Der Weltraum, unendliche Weiten. Irgendwo in Ostwestfalen, Mitte der 80er Jahre. In einem Wohnzimmer auf dem Land wird an kleinen fiesen Pop-Miniaturen gearbeitet, die niemand hören wollte. Das Pop-Label 'Fast Weltweit' aus der Kurgast-Metropole Bad Salzuflen bringt ein paar Singles und Cassettensampler heraus, in deren Zusammenhang Namen wie Jochen Distelmeyer, Bernadette Hengst oder Bernd Begemann auftauchen. Und auch Frank Spilker, der zu dieser Zeit mit wechselnder Besetzung in besagtem Wohnzimmer arbeitet und das Ganze Die Sterne nennt.
DAS SYSTEM KENNT KEINE GRENZEN
Ortswechsel: Hamburg. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1999. Die Sterne veröffentlichen mit "Wo ist hier?" ihr fünftes Album. Der Ort, an dem wir leben, sei im Vergleich zu dem, der kommt, ein Kaff - so heißt es in "Ich variiere meinen Rhythmus". Die Kleinstadt als Lebenstrauma, als das, was überwunden werden muß, verabscheuenswürdig in ihrer Enge, Begrenztheit und Intoleranz? "Ich finde Kleinstädte erschreckend inkonsequent. Sie beinhalten alle Nachteile einer Großstadt, ohne deren Vorteile zu besitzen" erklärt Sänger Frank Spilker. Aha. Wer solche Urteile in derartiger Vehemenz fällt, scheint sich schwere, traumatische Erfahrungen zugezogen zu haben. Aber bitte. Schließlich ist der Schritt nach Hamburg ja bereits ein paar Jahre her. Und wer will schon bestreiten, daß diese Stadt einiges zu bieten hat. Obwohl die Verneinung der Frage nach metropolischen Fehlerquellen ein Gefühl von sehr einseitiger, subjektiver Ignoranz, ja fast schon Arroganz bei denjenigen hinterläßt, die es wohl immer noch nicht begriffen haben und in der Provinz ihr Dasein fristen. Die Sage erzählt weiter, daß sich nach dem Umzug an die Elbe Frank Spilker, Thomas Winkler, Frank Will und Christoph Leich von der sich gerade aufgelösten Kolossalen Jugend als Die Sterne zusammentun. Hier beginnt die eigentliche Geschichte.
Man ist sich einig, daß Indie-Rock als ästhetisches Modell ausgedient hat, sucht nach Alternativen und greift - ausgehend von einem Punk-Hintergrund - nach Soul, Funk und HipHop. Auch in der musikalischen Arbeits- und Umgehensweise manifestiert sich ein Brechen mit alten Rocktraditionen. Indem man versucht, unter dem Einfluß von HipHop den Rockband-Hintergrund aufzulösen, was heißt, daß man eben Collagetechniken anwendet und mehr vom Groove ausgehend Musik entwirft. Rhythmus ist bei den Sternen das strukturweisende Element. Sich im politischen Kontext als links verstehend, legt man auf das Prinzip Band als Kollektiv großen Wert, was sich auch in der Art und Weise der Bühnenpräsentation niederschlägt, wenn z.B. das Schlagzeug im vorderen Bereich seinen Platz findet. Dahinter steht auch die Idee, daß alle Teile der Band gleich wichtig sein sollen. Keine Inszenierung des Sängers. Es wäre natürlich sehr schade, jemanden wie Christoph in den Hintergrund zu stellen. Warum sollte man mit dem, was gut aussieht, hinter dem Berg halten? Unbestreitbar ist wohl auch der Austausch der Kunst- und Kulturschaffenden besagten Großstadt, der sich seit Jahren weiter vernetzt und verzweigt - einer in diversen Booklets nachzuvollziehende, schon inzestuösen Charakter annehmenden, von den Akteuren geschätzten Entwicklungen. Der Musiker A, der damals bei Band Soundso spielte, heute mit seiner Zweitband auf Tour, die wieder produziert wurde von B, der im Backgroundchor der Platte Bla zu hören war, deren Sängerin heute Radiosendung X produziert, deren Mitbewohner für Magazin Y schreibt umd demnächst einen Film dreht mit Musiker A. Szene-Idyll im Großstadtspektakel, das in dieser Form wohl auch nur dort möglich ist.
