziell unheimlichen Wahrnehmungen mitten im Leben skizziert oder ausgemalt: etwa wenn man sich "Unter der Schnellstraße" verirrt, "in einem Labyrinth von Gängen", und "leise, wie aus weiter Ferne, Verkehrsgeräusche" hört. "Man muß immer weiter durchbrechen", ein Satz des Horrorfilm-Regisseurs Dario Argento über mysteriöse Räume, die irgendwo dahinter oder darunter liegen, hat für Dirk programmatischen Wert: Einige der Beschreibungen auf "K.O.O.K." entwerfen eine (vor)städtische Topografie, in der gleich neben dem Ort, an dem man ist, ein ganz anders gearteter Raum anfängt, und in der diffuse, fragmentarische Geräuschwahrnehmungen die Atmosphäre prägen (die "Raum-Atmo", wie die Leute vom Film sagen; aber wer ließe sich nicht lieber die Hand abhacken als zu schreiben, ein Lied wäre "filmisch"?). Andere Texte bauen einen bislang nur in Spurenelementen nachweisbaren Fantasy-Aspekt zur Explizitheit aus: z.B. der tieftraurige Zwölfminüter "17" mit seiner nächtlichen Erscheinung eines gespenstischen Freundes (wie bei Bunuel!); "das Geschenk", das wie im Märchen "an mir kleben bleibt, als hätte es einer an mir festgemacht"; oder das ahnungsvolle Gefühl einer schleichenden Apokalypse in "Die neue Seltsamkeit" (inspiriert von der Kurzgeschichte "Unruhe im Gespensterreich" eines Autors mit dem sinnigen Namen Hermann Grab), die sich auf einen politischen Umsturz, den Beginn eines Krieges oder einer Masseneuphorie ebenso beziehen kann wie auf eine Währungsumstellung oder einer Invasion von Außerirdischen.
Aber: "Das sind keine Rätsel. Das ist offensichtlich", behauptet eines der Stücke, "es war mir alles andere als fremd" ein anderes. Los Tocos sind ihrem Konzept treu geblieben, vom modernen Alltag auszugehen, von Dingen, denen nichts prinzipiell Besonderes anhaftet, von beiläufig-gewohnten Kleinigkeiten, in denen sich unsere Erfahrung zusammen- oder auseinandersetzt. "Alltäglichkeit, die man uns jederzeit aus vollen Fässern zapft," ("Das Unglück muß zurückgeschlagen werden") muß nicht so g'schichterl- und sprücherlhaft einherhopsen wie auf den Hits der beiden ersten Alben; Alltagserfahrung beinhaltet immer auch ein Zeitloch, einen Riß, einen Gedanken - der mitunter jäh auf den Boden erlebter Gegenwart zurückgeholt wird: "Man kann es drehen und wenden wie man will, dachte ich und legte etwas auf den Grill", singt Dirk in "Jenseits des Kanals". Erstaunlich, wie wichtig das Essen für den fröhlichen Materialismus von Tocotronic-Texten ist: Abgesehen von beidseitig zu bratendem Grillfleisch (bzw. -gemüse) kommen in vier weiteren Stücken heruntergeschlungene Bissen im "Lieblingsbrauereilokal", "warmes Bier im Park", ein leeres Bier am Imbißstand, Sprite-Trinken bei Geschmacksdebatten, sowie "ein ziemlich guter Rat, gewissermaßen frisch aufgekocht und aufgetischt", vor.
Was es auf "K.O.O.K." nicht gibt, sind die bislang markenzeichenhaften Hass-Songs. Es ist gar nicht so leicht, Musik zu machen und dabei irgendetwas zutiefst zu verachten, wenn man weiß: "Alles, was wir hassen, seit dem ersten Tag, wird uns niemals verlassen, weil man es eigentlich ja mag." ("Let There Be Rock") Wenn angesichts einer zu "Gartenbaukunst" in langweiliger Landschaft mutierten Rock-Kultur angemerkt wird "Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut", ist das boshaft genug. Ansonsten aber liegt man im Bett und hat "große Lust, sich nochmal umzudrehen", während "draußen etwas vor sich zu gehen scheint, das auch mich betrifft", eine "neue Seltsamkeit" nämlich, der gegenüber "K.O.O.K." eine umfassende Ohnmacht konstatiert - nachdrücklicher als die vorigen Platten und gerade darin politisch: Die Einsicht in die Ohnmacht im Kontrollkapitalismus stellt zumindest die Machtfrage, und das ist nicht wenig. Wie soll man umgehen mit dem uns "lebenslänglich einschließenden Unglück", mit dem "Unerträglichen", dem "System"? "Das dunkle Königreich wird nicht mehr aufzuhalten sein", und dem guten Rat derer, die uns erzählen und nach wie vor "nur das Beste für unser Wohlbefinden wollen", entkommt man nicht. Wer 1997 festgestellt hat, daß es "euch" eh wurscht ist, wenn man "nichts mit euch zu tun haben" will, kann 1999 den Gesang zu "Rockpop in Concert" mit der lakonischen Erkenntnis "Wir werden immer einsam sein" beenden. Jedenfalls scheint falsch bestimmte Öffentlichkeit auf der Welt und im Leben so global geworden zu sein, daß man vielleicht noch strenger bei analytischen Andeutungen von Opposition verharren muß (die, wie in der "Neuen Seltsamkeit", für eine Vielzahl gedanklicher Gebrauchskontexte adaptierbar sind) und noch akribischer im Ausloten einer distanzierten, schwermütigen, nicht-mittun-wollenden Privatheit.
Wer erzählt, erinnert sich. Nach fünf Alben könnte man aus Tocotronic-Texten eine Landkarte mit allerlei beliebigen, erfahrungsträchtigen Räumen destillieren - von Freiburg und Seattle über Bahrenfeld bis "Jenseits des Kanals" und zu den Freizeitheimen und Spielomaten von "Morgen wird wie heute sein". Zugleich füllt sich das Archiv einer verlorenen Zeit, in dem Zeitpunkte und -räume, Veränderungsprozesse und Gewohnheiten, Wahrnehmungen und Erinnerungen auf verschiedenen Schichten und in paradoxen Ordnungen übereinanderliegen: vom Selbstmordsamstag, Dienstag im April und letzten Jahr im Sommer über die Zeitumstellung, den schönsten Tag in meinem Leben und ein Jahr mit drei Oktobern bis zum Sonntagmorgen, zum Weihnachtsabend, an dem niemand mich rief, und zu den bei Tocotronic mittlerweile fast schon selbstreferentiell-obligaten Sommer-Zeitpunkten (der erste Sommertag bzw. das Warten auf die letzten). Woran erinnert man sich? An zufällig bedeutsam gewordene Orte und generell an gestern. Daß morgen wie heute sein wird, daran ist gestern schuld, denn gestern hat triumphal begonnen mit der Fanfare zu "The Final Countdown", an die sich die erste Single-Auskoppelung "Let There Be Rock" erinnert. Daran kann man sich keineswegs im Sinn einer Archäologie des Protests erinnern wie an die Mundharmonika von Neil Young (auf der 97er-Hitsingle "Sie wollen uns erzählen"), sondern nur mit Grausen. Das Cover der Maxi "Let There Be Rock" paraphrasiert ein Bild aus dem Vorspann von Kenneth Angers Underground-Klassiker "Lucifer Rising": Luzifers dunkles Königreich zieht auf, mit dem "Final Countdown" des Happy Metal als Anfang vom Ende, Auftakt der ultimativen Degeneration von Rock, Aufbruch der harten, lauten Musik in ihre Niederlage: "Bis zur völligen Erschöpfung" - man ist K.O., und das ist O.K., weil es den Horizont bestimmt, gegen den man heute Gitarrenmusik machen und um die Ecke denken kann. "Alles, was wir hassen, wird uns niemals verlassen" - wie ein Geschenk, das an uns kleben bleibt.