Doch zurück zu den Sternen. Ihre Musik schöpft aus dem 70er-Fundus, aus dem bewußt unbewußten Zitieren von Sly Stone bis Ton Steine Scherben, mit der symbiotischen Verquickung des Zeitgeistes des ausgehenden Jahrtausends. Eine moderne, kongeniale Adaption, die zu etwas führt, das von Menschen in Trainingsjacken, Second-Hand-Anzügen und spitzen Schuhen gehört werden will. Aber nicht nur von denen. Die mit neuen Techniken, mit Samples, elektronischen Spielereien und Loopschleifen angereicherte, versetzte Sternenwelt klingt immer entspannt retro, und in diesem Sinne auch entspannt modern. Und somit stellt diese Entwicklung keine Anbiederung an elektronische Bereiche dar, sondern einen eigenen Umgang mit Sounds und Technik. Immer nach dem Motto: Mein System kennt keine Grenzen. Dennoch, wie funktionieren die Sterne 1999? "Es ist zunächst mal eine Herausforderung, die fünfte Platte zu machen. Auf jeden Fall eine Herausforderung, sich in irgendeiner Art und Weise neu zu finden. Es hat bei uns ja keine personelle Umbesetzung gegeben oder so. Es sind immer noch dieselben vier Typen. Wir haben uns entschlossen, unsere Arbeitsweise dahingehend zu verändern, daß wir uns ein eigenes Studio eingerichtet haben und über ein Jahr neues Material gesammelt und Stücke arrangiert haben. Das war für uns auch eine Art von technischer Herausforderung. Ansonsten sind die Stücke entstanden wie immer. Paralleles Arbeiten an Text und Musik, kein klassisches Songwriting, niemand kommt mit fertigen Songs an, es entstehen gemeinsame Entwürfe, die auf Kassette aufgenommen werden. Das kombiniere ich dann zu Hause mit Textentwürfen."
Was sich wie ein roter Faden durch das Werk der klingenden Himmelskörper zieht, ist die Brüchigkeit, mit der Text und Musik zusammentreffen. Auch bei "Wo ist hier?" werden in einer schon charakteristisch gewordenen Montagetechnik melancholische, sperrige Worte zu treibenden Beats, flockigen Melodien, leichtfüßigen Orgelunterlagen gesetzt, wird das In-sich-hinein-hören, Zweifeln, Beschreiben der eigenen Befindlichkeit mit der Leichtigkeit des Groove konterkariert. Die Stimme streicht dabei entgegen der Fellrichtung über den Sound-Hund. "Ich finde Kontraste immer interessanter als so eine 1:1-Übersetzung. Eine schöne Melodie mit einem schönen Text noch schöner machen zu wollen, führt meistens zu Kitsch. Ich bevorzuge da Reibungen. Aggressivität mit harter Musik zu paaren, führt im schlimmsten Fall zu einer Form von Härte-Kitsch. Man denkt da ja an unangenehme Sachen zur Zeit, aber das gab es schon immer." Und dennoch sei hier erwähnt, daß das neueste Machwerk sich irgendwie stark in einer sehr gleich eingefärbten Reibung bewegt, sich an graublauen Wänden zurückwirft, wo man hier und da mal auf ein erlösendes Rot wartet, auch mal etwas noch vorne geht, statt verhalten am Rand zu stehen. Es wirkt zuweilen ein wenig blutarm, zwischen Möbelstücken verloren, die nicht mehr zur neuen Tapete passen wollen, eine kleine Melodie zu pfeifen.