Unheimliche Begegnungen, Gespenster und Erzengel Luzifer sind Figuren der Fantasy wie auch der Geschichtsphilosophie - bei Walter Benjamin und Blumfeld ebenso wie bei Tocotronic. Letztere hatten auf der Suche nach einem Titel für ihr fünftes Album - "Das Geschenk" hätte dann doch zu herablassend gewirkt und war auch schon von "The Gift", der letzten LP von The Jam, besetzt - kurz mit der Idee gespielt, es schlicht "Der letzte Countdown" zu nennen; das wiederum hätte wohl unvermeidlich nach Milleniumspanik geklungen. "K.O.O.K." hingegen beschwört als kryptographische Formel, in der sich die Niederlage kristallin zum Guten wendet, eine andere, wichtigere Art von Zeitenwende: einen fluchtpunktartigen Benjaminschen und (ganz konkret als Zitat) Guy Debordschen Moment, indem man mit Bewusstheit aus der Unerträglichkeit des Unglücks aufwacht, aber zugleich auch das unheilvolle Dämmern einer neuen, seltsamen Zeit, in der "alles, was bis jetzt noch war, dann auf einmal nicht mehr da" sein wird. Wenn gefordert wird, man möge "Herrgottnochmal, nur noch eine Stunde, nur noch einen Tag" Rock sein lassen, wenn Carol von Rautenkranz meint, "K.O.O.K." sei möglicherweise "die letzte Indie-Rock-Platte", wenn in "Die Grenzen des guten Geschmacks 2" der berühmte, poppige Schlußsatz aus Michel Foucaults "Ordnung der Dinge" anklingt ("Unsere Worte werden leiser, sie verschwinden in der Weise einer Zeichnung hier im Sand. Es gibt kein Leben ohne Schande."), und wenn es im selben Lied heißt, daß "jetzt, wo fremde Schiffe stranden, erst recht nichts überstanden" ist - dann liegt es nicht ganz fern, "K.O.O.K." als die Tocotronic-Variante des massenkulturellen Sinnzusammenhangs namens "Titanic" zu verstehen, als Bergungsunternehmen vor dem Hintergrund eines Aussterbens, eine Arche Noah des Indie-Rock; aber nicht regressiv und nostalgisch wie in dem depperten Film, sondern: Von allem, was einem wichtig war und ist an dem Anteil, den man an der Rockpop-Geschichte gehabt hat, und von den Bestandteilen der eigenen Punk- und Hardcore-Vergangenheit nimmt man ein Pärchen mit, im Sinn einer Übersetzung, eines Transports in der Zeit, auf daß etwas Neues entstehe: Pavement, Pixies, Post-Rock, Beck und Sonic Youth, auch einen Dinosaurier, wenn er Junior heißt, Hüsker Dü (deren Album-Cover "New Day Rising" im "Lucifer Rising"-Cover von "Let There Be Rock" durchschimmert) und manches andere, das ich gar nicht kenne.
Tocotronic sind heute nicht mehr auffallend jung. Sie wollen nicht mehr besonders knuddelig (in Österreich sagt man "kuschlig") sein, jedenfalls nicht um jeden Preis. Dumm waren sie nie, und ihre Klugheit wurde oft unterschätzt; nicht zuletzt deshalb, weil man ihren Stücken eine AC/DC-Entlehnung eher anmerkt als die Einarbeitung eines Gedankens von Deleuze oder Foucault, und auch das ist O.K. Bei Tocotronic funktioniert Philosophie ohne genialische Würden und die Autorität von Weisheit, als Teil eines Universums aus Rockpop und warmem Bier.
(Drehli Robnik: Filmwissenschaftler, unterrichtet an der Uni Wien und an der Uni für Angewandte Kunst; diverse Publikationen; Disk-Jockey (u.a. Super Soft Egg Café Vienna im Flex), Moderator beim Wiener Jugend- und Kultur-Fernsehsender TiV, gelegentlich Film- und Musikkritiker und Sänger (RevoxRevue, Die Guten); ist schon 32 Jahre alt und lebt in Wien-Erdberg.)