Im Oktober letzten Jahres waren die Sterne vier Wochen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten unterwegs und haben dort durchweg positive Erfahrungen gemacht. Die US-Tour war zweigeteilt und wurde größtenteils vom Goethe-Institut organisiert. "Wir haben dort Konzerte gespielt vor Schülern bzw. Studenten, die Deutsch lernen respektive Deutsch studieren. Das heißt, die Schüler haben im Unterricht bereits ein oder zwei Songs durchgenommen und im Rahmen eines Schulausfluges in die nächste Stadt, wo wir vormittags um 10 oder 11 Uhr gespielt haben, unser Konzert besucht. Die andere Hälfte waren Clubkonzerte im klassischen Sinne, zusammen mit einer Reihe von amerikanischen Bands, deren Namen sich aber niemand mehr entsinnt. Wir sind dort im kleineren Rahmen für wenig Eintritt aufgetreten, und die Leute kamen einfach, ohne vorher großartig die Musik zu kennen, was es hier leider recht selten gibt, aber eine gute Möglichkeit für unbekannte Bands darstellt. Man wurde dort mit einer recht ungewohnten Situation konfrontiert. Weil wir auch selbst nicht wußten, ob das funktionieren würde, waren wir stärker gefordert. Einerseits fühlte man sich in die Zeit zurückversetzt, wie es in Deutschland vor fünf Jahren war, als man noch nicht so bekannt war und in kleinerem Rahmen gespielt hatte. Andererseits war es durch die Sprache auch etwas anderes - daß man Ansagen auch auf Englisch gemacht und vielleicht ein bißchen deppig charmant wirkte. Das hat und schon einen kleinen Knick gegeben, man wollte die Leute überzeugen mit den Mitteln, die man als Band zur Verfügung hat. Das dies zu aller Zufriedenheit bewerkstelligt wurde, ist wohl symptomatisch für das auf verschiedenen Ebenen funktionierende Songmaterial."
Wo ist hier? Wo sind wir jetzt? Das Cover zeigt eine Landschaft, einen Weg, eine Gestalt, zwei Farbpunkte, die vom Ort 'Hier' zum Horizont finden, dazwischen Farbkleckse. Auf der Suche nach neuen Formen, Perspektiven, das Beschreiben von 'unterwegs sein' und sich neu verorten, Standpunkte suchen, scheint ein immer wiederkehrendes, zentrales Motiv menschlicher Grundfragen zu sein. Die Provinz, die verlassen werden muß, das sich zwischen den Orten Befinden und das Wegwollen sind gute alte Bekannte. Denn schließlich ist das Leben ein Fluß, der fließen muß. Und auch wenn "Wo ist hier?" kein Konzeptalbum ist, wird doch unübersehbar eine rote Linie gezogen. Aber keine Sorge, die Sterne holen nicht die weiten Baumwollgewänder und Räucherstäbchen heraus, um auf Wanderschaft zu gehen. Denn was sie zum besten geben, sind weder Tagebucheintragungen noch griffige, aber leere Parolen. Phrasendrescherei war noch nie ihr Ding, wie sie bereits 1992 mit "Fickt das System" bewiesen haben, wenn es heißt "Keine Parolen, keine blöden wie die: Fickt das System." Die Sterne bieten keine vorgefertigten Antworten, sie zelebrieren mehr den Zustand des Unbenennbaren, Unentschlossenen, und leisten sich in einer traumverlorenen Welt voller Nischen und Möglichkeiten die Melancholie und den Luxus, sich nicht festlegen zu wollen. Daran nicht zu zerbrechen, sondern es vielleicht sogar zu genießen, ist das Ziel - oder mit Nabokovs Worten ausgedrückt: "Und wenn auch durch den Nebel nicht viel zu erkennen ist, hat man doch irgendwie das selige Gefühl, in die richtige Richtung zu blicken."
Auf der letzten Platte "Von allen Gedanken schätze ich doch am meisten die interessanten" hatten die Sterne die Frage nach der Authenzität stark thematisiert: "Wir sitzen auf der Treppe / um uns Geschichten zu erzählen / Wenn ich noch 'ne gute Lüge hätte / müßt ich mich nicht länger quälen." Diese programmatische Bekundung zur Künstlichkeit ist auch auf "Wo ist hier?" zu beziehen. "Die Frage der Authenzität stellt sich meiner Meinung nach nicht beim Künstler, sondern beim Hörer. In dem Moment, wo du etwas, das jemand produziert, als für dich zutreffend erkennst, für dein Leben realistisch, ist es authentisch und vorher nicht. Es ist auch ganz egal, wie der Künstler das gemeint hat. Es ist völlig unwichtig, die Person dahinter zu erahnen oder zu erträumen. Ich versuche nicht, die Person, als Kunstperson neu zu erfinden, sondern ich gehe von konkreten Ideen aus, die dann auch abstrakt werden können. Und es geht auch nicht darum, woher das bei mir kommt, sondern ob ich das relevant finde. Dahinter steht die Überlegung, ob ein bestimmtes Lebensgefühl, daß man bei sich feststellt, auch andere betreffen könnte. Und wenn ich das denke, dann finde ich es wichtig genug, einen Song daraus zu machen. Die Dinge dürfen nicht zu subjektiv werden, so daß es keiner mehr nachvollziehen kann. Sonst landet man bei so provinziellen Themen, bei Kleinkunst, wie etwa Beobachtungen beim Einkaufen im Schanzenviertel. Das ist genau der Unterschied zwischen Tagebuch schreiben und eine Platte aufnehmen."
Die gegenüber dem letzten Album scheinbar vollzogene Vereinfachung der Texte, vom Abstrakten mehr ins irgendwie Konkrete hinein, zieht in einer Art Chiffrierung deshalb nicht weniger Interpretationsmöglichkeiten nach sich. Willkommen im Land, oder besser: im Universum der Assoziationen (was in der Astronomie übrigens 'Ansammlung von Sternen' bedeutet). In "Big in Berlin" oder "Melodie d'Amour" stecken ganz einfache Grundideen, die viel offen lassen sollen. "Big in Berlin" ist auch die erste Singleauskopplung des Albums. "Big in Japan" hieß es schon bei den Münsteranern Alphaville in den achtziger Jahren. Was hier passiert, ist eine ironische Sehnsucht ("and we're big in Japan tonight"). Mit dem den Sternen eigenen Mißtrauen kann man auch der Utopie nicht mehr trauen, sondern nur noch in ihr herumstolpern. "Wir steigen irgendwo aus / und wissen nicht mehr, wo wir sind / die Welt ist voller Zeichen / doch für manche sind wir blind / wir kommen durcheinander mit verschiedenen Signalen / wenn uns was zu kraß wird / dann wollen wir das nicht haben / wird sind vier / und wir sind zu zweit / wir sind big in Berlin tonight". Und natürlich wird dazu auch ein Video-Clip gedreht. Darin wird es ein Pferd geben. Ein elektrischer Reiter, der durch Berlin reitet, die Stadt durchquert und sie wieder verläßt, ganz dokumentarisch und ohne Geschichte.
In der Tracklist mittig angeordnet findet man das Stück
"Biestbeat". Dort kreist "Wir brauchen einen Beat, um dieses Biest zu zerstören"
als Textschleife über dem Song. Es reizte die Band, den Text nicht
immer nur als Nachrichtenübermittler, sondern mal als Instrument zu
benutzen, "und den Song auch als Pause, Bewußtwerden von Sprache
zu nutzen. Wenn du die ganze Zeit nur clever gereimtes Zeug hörst,
achtest du dann irgendwann auch nicht mehr darauf." Nein, nein, der aufmerksame
Hörer achtet darauf und weiß, daß die Sterne aufstehen,
wenn sie können, und sich hinlegen, weil sie müssen, keine Ruhe
finden und ihren Rhythmus variieren. Daß sie versuchen, irgendetwas
zu sein, nur nicht einfach, nicht griffig, nicht benennbar. Sich immer
ein bißchen selbst im Weg stehen und die Welt nicht schick finden.
Und wenn sich dabei etwas verändert, dann vielleicht, daß ich
selbst auch Spuren hinterlasse, jeden Tag zum Beispiel mit der Kaffeetasse,
kleine Ringe auf dem Tisch, und dann die Löcher im Teppich. Aber wir
reisen ja gerne mit auf der Umlaufbahn, reiten auf dem Kometenschweif,
dann alles ist besser, als stehenzubleiben. Und überhaupt, der Weltraum.
Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2001. Die Sterne veröffentlichen
ihr sechstes Album mit dem Titel...
(Patricia Wedler)